Wenn sich die derzeitigen politischen Trends in den USA unverändert fortsetzen, ist eine Krise der Demokratie nur eine Frage der Zeit – und zwar unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen am 5. November 2024 gewinnt. Eine erneute Amtszeit Donald Trumps würde die Schwächung demokratischer Institutionen, die in der Leugnung des Ergebnisses der letzten Präsidentschaftswahl gipfelte, massiv beschleunigen. Aber auch wenn Joe Biden noch einmal siegt, bleiben die Probleme des politischen Systems gravierend: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität von Wahlen sinkt, die Bedeutung des Kongresses als institutionelle Instanz zur Kontrolle des Präsidenten nimmt ab und Strafverfolgung sowie Gerichtsbarkeit werden immer stärker politisiert. Vor diesem Hintergrund scheint es möglich, dass sich die Situation infolge eines knappen Wahlausgangs noch zuspitzt.
Nicht erst seit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 lässt sich in den USA ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in demokratische Institutionen wahrnehmen. Die Entwicklungen, die dazu geführt haben und überdies die Effektivität der Regierung einschränken, sind bereits seit Jahren, teils Jahrzehnten, zu beobachten. Allerdings deutet die zunehmende Häufigkeit von Tabubrüchen und Grenzüberschreitungen durch Trump und andere politische Akteure – sowie der fehlende Widerstand dagegen – darauf hin, dass sich das politische System Amerikas einem gefährlichen Kipppunkt nähert. In komplexen Systemen, etwa dem globalen Klima, bezeichnet man damit einen kritischen Punkt, an dem weitere (und selbst geringfügige) Veränderungen dramatische und möglicherweise unumkehrbare Auswirkungen haben können. Mit Bezug auf politische Systeme ist es noch schwieriger als bei Ökosystemen, solche Kipppunkte zu identifizieren. Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass die amerikanische Demokratie nach den bevorstehenden Wahlen in eine tiefe Systemkrise gerät.
Von der Polarisierung zur Spaltung
Seit Jahren nimmt die im amerikanischen System der Gewaltenteilung unverzichtbare Bereitschaft zur überparteilichen Zusammenarbeit und zu Kompromissen ab. Mehr noch, immer häufiger führen Versuche, der eigenen Partei einen machtpolitischen Vorteil zu verschaffen, zu Verstößen gegen etablierte Verfahren. Die Erosion demokratischer Institutionen in den USA lässt sich nur vor dem Hintergrund verstehen, dass sich die politische Polarisierung zwischen den beiden großen Parteilagern zu einer identitätsbasierten gesellschaftlichen Spaltung verfestigt hat. Polarisierung meint, dass sich die inhaltlichen Positionen zu zentralen innenpolitischen und gesellschaftspolitischen Fragen in entgegengesetzte Richtungen entwickelt haben – die Demokraten werden liberaler und rücken nach links, die Republikaner werden immer konservativer und rücken weiter nach rechts. Identitätsbasierte Spaltung dagegen bedeutet, dass es in der politischen Auseinandersetzung um weit mehr geht als um Meinungsdifferenzen zu bestimmten politischen Fragen. Spaltung betrifft vielmehr die Grundcharakteristika – also die Identitäten – sozialer Gruppen.
Diese Spaltung ist das Ergebnis des Zusammenwirkens langfristiger gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und strategischer Entscheidungen von Politikerinnen und Politikern beider Parteien. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Neusortierung der Parteien und ihrer Wählerklientel im Umgang mit dem Erbe der Sklaverei und mit der Diskriminierung von Afroamerikanern. Mitte der 1960er Jahre entschied sich die Demokratische Partei im US-Kongress dazu, die rechtliche Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung zu unterstützen. In der Folge liefen weiße, konservative Wählergruppen insbesondere in den Südstaaten zur Republikanischen Partei über und wurden ein zentraler Bestandteil ihrer Basis. Liberale Weiße und Nichtweiße hingegen wurden ein Grundpfeiler der demokratischen Koalition.
Republikanische Politiker von Richard Nixon über Newt Gingrich bis Donald Trump haben ihre Partei seither dazu getrieben, Wahlen vor allem dadurch zu gewinnen, dass sie die eigene weiße und konservative Kernklientel mobilisieren. Demokraten haben es aufgrund ihrer viel heterogeneren »Wahlkoalition« seit jeher schwerer mit der Mobilisierung, aber auch sie haben versucht, ihre Klientel an die Wahlurnen zu bringen, indem sie vornehmlich in der Migrationspolitik und bei Fragen der Diskriminierung liberale Positionen vertreten.
Um eine polarisierte Wählerschaft zu mobilisieren, haben die Parteien die Gegensätze immer mehr zum Thema gemacht und dadurch verschärft. Verstärkt wurde diese Tendenz durch einen Medienmarkt, der sich nicht zuletzt durch das Internet stetig weiter ausdifferenziert hat. Wählerinnen und Wähler greifen auf Informationsquellen zurück, die sie in ihren Auffassungen bestärken. So haben sich im Laufe der letzten 50 Jahre die parteipolitischen Präferenzen in den USA nicht nur mit den ethnischen, sondern auch mit religiösen, kulturellen, sexuellen und ideologischen Identitäten verbunden. Nach dem Motto: Sage mir, wer du bist, und ich sage dir, wen du wählst.
Identitäten verändern sich allenfalls langfristig und sind anders als politische Meinungsverschiedenheiten nicht verhandelbar. Dementsprechend haben die Animositäten zwischen der Kernklientel der Demokraten und derjenigen der Republikaner in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark zugenommen, bis hin zu gegenseitiger Verachtung oder gar offenem Hass. Ist die Spaltung der Gesellschaft so weit vorangeschritten, wird Politik als existentiell wahrgenommen und der Kontrollverlust über politische Institutionen – seien es die Präsidentschaft, die Mehrheiten im Kongress oder die Besetzung von Ämtern in der Justiz – zu einer Bedrohung des eigenen Lebensstils. Auch wenn diese Art der identitätsbasierten Spaltung nicht alles in der amerikanischen Politik dominiert, prägt sie doch das Verhalten maßgeblicher politischer Akteure. Das betrifft grundsätzlich beide Parteien, die Republikaner allerdings in deutlich höherem Maße als die Demokraten.
Wie sehr diese existentielle Angst das politische Klima in den USA beeinflusst, zeigt sich unter anderem in dem viel diskutierten politischen Programm Project 2025, erstellt vor den diesjährigen US-Wahlen von einer Vielzahl konservativer Gruppen und Personen unter Federführung der Heritage Foundation. Project 2025 gilt vielen als Blaupause für ein Regierungsprogramm einer möglichen Trump-II-Regierung. Im einleitenden Kapitel ist zu lesen: »Mit jeder Stunde, in der die Linke die Bundespolitik und die Eliteinstitutionen lenkt, rücken unsere Souveränität, unsere Verfassung, unsere Familien und unsere Freiheit ein Stück näher an den Rand des Abgrunds.« Donald Trump macht sich diese Angst ebenfalls zunutze. Am 6. Januar 2021 rief er seinen Anhängern zu: »Wenn ihr nicht kämpft wie der Teufel, werdet ihr kein Land mehr haben.«
Wenn aber die politische Auseinandersetzung zur Existenzfrage wird, ist es dann nicht auch gerechtfertigt, zur Abwendung der Katastrophe die eigene Macht selbst dann zu wahren, wenn dies im Widerspruch zu demokratischen Institutionen steht? Eine solche Institution, die in den letzten Jahren zunehmend unter Druck gerät, ist die Durchführung freier und fairer Wahlen – und die Anerkennung ihres Ausgangs.
Delegitimierung von Wahlen
Die Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021 durch Trump-Anhänger war eine Zäsur. Obwohl der gewaltsame Aufstand nach dem Wahlerfolg Joe Bidens die Amtsübergabe letztlich nicht verhinderte, war damit die Tradition des friedlichen Machttransfers in den USA gebrochen. Der noch amtierende Präsident hatte seine Niederlage nicht anerkannt und versucht, durch die Lüge von der »gestohlenen Wahl« und die Anstachelung seiner Anhänger die Machtübergabe zu verhindern. Selbst nach der Eskalation stimmten an diesem Tag gut zwei Drittel der republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus dagegen, das Wahlergebnis anzuerkennen: 139 Personen.
Der 6. Januar wirkte zunächst wie ein Weckruf. Die Gewalt veranlasste sogar viele Republikaner, sich von Trump zu distanzieren. Die Kritik an Trump innerhalb der republikanischen Partei verstummte jedoch schnell wieder, die Episode selbst wird zunehmend Gegenstand revisionistischer Darstellungen. Etwas weniger als die Hälfte der republikanischen Wählerinnen und Wähler glaubt weiterhin, Biden sei nicht der rechtmäßige Präsident der USA. Nur eine Minderheit der Republikaner hält die Beschreibung der Ereignisse als Aufstand (insurrection) für zutreffend und auch der Anteil derer, die sie als Ausschreitungen (riot) bezeichnen, sinkt. Dagegen nannten im Juni / Juli 2023 58 Prozent der Republikaner den Sturm auf das Kapitol einen legitimen Protest. Konservative Kommentatoren und Kongressmitglieder behaupten, die Berichte über die Gewalt seien entweder übertrieben oder die Gewalt sei Resultat einer Verschwörung seitens linker Kräfte gewesen. Entsprechend wird auch die strafrechtliche Aufarbeitung als politisch motiviert abgelehnt, die verurteilten Beteiligten werden von manchen politischen Amtsträgern als »politische Gefangene« oder »Geiseln« betrachtet. Trump hat für den Fall seines Wahlsiegs bereits Begnadigungen in großem Umfang angekündigt.
Donald Trump war der erste Kandidat der jüngeren Geschichte, der das Ergebnis einer Präsidentschaftswahl nicht akzeptierte. Doch waren schon zuvor Wahlverfahren Gegenstand parteipolitischer Kontroversen: Insbesondere Republikaner und konservative Meinungsmacher haben immer wieder vor der Gefahr durch Wahlbetrug – durch gefälschte Identitäten, mehrfaches Abstimmen in verschiedenen Bundesstaaten oder Manipulation in den Wahllokalen – gewarnt. Die Heritage Foundation führt eine Online-Datenbank, in der für den Zeitraum von 1982 bis 2023 etwa 1.500 aus ihrer Sicht belegte Einzelfälle von Wahlbetrug dokumentiert sind. Selbst wenn dies genau so zuträfe, rechtfertigt diese Größenordnung (1.500 Fälle über einen Zeitraum von gut 40 Jahren in 50 Bundesstaaten) kaum die Behauptung, Wahlbetrug sei ein systematisches Problem in den USA – zumal bislang kein wahlentscheidender Fall von Betrug bekannt geworden ist.
Dennoch begründen Regierungen in republikanisch kontrollierten Bundesstaaten die Einführung neuer Hürden für die Stimmabgabe mit der Notwendigkeit, Wahlbetrug zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen zählen unter anderem Beschränkungen der Briefwahl, das Verbot mobiler Wahlboxen, die Verkürzung der Fristen für die vorzeitige Stimmabgabe oder schärfere Vorgaben für die Ausweispflicht beim Wählen. Aus der Sicht von Kritikerinnen und Kritikern ist der angebliche Wahlbetrug lediglich ein Vorwand, um diejenigen Wählergruppen von der Stimmabgabe abzuhalten, die den Demokraten zugeneigt sind, vor allem Afroamerikaner und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten. Die USA sind nicht zuletzt auch deshalb besonders anfällig für die Politisierung von Wahlverfahren, weil anders als sonst in westlichen Demokratien üblich der Wahlprozess von politischen Mandatsträgern kontrolliert wird statt von einer unparteiischen Verwaltung.
Bedeutungsverlust des Kongresses als politische Kontrollinstanz
Aufgrund der voranschreitenden politischen Spaltung ist der US-Kongress zusehends weniger willens und in der Lage, die ihm von der Verfassung zugedachte Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive auszufüllen. Wichtige Verfahren, die politische Verantwortlichkeit sicherstellen sollen, werden immer öfter und immer offener durch parteipolitische Instrumentalisierung entwertet. Dadurch werden sie ihrer (notwendigen) Funktion im System der gegenseitigen Kontrolle der Gewalten beraubt. Ausschussanhörungen etwa dienen nicht mehr dazu, Sachverhalte zu untersuchen und Expertise zusammenzutragen, sondern nur noch dazu, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen und mediale Aufmerksamkeit zu schaffen.
Besonders offensichtlich ist die Aushöhlung der Kontrollfunktion des Kongresses mit Blick auf das Amtsenthebungsverfahren (impeachment) als letztes Mittel, um Fehlverhalten zu verhindern bzw. zu ahnden. Besteht ein begründeter Verdacht des Amtsmissbrauchs, kann der Kongress sowohl gegen den Präsidenten oder Mitglieder des Kabinetts als auch gegen Bundesrichter ein solches Verfahren einleiten. Als Richard Nixon Amtsmissbrauch und zahlreiche Verfehlungen nachgewiesen werden konnten, war er 1974 zum Rücktritt gezwungen; damit kam er einer überparteilich unterstützten Amtsenthebung zuvor. Zugleich setzte der Kongress damals mit Zustimmung beider Parteien umfassende Reformen durch, um die Exekutive in Zukunft besser kontrollieren zu können. Im Gegensatz dazu haben die jüngeren Impeachment-Versuche die Gräben zwischen den Parteien nur vertieft.
Anlass für das erste Impeachment-Verfahren gegen Trump war der Vorwurf, er habe als Präsident den ukrainischen Regierungschef Wolodymyr Selenskyj unzulässig unter Druck gesetzt, um persönliche innenpolitische Ziele zu verfolgen; Trump hielt damals vom Kongress bereits bewilligte Militärhilfen für Kyjiw zurück. Obwohl zahlreiche Beamte aus dem Regierungsapparat Trump belasteten, verhinderte die republikanische Mehrheit im Senat eine Verurteilung. Auch der zweite Versuch einer Amtsenthebung, diesmal wegen Trumps Verantwortung für den Sturm auf das Kapitol, scheiterte daran, dass die Republikaner im Kongress ihre Loyalität zu Trump über ihre institutionelle Kontrollfunktion stellten. Andersdenkende wie die Abgeordneten Liz Cheney und Adam Kinzinger, die als einzige Republikaner den anschließenden Untersuchungsausschuss zum 6. Januar 2021 nicht boykottierten, wurden aus ihren Ämtern gedrängt.
Nach den Zwischenwahlen 2022 nutzt die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus nun allerdings ihre Aufsichtskompetenzen, um Verfahren gegen die Biden-Administration anzustrengen. So wurde zum Justizausschuss ein neuer Unterausschuss eingerichtet, dessen Vorsitz der Trump-Verbündete Jim Jordan innehat: das »Select Subcommittee on the Weaponization of the Federal Government«. Die republikanischen Mitglieder dieses Unterausschusses behaupten, die Biden-Administration und Regierungsbeamte würden staatliche Institutionen zum Nachteil politischer Gegner instrumentalisieren. Damit leisten diese Ausschussmitglieder dem von Trump verbreiteten Narrativ eines »Deep State« Vorschub.
Ferner wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas eingeleitet wegen »Verletzung des öffentlichen Vertrauens« sowie »vorsätzlicher und systematischer Weigerung, das Gesetz einzuhalten«. Die Kritik an Mayorkas basiert jedoch vor allem auf politischen Differenzen in der Migrationspolitik, es gibt keinerlei Hinweise auf Gesetzesverstöße.
Schließlich ermitteln der legislative Kontrollausschuss und der Justizausschuss im Rahmen einer Impeachment-Untersuchung auch gegen Präsident Biden. Grund sind die Geschäfte seines Sohnes Hunter Biden, gegen den unter anderem wegen Steuerhinterziehung ermittelt wird. Er hatte während der Vizepräsidentschaft seines Vaters lukrative Aufsichtsratsposten in ukrainischen und chinesischen Unternehmen inne. Allerdings gibt es bisher keinerlei Hinweise darauf, dass der Präsident in die Geschäfte seines Sohnes verwickelt war.
Die Ursache dafür, dass die Kontrollinstrumente des Kongresses gegenüber der Exekutive so stark politisiert – und damit entwertet – worden sind, liegt ebenfalls in der krassen Spaltung der politischen Lager. Und auch hier waren die Republikaner die treibende Kraft. So verweigerten sie nach der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten jegliche Zusammenarbeit. Vor den Zwischenwahlen 2010 gab der spätere Mehrheitsführer im Senat Mitch McConnel zu Protokoll, sein wichtigstes Ziel sei es, die Wiederwahl Obamas zu verhindern. Der angehende Vorsitzende des Repräsentantenhauses John Boehner gab die Devise aus, alles dafür zu tun, Obamas Agenda zu »vernichten, aufzuhalten und zu verzögern«. Nach ihrem deutlichen Sieg bei diesen Zwischenwahlen verfolgten die Republikaner im Kongress eine Blockadepolitik in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß.
Eine neue Qualität der parteipolitischen Obstruktion legte Mehrheitsführer Mitch McConnel im Senat an den Tag, indem er zahlreiche zustimmungspflichtige Nominierungsvorschläge des Präsidenten für politische und juristische Ämter blockierte. Insbesondere die Ernennung von Bundesrichterinnen und ‑richtern brachte er praktisch zum Erliegen. In der Vergangenheit hatte der Senat die Präferenzen des Präsidenten in der Regel akzeptiert – auch im Falle ideologischer Differenzen. Nur in Ausnahmefällen, etwa bei mangelnder Qualifikation oder gravierendem Fehlverhalten, verweigerte er die Bestätigung. McConnel verhinderte zuletzt sogar, dass Obama einen frei gewordenen Richterposten im Obersten Gerichtshof nachbesetzte. Das bedeutete eine neue Eskalationsstufe im parteipolitischen Kampf um die ideologische Ausrichtung des Obersten Gerichtshofs.
Fortschreitende Politisierung der Justiz
In den USA wird die juristische Philosophie und ideologische Ausrichtung von Richterinnen und Richtern öffentlich thematisiert. Auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene werden zahlreiche Posten – vom Sheriff über die Staatsanwältin bis zum Richter – durch Wahlen besetzt, denen entsprechend politische Kampagnen vorausgehen. Dennoch sollen die Gerichte gegenüber den eigentlichen politischen Gewalten eine wichtige Kontrollfunktion einnehmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie auch von der unterlegenen Seite als im Wortsinn »unparteiisch« anerkannt werden.
Seit Jahren erodiert diese überparteiliche Legitimität der Gerichte jedoch. Nicht nur beim Obersten Gerichtshof bekommt die ideologische Ausrichtung der Richterinnen und Richter immer größere Bedeutung; die politische und gesellschaftliche Spaltung wirkt sich ebenso auf die Gerichte unterer Instanz aus. Mittlerweile ist gar vom Einsatz der Justiz als Waffe gegen politische Gegner die Rede, ein klassisches Merkmal von fragilen Demokratien und Autokratien.
Auch in dieser Hinsicht hat Donald Trump seit Langem bestehende Trends massiv beschleunigt. Bereits im Wahlkampf ging er bei Evangelikalen auf Stimmenfang, indem er versprach, konservative Richter zu ernennen. Noch entscheidender: Sein Verhalten machte ihn selbst zum Ziel der Justiz und spaltet so die Gesellschaft weiter. Trump muss sich derzeit in etlichen Gerichtsverfahren verantworten, darunter vier Strafprozesse (zwei auf Bundesebene, einer in New York, einer in Georgia). Eine wesentliche Strategie Trumps besteht darin, diese Verfahren als politisch motivierte »Hexenjagd« zu diskreditieren. So bezeichnet er Behörden(vertreter) von der Bundespolizei über Staatsanwälte bis hin zu Richterinnen regelmäßig als korrupt und spricht der Anklage jegliche Legitimität ab. In der Wahrnehmung seiner Anhänger erscheint diese Selbstinszenierung als Opfer von Kräften, die es auf ihn abgesehen hätten, durchaus plausibel. Sie fügt sich nahtlos ein in Trumps Angriffe auf Medien, liberale Eliten und den »Deep State«.
Der Oberste Gerichtshof bleibt davon nicht unberührt. Im Zusammenhang mit Trumps Beteiligung an den Ereignissen des 6. Januar 2021 stehen gleich drei Entscheidungen dieses Gerichts aus. Die erste betrifft die Frage, ob der Präsident für Handlungen im Amt überhaupt strafrechtlich belangt werden kann oder Immunität genießt. In einem zweiten Fall muss das Gericht darüber urteilen, ob der Straftatbestand der Behinderung eines offiziellen Aktes im Zusammenhang mit dem Versuch, die Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern, zulässig ist. Das ist ein zentraler Punkt in der Anklage des Sonderermittlers Jack Smith gegen Trump sowie Grundlage der Verurteilung zahlreicher Personen, die am Sturm auf das Kapitol beteiligt waren. Die dritte Frage ist vielleicht die heikelste: Gerichte und Wahlleiter in verschiedenen Bundesstaaten sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Trump aufgrund einer Beteiligung an einem Aufstand (nach Abschnitt 3 des 14. Verfassungszusatzes) von einer Kandidatur für die Präsidentschaft auszuschließen ist.
Unabhängig davon, wie der Oberste Gerichtshof in diesen drei Fällen entscheidet – seine Urteile werden von der einen oder von der anderen Seite als parteiisch wahrgenommen werden. Sein Ansehen wird so oder so bei einem signifikanten Anteil der US-Öffentlichkeit Schaden nehmen.
Das Damoklesschwert der politischen Gewalt
Der Sturm auf das Kapitol hat die Gefahr politisch motivierter Gewalt in den Fokus gerückt. Aber auch jenseits dieses Ereignisses nimmt politische Gewalt in den letzten Jahren stark zu, wobei die Mehrheit der Straftaten von Rechtsradikalen verübt wird. Neben einer Reihe von Gewaltverbrechen mit vielen Toten und rassistischem oder antisemitischem Hintergrund werden auch Politikerinnen und Politiker zum Ziel von Gewalt:
Im Oktober 2020 berichtete das FBI über Pläne, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, zu entführen, um einen Sturz der Regierung dieses Bundesstaates herbeizuführen. Am 28. Oktober 2022 drang ein von Verschwörungserzählungen motivierter Täter in das Haus der demokratischen Abgeordneten Nancy Pelosi, um sie zu entführen, und verletzte ihren Ehemann schwer. Falsche Behauptungen über Wahlbetrug führen dazu, dass Personen bedroht werden, die für die Organisation und Durchführung von Wahlen verantwortlich sind. Und neuerdings wird bewusst mithilfe anonymer Anrufe falscher Alarm ausgelöst und die Polizei zu den Wohnsitzen von Repräsentanten, Staatsanwälten und Richterinnen gerufen. Diese Praxis, inzwischen bekannt als »Swatting« nach der Bezeichnung der häufig reagierenden Spezialeinheiten (SWAT-Teams), birgt für die Betroffenen auch Gefahren für die eigene physische Sicherheit.
Wann und wodurch Gewalt tatsächlich ausbricht, lässt sich nicht voraussagen. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten die Sorge vor der wachsenden Unterstützung für politische Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft für übertrieben. Möglicherweise entfalten auch die vielen Urteile gegen am Sturm auf das Kapitol Beteiligte eine abschreckende Wirkung und tragen so zur Mäßigung bei, ebenso wie die hohen Kompensationen, die für die Verbreitung von Lügen gezahlt werden müssen. Nichtsdestotrotz ist denkbar, dass es beispielsweise im Zusammenhang mit einem umstrittenen Ausgang einer Präsidentschaftswahl oder eines umstrittenen Gerichtsurteils zu Gewalt kommt, sei es in Form von Massenausschreitungen wie am 6. Januar 2021 oder durch einzelne politisch motivierte Tätergruppen. Die große Zahl von Schusswaffen in privater Hand macht derartige Szenarien nur umso bedrohlicher.
Szenarien und mögliche Kipppunkte
Während der Amtszeit Joe Bidens haben sich problematische Entwicklungen der US-Demokratie fortgesetzt: die tiefe politische und gesellschaftliche Spaltung, das unverantwortliche Handeln von Kongressabgeordneten, das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber dem Staat, eine zunehmende Bereitschaft zu Gewalt bei Teilen der Anhängerschaft insbesondere der Republikanischen Partei. Die USA könnten sich einer Situation nähern, in der, vergleichbar mit den Kipppunkten bei der Erderwärmung, eine für sich genommen überschaubare Entwicklung bzw. ein einzelnes Ereignis massive und möglicherweise unumkehrbare Auswirkungen auf die amerikanische Demokratie haben könnte. Ein solches Ereignis könnte etwa das Urteil eines einzelnen Gerichts oder ein äußerst knappes Ergebnis in einem »Swing State« bei den Präsidentschaftswahlen sein.
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Wahljahr 2020 scheint es durchaus vorstellbar, dass vor allem bei einem knappen Abstimmungsergebnis eine der beiden Seiten das Resultat nicht anerkennt.
Acht Monate vor dem Wahltermin deutet alles auf eine Wiederholung der Konstellation von vor vier Jahren hin: Joe Biden gegen Donald Trump. Dabei ist es sinnvoll, zwischen drei Szenarien zu unterscheiden.
Szenario 1: Trump wird vor den Wahlen verurteilt
Die laufenden Gerichtsverfahren gegen Trump sind in vielerlei Hinsicht präzedenzlos und bedeuten große Unwägbarkeiten für den weiteren politischen Prozess. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter halten es mittlerweile für unwahrscheinlich, dass Trump tatsächlich noch vor der Präsidentschaftswahl in einem der gewichtigeren Strafverfahren verurteilt wird, zumindest nicht letztinstanzlich. Sollte es wider Erwarten doch dazu kommen, würden seine Anhänger das zweifelsohne als illegitime Einflussnahme werten.
Szenario 2: Biden gewinnt
Donald Trump hat bereits einmal seine Wahlniederlage nicht akzeptiert und den friedlichen Machtwechsel zu verhindern versucht. Dieses Mal ist sein Anreiz dafür noch größer, da womöglich seine eigene Straffreiheit vom Wahlausgang abhängt. Am 6. Januar 2021 haben die meisten Republikaner im Repräsentantenhaus sich nicht nur geweigert, das Wahlergebnis in zwei Bundesstaaten (Arizona und Pennsylvania) anzuerkennen. Trump hatte zudem versucht, seinen Vizepräsidenten dazu zu bewegen, die Zertifizierung der Wahlergebnisse im Kongress zu verhindern.
Theoretisch wäre es in Zukunft denkbar, dass Mehrheiten in beiden Kongresskammern das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in ein oder zwei wahlentscheidenden Bundesstaaten infrage stellen. Unter dem Eindruck der Ereignisse des 6. Januar hat der Kongress Gesetzesänderungen beschlossen, die so ein Vorgehen unwahrscheinlicher machen. Dennoch kann es passieren, dass eine breite Mehrheit der Republikaner im Kongress alle politischen und medialen Hebel in Gang setzt, um Biden als illegitimen Präsidenten darzustellen.
Szenario 3: Trump gewinnt
Sollte Trump die Wahl im November gewinnen, während die Strafprozesse gegen ihn noch andauern, könnte er das Justizministerium anweisen, die auf Bundesebene gegen ihn laufenden Verfahren einzustellen. Als Präsident könnte er außerdem versuchen, sich selbst zu begnadigen. So eine »Selbstbegnadigung« wäre ein bisher einmaliger Vorgang und die Zulässigkeit ist in der Rechtsprechung ungeklärt. Ebenfalls ungewiss ist, ob er als Präsident in einem Bundesstaat verurteilt werden kann.
Nicht zuletzt ist unklar, ob die Demokraten bei einem engen und juristisch umstrittenen Ergebnis den Wiedereinzug Trumps ins Weiße Haus akzeptieren würden. Schließlich haben auch demokratische Kongressmitglieder bei vergangenen Präsidentschaftswahlen Zweifel am Ergebnis geäußert, wenn ein Republikaner vorn lag. Die Wahl im Jahr 2000 zwischen George W. Bush und Al Gore war so knapp, dass Bushs Wahlsieg am Ende von ein paar Hundert Stimmen in Florida abhing. Inmitten der Neuauszählung intervenierte der Oberste Gerichtshof, stoppte den Prozess und machte so George W. Bush zum Präsidenten. Eine Verfassungskrise wurde damals abgewendet, weil Al Gore das Urteil akzeptierte.
Sicher ist, dass Trumps Gegner ihn, sollte er gewinnen, aufgrund der Strafverfahren gegen ihn als illegitimen Präsidenten ansehen würden und womöglich Widerstand gegen seinen Amtsantritt leisteten – bestärkt von der Sorge, dass eine autoritäre Präsidentschaft den politischen Institutionen des Landes irreversiblen Schaden zufügen könnte.
Angesichts der tiefen Spaltung in den USA könnten diese Szenarien zu monatelangen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gewalten führen. Eine weitere Folge wäre, dass bei großen Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Strafverfolgungsbehörden und der Justiz weiter sinkt. Darüber hinaus ist unklar, wer Urteile des Obersten Gerichts durchsetzen würde, wenn die unterlegene Seite sie nicht akzeptiert. Wäre Trump zum Beispiel bereits Präsident, könnte er ihm unliebsame Urteile der Gerichte schlicht ignorieren. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass es wie beim Sturm auf das Kapitol erneut zu Gewalt kommt, sollte eine Wählergruppe zu der Auffassung gelangen, ihrer »demokratischen Rechte« beraubt worden zu sein.
Von der Demokratiekrise zur Staatskrise?
Insbesondere falls Trump nach den diesjährigen Wahlen ins Weiße Haus einzieht, ist mit einem neuerlichen Autokratisierungsschub zu rechnen, sei es in Form einer weiteren Politisierung der Justiz (z. B. durch die Begnadigung vieler Gewalttäter vom 6. Januar) oder der Anmaßung exekutiver Macht gegenüber dem Kongress. Letzterer ist, bedingt durch die tiefe politische Spaltung, in seiner Kontrollfunktion schon heute stark geschwächt. Sowohl Freedom House als auch das in Göteborg ansässige V-Dem Institute weisen auf Autokratisierungstendenzen in den USA hin, selbst wenn sie das Land weiterhin als liberale Demokratie einordnen. Das amerikanische Gerichtswesen genießt womöglich nicht mehr den nötigen Respekt, um diesem Trend entgegenzuwirken.
Die bereits schwelende Demokratiekrise, in der die Legitimität der Institutionen zunehmend infrage steht, könnte sich zu einer Verfassungskrise entwickeln, wenn verschiedene Verfassungsorgane zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, wie eine rechtlich umstrittene Situation aufzulösen ist. Im Extremfall wird daraus sogar eine Staatskrise, in der die Handlungsfähigkeit und das Gewaltmonopol des Staates selbst zur Disposition stehen.
Es ist keineswegs ausgemacht, dass solch bedrohliche Szenarien bereits bei diesen Wahlen Realität werden. Setzen sich jedoch die derzeit zu beobachtenden krisenhaften Tendenzen fort, ohne dass eine Kurskorrektur erfolgt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das politische System an seine Grenzen stößt. Sollte es dann tatsächlich einen Kipppunkt überschreiten, dann würden die USA nicht nur als handlungsfähige Demokratie, sondern auch als außen- und sicherheitspolitischer Partner ausfallen. Aufgrund der fortbestehenden Abhängigkeiten würde dies Deutschland und Europa vor massive Herausforderungen stellen.
Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.
Dr. Johannes Thimm ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Amerika.
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DOI: 10.18449/2024A16