Die türkische Rüstungsindustrie hat sich in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt und ihre Produkte haben dabei wiederholt ihre militärische Einsatzfähigkeit unter Beweis gestellt. Bayraktar-TB2-Drohnen des türkischen Unternehmens Baykar werden in zahlreiche Länder exportiert. Die ukrainischen Streitkräfte haben sie nach der russischen Invasion genutzt, die aserbaidschanischen im Konflikt mit Armenien in Berg-Karabach verwendet und auch in Syrien, im Nordirak und in Libyen kommt sie zum Einsatz. Die Drohne ist aber nur das sichtbarste Zeichen, dass in der türkischen Rüstungspolitik eine neue Ära angebrochen ist. Die Verteidigungsindustrie und das um sie herum entstandene Innovations-Öko-System sollen die Türkei als »Tekno-Nation« positionieren. Für die Nato-Partner ergeben sich in der Zusammenarbeit mit Ankara damit neue sicherheitspolitische Herausforderungen. Blockierte Lieferungen von Kampfflugzeugen an Ankara, sei es durch Washington oder Berlin, könnten die strategische Neuausrichtung der türkischen Rüstungspolitik noch weiter verstärken.
Die Türkei strebt in der Rüstungs- und Verteidigungspolitik Souveränität an. Sie will logistisch, technisch, konzeptionell und bei der Herstellung von Waffensystemen immer weniger von Partnern aus Drittstaaten abhängig zu sein; mit anderen Worten, Ankara fokussiert sich auf Eigenproduktion statt auf Beschaffung aus dem Ausland. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Unternehmen im Verteidigungssektor vernetzt, Supply-Chain-Kapazitäten vor Ort ausgebaut und die rüstungsrelevante Forschung in den verschiedenen Wirtschaftssektoren des Landes zentral koordiniert.
Rüstungsprojekte wie die Entwicklung der unbemannten TB2-Drohnensysteme, des Atak-Hubschraubers, des Altay-Panzers, der Tarnkappen-Kampfdrohne Anka-3 oder des KAAN-Tarnkappen-Kampfflugzeugs zeigen, dass sich Ankara dabei an drei Leitlinien orientiert: (1) der systematischen Förderung einer »Know-how-Offensive« durch die Kooperation mit Technoparks, Start-ups und Universitäten, (2) einer zunehmenden Unabhängigkeit von ausländischen Produzenten, sowie (3) der kontinuierlichen Steigerung der Exportfähigkeit der eigenen Waffensysteme. Insbesondere die Umsetzung der beiden letztgenannten Grundsätze führt dazu, dass die türkischen Exportrestriktionen umso geringer ausfallen, je höher der Anteil der inländischen Rüstungsproduktion ist.
Die derzeitige Rüstungspolitik der Türkei folgt somit dem zentralen Ziel, die Entwicklung und Produktion von Waffensystemen ganz unter dem Siegel »Made in Türkiye« zu organisieren. Dabei ergeben sich allerdings Diskrepanzen zwischen den politisch-strategischen Entscheidungsprozessen in Ankara und den zeitlichen Umsetzungsmöglichkeiten bzw. den Produktionskapazitäten der beteiligten Rüstungsunternehmen.
Die Rüstungsprojekte der Türkei werden im Auftrag der staatlichen Agentur der Verteidigungsindustrie (türk. Savunma Sanayii Başkanlığı, SSB) entwickelt und produziert. Mit der SSB wurde 1985 eine Institution geschaffen, die Milliarden an Investitionen für die Modernisierung der türkischen Streitkräfte zur Verfügung stellt. Diese Mittel sind nicht im jährlichen Budget des Verteidigungsministeriums enthalten, das heißt, sie können als Sonderfonds verwendet werden. SSB ist gesellschaftsrechtlich eine staatliche Holding, die direkt dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan untersteht. Damit ist sie politisch weisungsgebunden. Formal werden die Exportlizenzen vom Verteidigungs- und Außenministerium erteilt, während das Finanzministerium ein Vetorecht gegen Rüstungsausgaben aus dem Sonderfonds der SSB hat.
Die türkische Rüstungsindustrie als Wirtschaftsfaktor
Die Ursprünge der Transformation der türkischen Rüstungsindustrie hin zu einer Fokussierung auf heimische Produktion reichen mehrere Jahrzehnte zurück und sind keineswegs nur mit dem Namen des heutigen Staatspräsidenten Erdoğan verbunden. Die verschiedenen Sanktionen und Embargos, die westliche Regierungen, insbesondere die USA, schon vor langer Zeit gegen die Türkei verhängt haben, können als Auslöser für diesen Prozess der militärisch-industriellen Neuausrichtung und Modernisierung angesehen werden. Der Impuls bzw. die Erkenntnis der Notwendigkeit, die heimischen Produktionskapazitäten auszubauen, lässt sich auf die Mitte der 1970er Jahre datieren.
Eine wichtige Rolle spielte dabei das vom US-Kongress 1975 beschlossene mehrjährige Waffenembargo gegen die Türkei nach der Besetzung des Nordteils der Inselrepublik Zypern. Es folgten weitere Beschränkungen des Rüstungsexports an die Türkei, beispielsweise durch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl im Jahr 1992. Zuletzt erließ die US-Administration Ende 2020 Strafmaßnahmen gegen die SSB. Diese standen im Zusammenhang mit der Beschaffung des russischen Flugabwehrsystems S‑400 durch den Nato-Partner Türkei. Die Sanktionen hatten vor allem Folgen für die türkische Luftwaffe. Die USA schlossen türkische Unternehmen von der weiteren Entwicklung und Produktion des Nato-Kampfflugzeugs F‑35 aus.
Weil die türkischen Streitkräfte durch die verschiedenen restriktiven Maßnahmen (zeitweise) von einzelnen Rüstungsimporten abgeschnitten und aus Kooperationsprojekten ausgebootet wurden, wendete sich Ankara dem verstärkten Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie zu. Im Dienste der Sicherung ihrer Resilienz richtete die Türkei ihre Rüstungspolitik im Schatten der internationalen Sanktionspolitik neu aus. Dieser Strategiewechsel spiegelte sich auch in Reformen wider, welche die türkische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik institutionell neu justierten. Insbesondere die Angliederung der SSB an das Präsidialamt im Jahr 2018 und die Befreiung der Agentur von Haushaltsverpflichtungen ermöglichen es der Behörde, spezifische Rüstungsprojekte zu fördern. Mit anderen Worten: Einzelne Sektoren der türkischen Wirtschaft wurden zunehmend auf den Verteidigungssektor ausgerichtet.
Im Zentrum der Förderung steht die militärische Luftfahrtindustrie (Entwicklung und Produktion von Kampfflugzeugen, Militärdrohnen und Militärhubschraubern). Der staatliche Luft- und Raumfahrtkonzern Turkish Aerospace Industries (TUSAŞ) gehört seit 2005 zu 54,49 Prozent der Stiftung der türkischen Streitkräfte und zu 45,45 Prozent der SSB (0,6 Prozent der Anteile besitzt die Turkish Aeronautical Association). Damit ist das Militär zugleich Unternehmer. Neben TUSAŞ sind weitere halbstaatliche Rüstungskonzerne wie Baykar, Roketsan, STM und Aselsan führend in der Branche. Gemeinsam erhalten sie einen Großteil der SSB-Aufträge und tragen wesentlich dazu bei, dass sich der Anteil der lokalen Produktion schrittweise erhöht. Darüber hinaus verkürzen sich durch die Zunahme der heimischen Fabrikation Lieferketten.
Die Transformation der türkischen Rüstungsindustrie nimmt insbesondere seit 2015 an Fahrt auf. Verschiedene Indikatoren deuten auf eine Investitionsoffensive hin, die mit einem deutlichen Wachstum der Beschäftigtenzahlen in der Branche einhergeht. Parallel dazu steigen die jährlichen Verteidigungsausgaben rapide an.
Die »unorthodoxe« Geldpolitik der türkischen Regierung und die Inflationsentwicklung der letzten Jahre haben zwar die Binnenwirtschaft belastet, aber die Verteidigungsausgaben nicht wesentlich beeinträchtigt. Diese beliefen sich im Jahr 2001 auf 7,22 Milliarden US-Dollar. Fast zwei Jahrzehnte später erreichten sie ein Volumen von 20,44 Milliarden US-Dollar (2019). Im Jahr 2021 sanken die Verteidigungsausgaben – pandemiebedingt – auf 15,48 Milliarden US-Dollar und betrugen im Jahr 2022 noch 10,64 Milliarden US-Dollar. Im darauffolgenden Jahr stiegen sie erneut auf 16 Milliarden US-Dollar. 2024 soll der Verteidigungshaushalt mit über 40 Milliarden US-Dollar einen neuen Höchststand erreichen. Dies würde einer Steigerung um 150 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprechen.
Dieser Ausgabenanstieg geht einher mit einem wachsenden Anteil eigener Entwicklungs- und Produktionskapazitäten. Nach Regierungsangaben hatten türkische Unternehmen im Jahr 2023 einen Anteil von 80 Prozent an der Gesamtrüstungsproduktion. Ein Jahr zuvor, 2022, hatte die Quote heimischer Firmen noch bei 73 Prozent gelegen (Türkiye Investment Office 2023). Die Fokussierung auf die Erweiterung lokaler Forschungs- und Produktionskapazitäten führt zu einem rasanten Anstieg der Beschäftigten im Rüstungssektor. Waren im Jahr 2016 insgesamt 35.502 Menschen in der Branche beschäftigt, sind es drei Jahre später bereits 73.771. Ende 2022 arbeiteten insgesamt 81.132 Menschen in der türkischen Rüstungsindustrie.
Die Rekrutierung von Ingenieuren und Facharbeitern, Softwareentwicklern und Marketingexperten unter Absolventen türkischer Universitäten und aus dem Ausland stellt für die heimische Verteidigungsindustrie kein Problem dar. Das Ökosystem der Talentförderung zwischen Rüstungsunternehmen, Innovationsclustern und Forschungseinrichtungen mit militärischem Schwerpunkt wurde systematisch vernetzt. Zahlreiche Universitäten, sechs Innovationscluster (Istanbul, zwei in Ankara, Bursa, Izmir und Eskişehir) und verschiedene »Teknoparks« mit angeschlossenen Unternehmen und Start-ups, die im Bereich der Rüstungsinnovation forschen, belegen diesen konzeptionellen Ansatz.
Die Architektur dieses Ökosystems aus Innovationszentren, Forschungsnetzwerken, finanzieller Ausstattung und Brücken zu Unternehmen aus der Verteidigungsindustrie weist auf zwei Nebeneffekte der türkischen Rüstungspolitik hin. Zum einen wird das Narrativ der Türkei als »Tekno-Nation« mit Substanz unterfüttert. Regelmäßige Luftfahrt- und Technologiemessen unter dem Namen »Teknofest« vermitteln einem Millionenpublikum öffentlichkeitswirksam Beispiele für Entwicklungsprojekte und institutionelle Übergänge zwischen Innovationsclustern und unternehmerischer Umsetzung.
Andererseits gelingt es der Regierung in Ankara und den Waffenproduzenten dadurch, sich zunehmend in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Symbolträchtige Präsentationen von Rüstungsprojekten, wie zuletzt im April 2023, als im Istanbuler Stadtteil Tuzla der erste Flugzeugträger aus türkischer Produktion, die »TCG Anadolu«, von Präsident Erdoğan vorgestellt wurde, sollen die »regionale Führungsposition der Türkei« festigen.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Türkei bei all diesem erweiterten sicherheitspolitischen Engagement nicht über die technologische Reife verfügt, um etwa mit den USA, Russland oder China konkurrieren zu können. Mit anderen Worten: Das Streben nach Autarkie bei Waffensystemen und militärischen Dienstleistungen wird zwar industriepolitisch umgesetzt; in der Praxis indes sind türkische Rüstungsfirmen, wie alle Europäer, nach wie vor auf Importe angewiesen. Dies gilt insbesondere für Halbleiter und Mikrochips, die von ausländischen Technologieunternehmen bezogen werden müssen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die türkische Rüstungsindustrie mangels eigener Rohstoffe in besonderem Maße vom Außenhandel abhängig ist. Energiepolitischer Partner ist vor allem Russland. Kurzum, der Autarkie-Rhetorik stehen nach wie vor handfeste externe Abhängigkeiten gegenüber.
Wachsende Exportfähigkeit
Für die Rentabilität der türkischen Rüstungsproduktion ist die Exportfähigkeit von zentraler Bedeutung. Vor einem Jahrzehnt exportierte die Verteidigungsindustrie des Landes Waffensysteme im Wert von 1,9 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2022 stieg das Exportvolumen auf 4,4 Milliarden US-Dollar und erreichte im vergangenen Jahr einen neuen Höchstwert von 5,5 Milliarden US-Dollar – ein Zuwachs um 27 Prozent gegenüber 2022.
Diese Exportsteigerung ist das Ergebnis der Eroberung neuer Märkte. Das Geschäftsmodell türkischer Rüstungsunternehmen wie Baykar, TAI, Roketsan, STM und Aselsan basiert zunehmend auf dem Absatz ihrer Produkte in Ländern und Regionen, die der Türkei noch vor einem Jahrzehnt verschlossen waren, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, in Asien (einschließlich Taiwan) und in jüngster Zeit auch in Lateinamerika. Die genannten Unternehmen sind global aufgestellt, verfügen über umfassende Produktportfolios im zivilen und militärischen Bereich und haben die Leistungsfähigkeit ihrer Waffensysteme in verschiedenen Konfliktregionen unter Beweis gestellt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass in der Türkei hergestellte Rüstungsgüter auch wegen ihrer Preise wettbewerbsfähig sind und zunehmend international nachgefragt werden.
Mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel im Hinblick auf Israel, ist keine restriktive Ausfuhrpolitik des türkischen Verteidigungsministeriums zu beobachten. Die steigenden Zahlen bei den Waffenexporten signalisieren, dass die Türkei versucht, ihre sicherheitspolitischen Interessen auch durch die Lieferung von Militärgütern in Krisen- und Kriegsgebiete durchzusetzen. In der Rüstungsexportpolitik spiegelt sich die Positionierung der Türkei unter Präsident Erdoğan als Mittelmacht zwischen Nato-Verpflichtungen einerseits und dem außenpolitischen Ziel, den globalen Süden zu repräsentieren und militärisch aufzurüsten, andererseits wider. Die türkische Verteidigungsindustrie und ihre wachsende Exportfähigkeit stellen ein zentrales Scharnier zur Durchsetzung dieser strategischen Ausrichtung dar. Ein Beispiel für deren Erfolg ist die Attraktivität der Bayraktar-TB2-Drohnen des türkischen Unternehmens Baykar auf den internationalen Märkten.
Bayraktar-TB2-Drohnen
Ein Kernelement der türkischen Rüstungsindustriepolitik ist die Produktion und der Export von (militärischen) Drohnen. Im Jahr 2022 befanden sich mit Baykar, Aselsan, TAI und Roketsan erstmals vier türkische Unternehmen auf der Liste der 100 größten Rüstungskonzerne, die das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) jährlich erstellt. Die Gesamteinnahmen der vier Unternehmen aus dem Rüstungsgeschäft beliefen sich auf 5,5 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg von 22 Prozent gegenüber 2021 entspricht.
Beispielhaft für diesen Aufstieg ist der Drohnenspezialist Baykar aus Istanbul. Das Unternehmen verkauft seine Militärdrohne Bayraktar TB2 (zu Deutsch: Fahnenträger) mittlerweile in 30 Länder. Baykar verzeichnete von 2021 auf 2022 eine Umsatzsteigerung von 94 Prozent. Der Konzern war 2023 der größte Rüstungsexporteur der Türkei. Insgesamt erreichten die Exporte von Baykar ein Volumen von 1,76 Milliarden US-Dollar. Nach eigenen Aussagen liefert Baykar keine Drohnen nach Israel. Stattdessen hat Selçuk Bayraktar, Vorsitzender und CTO (Chief Technology Officer) des Unternehmens, seit Oktober 2023 Millionenbeträge aus dem Unternehmen an Hilfsorganisationen im Gaza gespendet.
Das Nachfolgemodell TB3, das sich noch in der Entwicklung befindet, soll zu 100 Prozent »Made in Türkiye« produziert werden. Die Fabrikate der verschiedenen Drohnengenerationen dienen sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken. Innerhalb der Türkei werden die TB2 zur Erkennung von Waldbränden, zur Überwachung von Erdbebengebieten (wie zuletzt im Februar 2023 im Südosten des Landes) und zur Verfolgung von Migrationsrouten eingesetzt.
In Syrien, im Nordirak, in Libyen und bei der militärischen Unterstützung Aserbaidschans im Krieg mit Armenien wurden und werden TB2-Drohnen militärisch eingesetzt. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 waren es Bayraktar-Drohnen, die den Vormarsch russischer Panzerverbände auf Kiew entscheidend stoppten. Auch die Nato-Partner Albanien, Polen und Rumänien haben die Drohne bestellt und teilweise schon erhalten. Im Januar 2023 wurde mit Kuwait ein Vertrag über die Lieferung von TB2-Drohnen im Wert von 370 Millionen US-Dollar abgeschlossen. Im Juli folgte ein Deal mit Saudi-Arabien über 3,1 Milliarden Dollar.
Mit der Drohne TB2 ist die Türkei zu einem wichtigen Akteur in der internationalen Rüstungsexportliga aufgestiegen. Ankara hat damit in verschiedenen Konfliktgebieten und Exportmärkten große Bedeutung erlangt. Mehr als 185 Länder haben im Jahr 2023 Militärgüter aus der Türkei bezogen. Präsident Erdoğan verbucht diese internationale Expansion als Beleg dafür, dass mit dem zweiten Jahrhundert der Republik das »Jahrhundert der Türkiye« angebrochen sei. Damit verbunden ist die geographische Neuausrichtung strategischer Partnerschaften und eine Neubewertung westlicher Bündnisverpflichtungen.
Kooperation mit Nato-Partnern
Die Kooperation mit Nato-Partnern ist nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der türkischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Auch wenn sich der Schwerpunkt der Rüstungspolitik Ankaras zunehmend auf inländische Entwicklung und Produktion verlagert, gibt es weiterhin Sicherheits- und Verteidigungsprojekte in Joint-Venture-Konstellationen mit Nato-Partnern. Ein Beispiel ist das Nato-Intel-FS2-Projekt. Hier entwickelt das türkische Unternehmen STM die gesamte Software für die Aufklärungsinfrastruktur der Nato.
Ein weiteres Gemeinschaftsprojekt mit türkischer Beteiligung ist der Nato-Innovationsfonds. Dabei handelt es sich um den weltweit ersten multinationalen Risikokapitalfonds. 23 Mitglieder des Bündnisses beteiligen sich daran mit einer Kapitaleinlage von insgesamt einer Milliarde US-Dollar. Der Fonds soll Start-ups finanzieren, die sich explizit auf militärische Forschung und Anwendung konzentrieren. Das Innovationsprofil des Nato-Risikokapitalfonds eröffnet türkischen Unternehmen im Rüstungssektor weitere Kooperationsformate und Planungssicherheit.
Mit Blick auf die bilaterale Rüstungskooperation mit Deutschland hat der Besuch von Präsident Erdoğan in Berlin im November 2023 eine neue Entwicklung aufgezeigt. Der türkische Wunsch nach Beschaffung von 40 Kampfflugzeugen des Typs Eurofighter Typhoon war bis dahin nicht öffentlich artikuliert worden. Der Eurofighter wird von einem Vierer-Konsortium produziert, dem neben Deutschland und Italien auch Spanien und Großbritannien angehören. Die beiden letztgenannten Länder haben bereits grünes Licht signalisiert. Die Zustimmung Berlins und Roms steht noch aus.
Das Verteidigungsministerium in Ankara betrachtet die Bewilligung des Kaufs von Eurofightern als selbstverständlichen Teil der Bündnistreue gegenüber einem Nato-Partner. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Türkei bei der Beschaffung von Kampfflugzeugen zweigleisig fährt. 2021 beantragte sie in Washington den Erwerb von 40 Lockheed-Martin-F-16-Kampfflugzeugen und 79 Modernisierungskits für ihre Altbestände.
Diese Kaufabsicht war seit 2022 im US-Kongress blockiert. Nachdem das Parlament in Ankara das schwedische Gesuch auf einen Nato-Beitritt am 23. Januar 2024 endgültig ratifiziert hatte, teilte das State Department dem Kongress mit, dass der Verkauf in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar unverzüglich genehmigt wird. Das State Department knüpft allerdings Bedingungen an die Einigung mit der Türkei, nämlich dass die F-16 nur für Nato-Bündniszwecke und nicht für Überflüge über griechischen Inseln genutzt werden.
Die Bundesregierung steht vor der Herausforderung, innenpolitische Aspekte und Nato-Bündnisverpflichtungen gegeneinander abzuwägen. Die deutschen Rüstungsexporte erreichten 2023 einen Rekordwert von 11,71 Milliarden Euro. Die Genehmigungen der Ampelregierung für die Lieferung von Verteidigungsgütern an die Türkei beliefen sich auf lediglich 1,22 Millionen Euro. Kriegswaffenexporte nach Ankara lehnt die Koalition in Berlin ab. Seit Januar 2024 sollen Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle beschleunigt werden. Allerdings wird die Türkei von den vereinfachten Verfahren nicht profitieren.
Geostrategische Aspekte
Die im Jahr 2019 getroffene Entscheidung Erdogans, das mobile Flugabwehrsystem S‑400 von Russland zu erwerben, war nicht nur ein politischer Affront gegenüber den Nato-Partnern, sondern führte auch zu schweren diplomatischen Verstimmungen auf bilateraler Ebene, insbesondere mit den USA. Türkische Rüstungsunternehmen, die an der Entwicklung des F-35-Kampfjets beteiligt gewesen waren und dann aufgrund der US-Sanktionen ausgeschlossen wurden, erlitten erhebliche finanzielle Verluste.
Allerdings ist die Annäherung zwischen Russland und der Türkei im Bereich der Rüstungspolitik kein Einzelfall. Im Rahmen der bilateralen Energiekooperation sind Abhängigkeiten Ankaras von Moskau entstanden, die sich strukturell verfestigt haben und auch innenpolitisch nicht in Frage gestellt werden, weil Erdoğan die europäische Sanktionspolitik gegenüber Russland ablehnt.
Das türkische Verteidigungsministerium und die ihm zuarbeitenden Unternehmen haben aus der russischen Invasion in der Ukraine Lehren gezogen, die nicht nur für die heimische Rüstungsindustrie relevant sind. Zum einen wird eine rasche Erhöhung der produzierten und exportfähigen Stückzahlen von militärischen Gütern angestrebt. Zum anderen sind türkische Firmen bereit, ihre Zusammenarbeit mit der Ukraine auszuweiten. Bereits vor der russischen Invasion wurden mehrere Abkommen mit ukrainischen Unternehmen geschlossen, im Dezember 2020 zum Beispiel über den Bau von Korvetten der Ada-Klasse für die ukrainische Marine. Darüber hinaus hat die Türkei der Ukraine Schiffskraftwerke zur Verfügung gestellt, welche die Stromversorgung sicherstellen. Eine entsprechende Absichtserklärung wurde mit dem staatlichen ukrainischen Energieunternehmen ECU Anfang 2023 unterzeichnet. Die Antriebswerke der Tarnkappendrohne Anka-3 werden von dem ukrainischen Hersteller Ivchenko-Progress geliefert.
Neue Allianzen in der Rüstungspolitik
Das Bild der türkischen Rüstungsindustrie spiegelt eine veränderte politische Realität mit weitreichenden Konsequenzen wider. Planung und Produktion beschränken sich nicht mehr primär auf die Landesverteidigung. Sie beziehen heute den regionalen und globalen Markt mit ein. Zwei Parameter spielen dabei die Hauptrolle: (i) die Gewährleistung der türkischen Sicherheit und (ii) die Ausweitung der Exportfähigkeit der produzierten Waffensysteme. Darüber hinaus geht die Türkei zunehmend Rüstungsallianzen mit Staaten ein. Dabei präsentiert sie sich als Mittelmacht, die Zugang zu Rüstungsmärkten auf verschiedenen Kontinenten gefunden hat.
Am Beispiel der Rüstungsexportpolitik wird besonders deutlich, dass und wie die Türkei neue Partnerallianzen außerhalb der Nato vereinbart. Die Rüstungskooperationen werden durch die Vergabe von Exportlizenzen abgesichert und zeichnen sich durch regionale Diversifizierung aus. Die außenpolitische Zielsetzung Ankaras besteht darin, Rüstungsexporte strategisch einzusetzen. Dabei bezieht sie auch Länder ein, denen andere Nato-Partner mit Zurückhaltung begegnen, etwa Saudi-Arabien, Taiwan oder China.
Der Wandel in der Architektur der türkischen Rüstungsindustrie in den letzten zehn Jahren ist das Ergebnis des politischen Bestrebens, zivile und militärische Innovationsfähigkeit zu vernetzen. Die türkische Rüstungsindustrie ist von der nationalen Währungskrise und den anhaltenden Inflationsgefahren kaum betroffen. Im Gegenteil, sie verzeichnet volle Auftragsbücher bei zunehmender internationaler Nachfrage. Steigende Branchenumsätze und wachsende Exportkapazitäten sind ein Beleg dafür, dass führende türkische Rüstungsunternehmen wie Baykar, TAI, Roketsan, STM und Aselsan inzwischen über flexible Fertigungskapazitäten und stabile Lieferketten verfügen.
Schließlich ist zu unterstreichen, dass sich die dynamische Entwicklung des Militärsektors in der Türkei auch in einer Militarisierung der türkischen Außenpolitik niedergeschlagen hat. Insbesondere die wiederholten direkten militärischen Eingriffe in Syrien, im Irak und in Libyen belegen den Nexus zwischen politischem Souveränitätsstreben und einer interventionistischen Außenpolitik mit militärischer Einsatzbereitschaft.
Herausforderungen für Nato‑Partner und die EU
Das Ziel der Türkei, sich als internationaler Rüstungsspezialist zu positionieren und zu einem globalen Exporteur modernster Militärtechnologie zu werden, stellt die Nato-Partner vor politische Herausforderungen. Das Beharren der Regierung in Ankara und der führenden türkischen Rüstungsfirmen auf dem Ausbau der heimischen Produktionskapazitäten macht deutlich, wie entschlossen die Türkei auf eine Ausweitung ihrer strategischen Autonomie hinarbeitet.
Diese Absicht erstreckt sich auf immer mehr und immer modernere Waffensysteme. Derzeit entwickelt die Türkei ihr erstes Tarnkappen-Kampfflugzeug KAAN, das ausschließlich im eigenen Land gebaut und aus türkischen Quellen finanziert wird. Die Serienproduktion des KAAN soll bis 2028 gesichert sein. Damit wäre die Türkei in der Lage, ihre Altbestände an amerikanischen F-16-Kampfflugzeugen schrittweise zu ersetzen. Die mögliche Beschaffung von Eurofightern kann vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsperspektiven als Alternative für den Übergang angesehen werden. Für den Fall, dass der Erwerb nicht zustande kommt, gibt es jedoch Hinweise auf Überlegungen der türkischen Regierung, das chinesisch-pakistanische Kampfflugzeug JF‑17 Thunder zu kaufen.
Die türkische Anfrage an die Bundesregierung, dem Verkauf von Eurofightern zuzustimmen, eröffnet Handlungsspielräume für Nato-Partner. Das Eurofighter-Konsortium ist ein Hebel, um gegebenenfalls Konditionalitäten zwischen Berlin und Ankara auszuloten. Die Türkei bleibt im Bereich der Luftverteidigung vor allem von den USA, aber auch von den europäischen Nato-Partnern abhängig. Das hat Folgen auch für den zunehmenden Rüstungswettlauf zwischen der Türkei und Griechenland im östlichen Mittelmeer. Die Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat 2022 französische Rafale-Kampfflugzeuge bestellt und mit den USA den Kauf von 40 F-35-Tarnkappenjägern vereinbart. In der Praxis wird damit die bestehende militärische Dominanz der türkischen Luftwaffe gegenüber Griechenland im östlichen Mittelmeer mittelfristig in Frage gestellt.
Als Nato-Mitglied bemüht sich die Türkei seit 2021 um eine Beteiligung an der EU-Verteidigungsinitiative der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« (PESCO). Die projektbasierte Initiative ist ein Versuch, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) fortzuentwickeln. Mit seinem Interesse an einer Mitwirkung an dem PESCO-Projekt »Militärische Mobilität« hat Ankara seine Bereitschaft zu einer sicherheitspolitischen Kooperation auf EU-Ebene signalisiert. Allerdings erfüllt die Türkei als Drittstaat bisher nicht alle Bedingungen für eine Teilnahme an PESCO-Vorhaben.
Zudem ist die Beteiligung der Türkei an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) ausbaufähig. Laut dem im November 2023 veröffentlichten Türkiye 2023 Report der Europäischen Kommission hat die Türkei bis August 2023 lediglich eine Angleichungsquote (Alignment Rate) von 10 Prozent an die GASP-Ziele erreicht. Darüber hinaus hält die Türkei an ihrem Veto fest, das EU-Mitglied Zypern von allen möglichen verteidigungspolitischen Kooperationsformen zwischen EU und Nato auszuschließen.
Ausblick
Auf der einen Seite bemühen sich die EU und die Nato um eine Einbindung Ankaras; auf der anderen Seite verfolgt Präsident Erdoğan das strategische Ziel, die Türkei durch Produktion und Exportfähigkeit zu einem rüstungspolitischen Machtzentrum zu entwickeln. Dies ist eine Konstellation, die Konfliktpotential birgt und diplomatisches Geschick erfordert.
Der rasante Anstieg der türkischen Rüstungsexporte in den letzten Jahren und die damit einhergehende politische Förderung der Branche durch Erdoğan haben gezeigt, dass die türkische Industrie liefern kann. Die Nachfrage nach türkischen Militärgütern und das mit diesen Produkten erworbene Reputationskapital auf den globalen Rüstungsmärkten deuten darauf hin, dass die Türkei auch in Zukunft eine feste Größe auf den internationalen Schauplätzen der Rüstungsproduktion und der militärischen Dienstleistungen bleiben wird. Die zielgerichtete Vernetzung von Sicherheitsinteressen mit der Innovationsfähigkeit der Rüstungsindustrie und der expandierenden Waffenexporte wird das außenpolitische Gewicht der Türkei in den kommenden Jahren stärken.
Der Verkauf von Eurofighter Typhoons an die Türkei wäre weit mehr als eine kommerzielle Rüstungsexportvereinbarung. Verteidigungspolitisch würde es die Entscheidung bedeuten, die Türkei weiterhin in westliche militärisch-industrielle Systeme zu integrieren statt indirekt ihre strategische Autonomie zu fördern. Es gilt, die Risiken einer Zustimmung im Auge zu behalten und zu versuchen, Ankara konstruktiv in die Pflicht zu nehmen. Der türkische Rüstungswunsch sollte an Bedingungen geknüpft werden, zum Beispiel an die Einhaltung der über den UN-Rahmen hinausgehenden Sanktionspolitik gegenüber Russland. Schließlich könnten sich auch Chancen für neue Kooperationsformate eröffnen, etwa in Form des Exports von türkischen Rüstungsgütern, wie etwa Drohnen, an die Bundeswehr.
Dr. Jens Bastian ist Fellow am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
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DOI: 10.18449/2024A05