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Die neue Geopolitik der Lieferketten

»Friend-shoring« als Zielvorgabe für den Umbau von Lieferketten

SWP-Aktuell 2022/A 45, 21.07.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A45

Research Areas

Eine lange Reihe von Störungen des Welthandels in den letzten Jahren hat eine Reorganisation der internationalen Lieferketten auf die politische Tagesordnung gebracht. Die Unregelmäßigkeiten begannen mit dem Handelskrieg zwischen den USA und China, setzten sich fort mit der Covid-19-Pandemie und den dadurch ver­ursachten Unterbrechungen der Versorgungsketten und kulminierten zuletzt nach Russlands Einmarsch in der Ukraine wegen der darauf folgenden Sanktionen und Exportkontrollen. Das Risiko einer Unterbrechung der Lieferbeziehungen zwingt die Unternehmen mittlerweile in viel stärkerem Maße als früher dazu, politische Fakto­ren nicht nur »einzupreisen«, sondern auch auf Vorgaben der Politik zu reagieren. Allerdings sind die realistischen Fristen für den Umbau von Lieferketten, besonders wenn diese sehr komplex und lang sind, kaum kompatibel mit den kurzen Reak­tions­zeiten, die von der Politik erwartet werden. Es gilt ein Verfahren zu entwickeln, mit dem politische Lieferkettenrisiken effektiver bearbeitet werden können und das für alle Teilnehmer transparent ist.

Mit den Folgen der Covid-19-Krise, den wach­­senden Spannungen des Westens mit China als zentralem Knotenpunkt in der inter­nationalen Lieferkettenarchitektur und dem Krieg in der Ukraine sind die Fragen der Neugestaltung internationaler und globaler Lieferketten erneut auf die politische Tages­ordnung gelangt. Je mehr die wirtschaftlichen Sanktionen ausgeweitet werden, desto stärker entwickeln sich die Handelsbeziehungen zu einem Instru­ment der Außen- und Sicherheitspolitik. Der eigenständige Wert des Freihandels verblasst zusehends. Neue Bedeutung ge­wonnen haben das Abstecken von Einflusssphären und die Bewertung der Vertrauens­würdigkeit und Zuverlässigkeit bestimmter Lieferanten und Lieferländer. So ist auch der Vorschlag Janet Yellens, Finanzministerin der USA, zu inter­pretieren, die mit dem Begriff »friend-sho­ring« die Verlagerung von Lieferketten in vertrauenswürdige Länder empfohlen hat. Auf diese Weise sollen auch künftig der freie Marktzugang sicher ausgeweitet sowie die Risiken für die eigene Wirtschaft und nahestehende Handelspartner verringert werden können. Yellens kanadische Amts­kollegin Chrystia Freeland hat ihren Vor­schlag aufgenommen und will »friend-sho­ring« als neue Norm verstanden wissen, die auch neue Institutionen und Beziehungsmuster mit den Lieferketten verbindet. Im europäischen Kontext wurde diese politi­sche Konvergenzanforderung in Gestalt des »friend-shoring« mit ähnliche Werte vertre­tenden Staaten aufgegriffen, etwa im Stra­tegic Foresight Report 2022 der Europäischen Kommission. Mit diesem Konzept wird unter dem Stichwort »sicherer Handel« das multilaterale System der Welthandelsorganisation (WTO) in Frage ge­stellt. Deren Direk­tor Ngozi Okonjo-Iweala kritisierte dies als Tendenz zur Fragmentierung der Welthandelsordnung und als Weg in einen neuen Protektionismus. Stimmen aus dem Globalen Süden lehnen indes die Umsetzung eines »friend-shoring« prinzipiell ab. Arme Länder würden dadurch noch stärker von internationalem Handel ab­geschnitten, dort würden keine Einkommens- und Arbeits­effekte erzielt, und damit geriete auch die innere Stabilität dieser Länder noch mehr unter Druck.

»Friend-shoring« – die geopolitische Teilung der Lieferketten-Welt

»Friend-shoring« baut auf dem Konzept eines offenen Partnerschaftsmodells auf. Dieses soll jene Staaten erfassen, die dem US-amerikani­schen Verständnis offener Märkte folgen, sich aber auch der Beachtung von Arbeits- und Umweltstandards ver­pflichtet sehen. Für den Umbau der Liefer­ketten wird damit das Kriterium »politi­sche Konvergenz« eingeführt, das in Europa nicht zu­letzt nach dem Abbruch der Wirt­schafts­beziehungen zu Russland zusätz­lichen Schub erhalten hat. Damit wird das Entstehen eines neuen Handelsblocks in den Blick genommen, der sich aus ordnungs­politisch konvergenten und demokratisch verfassten Staaten zusammensetzen würde. Für die Lieferketten-Governance heißt das, dass eine weitere, und zwar stark geopolitisch moti­vierte Facette in die breitere Diskussion über geographisch angelegtes »re-shoring« (Rück­verlagerung ins eigene Land) ein­gebracht wird, die bislang eher neutral auf Diversifizierung abzielte. Dies gilt in beson­derem Maße für als strategisch an­gesehene Sektoren wie die Luft- und Raum­fahrt, die Automobilindustrie, den Elektro­nik-Sektor und medizinische Geräte sowie Medikamente, aber auch für minerali­sche, energetische und agrarische Rohstoffe und deren Weiter­verarbeitungsstufen.

Mit Yellens Vorschlag wird die bisher auf die operative Sicherheit von Lieferketten kon­zentrierte Debatte um die geopolitisch motivierte Dimension »Vertrauenswürdigkeit von Lieferpartnern« erweitert. Den bis dato diskutierten Kriterien Effizienz, Nach­haltigkeit und Resi­lienz von Lieferketten wird also das Merkmal »politische Konvergenz« im oben skizzierten Sinne hinzugefügt. Die damit angestrebte Umsteuerung in der Ansiedlungspolitik und der »Länge« von Lieferketten zeitigt indes hohe finanzielle Kosten und bedarf gerade bei komplexen Lieferketten eines beachtlichen zeit­lichen Vorlaufs. So wird geschätzt, dass sich das Volumen jener 25 Prozent der weltweiten Liefer- und Warenströme, die in den näch­sten fünf Jahren möglicherweise in neue Länder verlagert werden könnten, auf bis zu 4,6 Billionen Dollar jährlich beläuft. Die damit verbundenen unternehmerischen Entscheidungen müssen dann allerdings immer stärker politische Vorgaben berück­sichtigen, denen man bislang so weit wie möglich entgehen wollte. Denn die Renta­bilitätsbewertung von »friend-shoring« ist eine strategische Neuorientierung, die mit weitgehender Auflösung des Geflechts her­kömmlicher Lieferkettenarrangements ein­hergehen könnte. Das ist nur mit hohem Zeit- und Kostenaufwand zu erreichen.

Konkret bedeutet dies, dass die Gestaltung von Lieferketten die einfache Logik des bisherigen »off-shoring« (Verlagerung der Produktion ins Ausland) hinter sich lassen würde. An ihre Stelle müsste eine flexible Mischung aus Komponenten des »near-shoring« (Ansiedlung im engeren Nachbarschaftsbereich), »re-shoring« und »friend-shoring« treten. Je nach Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren und -stand­orten hätte diese Mischung eine modulare Neukonfiguration der verschiedenen Seg­mente einer Lieferkette zur Folge. Hierfür ist es un­abdingbar, die Instrumente und ihre Bedeu­tung aus strategischer und opera­tiver Sicht einzuordnen. Das können Staat und Unter­nehmen nur gemeinsam leisten. Endpunkt des Bestrebens, »sichere« Liefer­ketten auf­zubauen, wäre dann eine geopoli­tische Neu­ordnung der Welt, die hinsichtlich strategischer Güter und Dienstleistungen in »Nord-Nord«- und »Süd-Süd«-Liefer­ketten gespal­ten wäre. In dem Falle wären Ver­suche an der Tagesordnung, einzelne Länder in das jeweilige Lager zu ziehen, um die eigenen Chancen zu er­höhen.

Allerdings ist zu fragen, inwieweit ein solches Raster angesichts der geogra­phischen Verteilung von Rohstoffen in der Welt tragfähig ist. Zu erwarten ist, dass eine solche Logik eine massive Störung von Handelsflüssen nach sich zöge. Die Folge wären enorme Preis­steigerungen für die Konsumenten.

Die operative Ausgestaltung politischer Konvergenz

Mit dem Vorschlag des »friend-shoring« geraten auch die Lieferketten in den Sog der Großmachtkonkurrenz und der Teilung der Welt zwischen marktwirtschaftlichen Demokratien und Ländern, die mit den autoritären Regimen Chinas oder Russlands im Bunde stehen. Zentrales Motiv, sich für »friend-shoring« zu entscheiden, ist das Streben nach größerer Unabhängigkeit von Zuliefe­rern, deren autokratische Ausrichtung die Gefahr politischer Erpressbarkeit und wirt­schaftlichen Zwangs birgt. Wird die »Inter­dependenzverwundbarkeit« gemindert, werden – so hofft man – die Lieferketten robuster und deren Teilnehmer weniger erpressbar. Letztlich handelt es sich um ein Mittel, um globale Lieferketten vor externen Störungen oder wirtschaft­lichem Zwang zu schützen. Das ehrgeizige Vorhaben der EU, 43 Mil­liar­den Euro in die Halbleiterindu­strie zu investieren, oder das US-amerikani­sche CHIPS-Gesetz zur Ankurbelung der heimischen Produktion gehen eindeutig auf »re-shoring«-Pläne zurück. Angesichts fehlen­der Rohstoff­verfügbarkeiten, der Abhängigkeit von Importen und teurer Arbeitskosten taugen solche Unter­fangen jedoch nur be­grenzt zur Nachahmung. Hier führt kein Weg an China vorbei, das bei weitem be­deutendste Land in der Textil- und Elektro­nik­industrie und bei der Weiterverarbeitung wichtiger Rohstoffe. China konnte seine Position auf der vorgelagerten Produk­tionsstufe in der Kraftfahrzeug- und Textil­industrie ebenso ausbauen wie bei der Ver­arbeitung von Rohstoffen und der Verfügung über Seltene Erden. Die Kehrseite ist eine negative Bilanz bei der Beachtung der Menschenrechte.

Indes ist unklar, wie weit ein Umbau im Sinne von »friend-shoring« reichen soll: Geht es nur darum, die Unternehmen zu ermuti­gen, ihre Produktion vorwiegend in Ländern dieser »vertrauenswürdigen« Gruppe an­zu­siedeln? Oder soll diese Vor­gehensweise nach dem »strategischen« Wert bestimmter Güter und Dienstleistungen gestaffelt werden? Wie kann politische Konvergenz als Kriterium handhabbar gestaltet werden? Hier sind Konflikte pro­grammiert: Die Unternehmen streben nach Effizienz und Skaleneffekten, während die politischen Entscheidungsträger nun der Sicherung wichtiger Versorgungsgüter und dem Zugang zu ihnen Vorrang einräumen. Aber welches Gewicht haben Demokratie, Men­schenrechte und Nachhaltigkeit bei der Beurteilung »vertrauenswürdiger« Staaten? Einseitige Zuordnungen führen hier nicht zum Ziel. Stattdessen bedarf es bei den Staaten, die dem »friend-shoring«-Konzept folgen wollen, einer ausgewogenen Inter­essenbewertung, die alle Kriterien von Nach­haltigkeit in den Blick nimmt. Dies gilt auch im weltweiten Maßstab mit Blick auf mögliche Profiteure der Produktionsverlagerungen und Arbeits­platzverschiebungen.

Doch die Zeichen stehen klar auf Wandel. So zeigt der jährliche Reshoring-Index der Unternehmensberatung Kearney für das Jahr 2021, dass nur 8 Prozent der befragten Führungskräfte des verarbeitenden Gewer­bes in den USA keine Verlagerung in Er­wägung gezogen haben. Dagegen haben 47 Prozent in den letzten drei Jahren bereits Verlagerungen vorgenommen, und 29 Pro­zent planen dies in den nächsten drei Jah­ren – und das, obwohl die Umfrage noch vor der Ukraine- und Energiekrise stattfand.

So wollen die USA ihre Abhängigkeit von autoritären Regimen wie China bei essentiellen Produkten verringern, vor allem Seltenen Erden, Elektronik wie etwa Halb­leitern und ande­ren militärisch verwend­baren Gütern. Dafür suchen sie eine inten­sivere Zusammenarbeit mit Südkorea und Japan. In Europa wiederum wird ver­sucht, sich von den russischen Lieferanten unver­zichtbarer Rohstoffe abzukoppeln, beson­ders von Energieträgern, Getreide und Düngemitteln.

Problematisch ist allerdings, wenn alle westlichen Staaten bei der Suche nach »ver­trauenswürdigen« Kandidaten gleichzeitig ihren Blick auf Indonesien, Malaysia, Viet­nam und andere Länder im indopazifischen Raum, auf Bulgarien, Rumänien und die Mittelmeeranrainerstaaten im europäischen Raum richten. Es ist wenig erfolgversprechend, wenn Produktionsstätten, Arbeitsplätze und Inve­stitionen auf breiter Front in diese Länder verlagert werden. Zwar würde damit eine gewisse Diversifizierung der geographi­schen Kon­zentration globaler Lieferketten erreicht. Nicht gesichert ist jedoch, dass sie auf diese Weise resilienter gegenüber exter­nen Ereig­nissen werden. Viele Transportwege wären weitgehend identisch und könnten durch dieselben Krisenereignisse wie Wirbelstürme, politi­sche Blockaden oder Engpässe im Suez­kanal massiv beeinträchtigt werden. Politi­sche Risikofaktoren bei den neuen Diversifi­zie­rungspartnern in Südostasien werden damit ebenso wenig beseitigt wie die regio­nale Hegemonierolle Chinas. Werden ope­rativ und sozial robuste Produktionszyklen ge­schaffen, muss dies in eine stärker poli­tisch motivierte Orientierung am westlichen Wertekanon und an der Umsetzung ent­sprechender Verhaltensnormen einge­bettet werden, um unternehmerisches Ver­hal­ten neu auszurichten. Zu­dem ist die Ein­teilung bestimmter Staaten als »vertrauens­würdig« nicht stabil über die Zeit. Dieses Schwarz-Weiß-Denken geht über­wiegend an den Realitäten der Handels- und Wirtschafts­politik vorbei und ignoriert die dort eher vorherrschenden Grautöne.

Dennoch gewinnt dieses Denken in der Politik weiter an Boden. Hier ist auch die Verbindung zu dem globalen Investitionsprogramm für Infra­struktur anzusiedeln, das die G7 auf ihrem Gipfel auf Schloss Elmau Ende Juni 2022 verkündete. Es soll knapp 600 Milliarden US-Dollar für die nächsten fünf Jahre umfassen. Aufbauend auf strate­gische Investitionen der G7 in die globale Infrastruktur wird das »friend-sho­ring« ergänzt. Auf diese Weise wird der chinesischen Belt-and-Road-Initiative ein westlich inspiriertes Alternativprogramm entgegengesetzt, das wirtschaftliche und politische Stärke beweisen und Chinas Pläne wirksam eindämmen soll.

Der geopolitische Umbau von Lieferketten

Mit der Forderung nach politischer Kon­vergenz bei der Gestaltung von Lieferketten verlagert sich der Blick – gerade unter dem Gesichtspunkt kritischer Rohstoffe – auf die Produzentenseite in der Lieferketten-Governance. Nachverfolgbarkeit (»tracking and traceability«) und Auditing hingegen werden an Bedeutung verlieren. Da die Ver­sorgung mit Vor­leistungen und Vorprodukten aus dem Aus­land nicht mehr gewährleistet oder er­wünscht ist, steht eine Reorga­nisation der Produktion in vielen indu­striellen Sektoren und landwirtschaftlichen Versorgungs­wegen auf der Tagesordnung. Die geographisch weit gestreuten Fertigungsschritte, die durch günstige Transportkosten erleich­tert wurden, scheinen sich zunehmend als Nachteil zu erweisen. Das liegt daran, dass die Zuverlässigkeit von Liefe­rungen und Lieferanten in Frage steht und gleich­zeitig eingespielte logistische Ver­bindungen durch Engpässe in Häfen und Einschränkungen an bestimmten Produk­tionsstätten beeinträchtigt sind, etwa durch Covid-19-Ausbrüche.

Die zahl­reichen öko­nomischen Trans­aktionen und Zwischenschritte bei der Pro­duktion von Gütern machen es notwendig, das Verhältnis zwi­schen privatwirtschaftlichen Entscheidungen und Steuerung durch die öffentliche Hand neu zu ordnen. Dies gilt besonders für die Frage, an welchen Orten Produktionsanlagen künftig sicher und berechenbar betrieben werden können und sollen, aber auch für mögliche Antwor­ten auf die Ein­stufung der pro­duzierten Güter und Dienst­leistungen als strategisch wichtig für die jeweilige Ökonomie. Hier spielen führende Unternehmen (»lead firms«) eine ausschlaggebende Rolle, die sich auch auf die weit­reichende Gestaltung internatio­naler Pro­duktionsnetzwerke erstreckt. Sie nehmen Einfluss auf die Eck­werte einer wirtschaftlichen Transaktion, also auf Preis, Volumen, Anzahl der Liefe­ranten, deren Qualifikationen oder Eigen­schaften, welche die Liefe­ranten jenseits der Frage des Preises auf­weisen sollten, etwa Qualitäts-, Arbeits- und Umweltstandards.

Dies wird sich zwischen produzenten- und käufergesteuerten Lieferketten unter­schiedlich darstellen: »Lead firms« sind stärker im Segment produzentenzentrierter Liefer­ketten präsent, also in jenen kapitalintensiv operierenden Sektoren wie zum Beispiel der Automobilindustrie, in denen hohe techno­logische Anforderungen und Kapitalausstattung als die wichtigsten Haupteintritts­barrieren wir­ken und den Status der großen Hersteller stärken. Produ­zentenzentrierte Liefer­ketten zeichnen sich daher durch hohe vertikale Integration aus. Käufer­zentrierte Liefer­ketten dagegen, etwa in der Landwirtschaft oder der Bekleidungs-, Schuh- und Spiel­zeugferti­gung, sind durch arbeitsinten­sive Sektoren mit unabhängigen Auftragnehmern charakterisiert. Dort bilden Markt­informationen, Produktdesign sowie Marke­ting und Werbung die Eintritts­barrieren.

Beiden Modellen liegt eine Logik des »out­sourcing« zugrunde, um kosten- bzw. arbeits­intensive Segmente des Produktionsprozesses in andere Weltregionen auszu­lagern. Zwar wird in der wissenschaftlichen Debatte die Unterscheidung zwischen pro­duzenten- und käufergesteuerten Liefer­ketten weit­gehend als überholt angesehen, da man heute eher von modular organisierten Lieferketten spricht. Unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit aus stra­tegischer Perspektive erhält diese Differenzierung indes eine neue Bedeutung: Bei der Reorga­nisation der Lieferketten im Zeichen ihrer geopolitisch motivierten Aus­richtung muss geklärt wer­den, wie zen­trale Fertigungs­abschnitte neu aufgebaut und regional angesiedelt werden müssen, um den natio­nalen Versorgungs­interessen Rechnung tragen zu können.

Damit geraten unmittelbar jene Akteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die eine weitreichende Steuerungs- und Koordinationsfunktion in den Liefer­ketten besitzen, also die »lead firms« mit aus­geprägter Marktmacht. Ent­scheidungen oder Verein­barungen, die an der Schnittstelle zwischen dem führenden Unternehmen und dem erstrangigen Zu­lieferer ge­troffen werden, haben Ausstrahlungseffekte auf oder um­fassendere Folgen für ein breites Spektrum von Akteuren, die den unmittelbaren Zu­lieferern vorgelagert sind. Die führenden Unternehmen sind nun in erster Linie ge­fragt, ihre strategische Lager­haltung neu zu konzipieren, also ihre Lagerbestände als zusätzlichen Puffer auf­zustocken. Zudem sind sie darum be­müht, mögliche Liefer­engpässe durch eine länder­übergreifende Diversifizierung ihrer Pro­duktionsstandorte zu verringern und die Flexibilität zu er­höhen, indem sie die Sub­stituierbarkeit von Vorleistungen verbessern. Mit solchen Maß­nahmen sind aller­dings immer auch politi­sche Einschätzungen über die Gast­länder verbunden. Für ihre Tätigkeit dort erwarten die Unternehmen nun Leitlinien der Politik. Um die Lebensfähigkeit der glo­balen Liefer­ketten zu erhalten, sind daher neue Formen der Abstimmung zwischen öffentlichem und privatem Sektor vonnöten.

Die Orchestrierung von Lieferketten-Governance

»Lieferkettensouveränität« ist zum zentralen Stichwort der Debatte geworden, Diese hat sich über die vorausgehenden Über­legungen hinausbewegt, technische Souveränität durch Abkopplung von China (»decoupling«) zu erlangen. Damit hat sich die Stoßrichtung der Diskussion umgekehrt: Haben sich die Unternehmen bislang gegen staatliche Interventionen in Liefer­ketten durch Verordnungen und Gesetze gewehrt, rufen sie heute nach staatlichen Vorgaben, um robuste Produktionsprozesse organisieren zu können. Insoweit sind sie Opfer ihrer eigenen Entscheidungen gewor­den, bei denen sie sich nur an Kosteneffi­zienz orientierten und dabei auch bereit waren, Umwelt- und Sozialkosten zu Lasten der Produzentenländer zu externalisieren. Wurden bisher europäische oder deutsche Regulierungen von Sorgfaltspflichten als unbotmäßiger Eingriff verstanden, ist jetzt staatliche Unterstützung und Übernahme von Garantien beim Umbau von Lieferketten gefragt.

In die Suche nach mehr Autonomie mischt sich die Erwartung mög­licher Autar­kiegewinne. Doch diese unter­schwellige Debatte führt in die Sackgasse, da es letzt­lich um die Frage geht, welche Risiko­einschätzung über die Zuverlässigkeit von Lieferanten zugrunde gelegt wird. Dabei gilt es die komplexe Struktur von Lieferketten ebenso zu berücksichtigen wie ihren kaskadenartigen Aufbau über mehre­re Stufen. Auf der Tagesordnung stehen daher auch operative Fragen, zum Beispiel eine eventuelle Verkürzung von Liefer­ketten, ihre stärkere vertikale Integration durch Aufkauf von Zulieferbetrieben und größere Bevorratung von Gütern.

Die Orientierung an Kapitaleffizienz hatte viele Unternehmen dazu bewegt, Auf­träge an Subunternehmer zu vergeben (»sub­contracting«). Für viele Hersteller haben geringe Produktionskosten Priorität. Damit nicht vereinbar ist der Aufwand für mehr­fache Anlageninvestitionen und für die Herausforderungen, die sich aus der Ver­teilung der Produktionsauslastung auf mehrere Standorte ergeben. Unternehmen haben den Eingriff staatlicher Instanzen in betriebliche Belange oft scharf zurückgewiesen. Doch gerade die Beseitigung von Schwachstellen bei Logistik, Versorgungs­sicherheit und Sorgfaltspflichten zwingen nun zum Umsteuern. Das Kriterium »poli­tische Konvergenz« erfordert es, die Liefer­ketten-Governance zwischen Staaten und Unternehmen zu »orchestrieren«. Das kann von neuen Handelsverträgen bis hin zur Schaffung einer »Börse für vertrauenswürdige Lieferanten« reichen. Hinzu kommt die Frage der Kostenübernahme: Viele Ent­scheidungsträger sind skeptisch, ob Unter­nehmen oder Verbraucher wirklich bereit sein werden, die höheren strukturellen Kosten der Produktionsverlagerungen und Reibungskosten bei der Umstellung von Lieferketten zu tragen.

Die Verlagerung an neue Produktionsstandorte lässt sich vor allem mit jenen führenden Unternehmen orchestrieren, die in produzentengesteuerten Lieferketten hohe Gestaltungskapazität und Optionen für schnelles Handeln besitzen, um sich im Sinne robusterer Lieferketten neu zu orien­tieren – soweit es sich um strategische Produkte bzw. strategische Segmente einer Lieferkette handelt. Da diese »lead firms« die Knotenpunkte in einer Lieferkette kon­trollieren, besitzen sie bedeutende Hebel­wirkung für die gesamte Gestaltung der Beziehungen innerhalb der Kette.

Zwar haben jüngste Studien nachgewiesen, dass solche Multistakeholder-Verfahren unter Beteiligung von Staat(en), Unter­neh­men und Zivilgesellschaft nicht per se effek­tiver bei der Durchsetzung von Standards sind, aber weit höhere Legitimität genießen. Dies gilt nicht zuletzt hinsichtlich der Repräsentation von Produzenten und Nichtregierungsorganisationen aus dem Globalen Süden, die unverzichtbar sind für die lokale Umsetzung von Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards. Hier gilt es darauf zu achten, wie die »lead firms« an­fallende Kosten verteilen werden. Studien verweisen darauf, dass sie diese oftmals in vorgelagerte Betriebe verschieben. Das be­lastet besonders kleine und mittlere Unter­nehmen und informelle Produzenten in den Lieferländern, sodass viele von ihnen aus der Lieferkette ausscheiden müssen. Weder ist dies entwicklungspolitisch sinn­voll, noch werden es die Regierungen der betreffenden Lieferländer dauerhaft tole­rieren. Gewiss können Resilienz- und Kon­vergenzkosten nur begrenzt durch staat­liche Subventionen aufgefangen werden. Stattdessen sollte man sich auf die Erfolge konzentrieren, welche die Orchestrierung durch »lead firms« und Staaten, die flankie­rende Maßnahmen ergreifen, gezeitigt hat. Dies könnte auch andere Branchen zu einem ähnlichen Vorgehen anspornen.

Die Orchestrierung der Lieferketten-Governance erfordert eine Fülle von Prozess- und Strukturveränderungen, die in und zwischen den Unternehmen möglichst rasch in Angriff genommen werden müssen. So geht es etwa darum, strategische Güter selektiv gegen konkret erkannte Ausfallrisi­ken abzusichern, indem man die Lager­bestände erhöht. Zudem ist es bisweilen ratsam, wenn Unter­nehmen Zulieferbetriebe aufkaufen. Die Absicherung gegen Lieferausfallrisiken und die Bewertung von Transportsicherheit stehen ebenso an wie die unternehmerische Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards sowie die Bestimmung von Service- und Garantie-Anteilen der Lieferanten.

Letztlich reicht all dies bis zu ordnungspolitischen Fragestellungen, die auch den Grad der Konzentration in einer Branche erfassen. Daraus wird schon erkennbar, dass mit größeren Koordinationsproblemen und höheren Transaktionskosten zu rechnen ist, wenn eine Orchestrierung erfolgreich sein soll. Anzusprechen sind dabei jene Firmen, die in ihren Märkten eine dominante Rolle einnehmen. Das sind zum Bei­spiel große Supermarktfilialisten, Pharma­konzerne, Rohstoffhandelshäuser, aber auch Saatguthersteller.

Immer mehr führende Unternehmen sind in Ländern des Globalen Südens ange­siedelt. Dort sind gegenwärtig Anstren­gun­gen zu verzeichnen, nationale Rohstoff­konzerne in staatlicher Hand zu gründen, um die Vor­stellungen der betreffenden Länder von Souveränität und politischer Autonomie zu unterstreichen. Damit dürfte es schwieriger werden, sektorspezifische und politische Standards durchzusetzen, da Themen des Handelsrechts und der Vorwurf von Han­delsbeschränkungen durch Sorg­faltspflich­tenregelungen an politischer Bri­sanz gewin­nen. Für eine Aushandlung mit diesen »lead firms« wird damit sehr viel stär­ker die zwi­schenstaatliche Ebene gefragt sein, um das Handeln von Unternehmen politisch zu flankieren. Hier ist eine Ab­schätzung ent­sprechend der strategischen Bedeutung des jeweiligen Sektors oder Seg­ments zu treffen, da einheitliche Regelungen eher die Ausnahme bilden dürften. Damit erhalten Verfahren, die sich an lokaler »ownership« orientieren, größere Bedeutung als klassi­sche Instrumente, die von Compliance-Anforderungen geleitet sind. Diese Ausrich­tung ist nicht zuletzt eine Folge dessen, dass einzelne Länder des Globalen Südens untereinander neue regio­nale Lieferketten vereinbaren, die nach eigenen Standards gestaltet sind.

Die politische Lieferketten-Geographie und die Lieferkettengesetzgebung

Bei der räumlichen Neuordnung von Liefer­ketten gemäß dem Kriterium »politische Konvergenz« muss die Geographie von Pro­duktion, Transport und Konsum neu abge­steckt werden. Es ist davon auszugehen, dass unter den Maximen »friend-shoring« und Versorgungssicherheit diese Räume näher zusammenrücken und Knotenpunkte neu konfiguriert werden müssen. Beim Umbau der Lieferketten dürfte ein globaler Wett­bewerb um günstige Lohnkosten, geeignete Produktions- und Transportinfrastrukturen und steuerliche Anreize erneut eine wichti­ge Rolle spielen. Je stärker Liefer­ketten in den Schatten der Großmacht­konkurrenz geraten, umso schwächer sind ihre ökono­mischen Bestimmungsfaktoren ausgeprägt. Die »Politisierung« von Liefer­ketten nimmt dabei unterschiedliche Dimensionen an: Unsicherheit und Risiko­faktoren geraten deutlicher ins Bild, da sie massive Folgen für wirtschaftliches Han­deln und politische Stabilität haben. Vor­gaben für geeignete Partner(strukturen) werden gesetzt werden, sei es im Rahmen von Rohstoffpartnerschaften, bei der Bil­dung neuer Konsortien sowie in puncto Akzeptanz zen­traler Regelwerke und Standards. Die Ver­teilung der Kosten geopolitisch moti­vierter Neu­ordnung von Lieferketten ist ein Haupt­diskussionspunkt, der zwischen Staat(en) und Unternehmen geklärt werden muss.

Einen ersten gemeinsamen Versuch der Koordination internationalen Handelns haben im Juni 2022 zehn westlich orientier­te Staaten und die EU mit der Minerals Security Partner­ship (MSP) unternommen. Sie will sicherstellen, dass kritische Mine­ralien wie Kobalt, Lithium und Nickel in einer Weise gewonnen, verarbeitet und recycelt werden, die es den Mitgliedsländern ermöglicht, ihre geologischen Ressourcen gemeinsam mit »befreundeten« Staaten zu nutzen. Bei diesem Zusammenwirken sollen mit Hilfe öffentlicher und privater Infrastrukturinvestitionen robuste und verantwortliche Lieferketten (»responsible supply chains«) im Rohstoff­bereich auf­gebaut werden, die auch den Ansprüchen des Green Deal genügen.

In der MSP werden Produktion, Verarbeitung und Recycling der kritischen Rohstoffe mitein­ander verknüpft. Zudem sind mit Austra­lien, Deutschland, Finnland, Frank­reich, Japan, Kanada, Südkorea, Schweden, dem Ver­einigten Königreich und den USA so­wohl rohstoffarme als auch rohstoffreiche Staaten vertreten. Aus diesen Gründen könnte sich zwischen den genannten Län­dern durch Lieferketten ein Block bilden, der sich dem »friend-shoring«-Konzept stark annähert. Damit käme diese Liefer­kette ohne Beteiligung Chinas aus, das bis­lang weltweit eine zentrale Rolle bei der Ver­arbeitung der oben erwähnten Rohstoffe spielt. Der Aufbau einer solchen durch­gängigen Lieferkette vom Abbau über die Herstellung bis zum Recycling wäre damit ein erster Schritt zur Neuordnung globaler Lieferketten nach westlichen Standards, bei der die Klimaziele beachtet würden und eine sichere Versorgung mit kritischen Roh­stoffen garantiert wäre. Entscheidend dürfte sein, ob die Kooperationsbereitschaft der beteiligten Staaten groß genug ist, um diesen Schritt der geopolitischen Abgrenzung von Lieferketten auch wirklich zu vollziehen.

Bis dahin werden auch weiterhin nationale Wege beschritten werden, um Ver­sorgungssicherheit zu gewährleisten. Dabei sollten jedoch die Prioritäten nicht gänzlich verschoben werden. Angesichts der Roh­stoff­verknappung und der damit verbundenen Neustrukturierung der Liefer­ketten wurden bereits Forderungen laut, die Liefer­kettengesetzgebung auszusetzen. Dies aber entspräche nicht dem Bedarf einer Neu­orientierung der politischen Geo­graphie der Lieferketten. Auch diese näm­lich muss sich an der Integration der gesetz­lichen Anfor­derungen in die Geschäftsprozesse der Unternehmen und an der Redu­zierung menschenrechtlicher Risiken aus­richten. Es muss verhindert werden, dass verschie­dene Regelungsansprüche im Ziel­viereck von Effizienz, Nachhaltigkeit, Resi­lienz und politischer Konvergenz gegenein­ander aus­gespielt werden. Gerade in Ziel­konflikten zwischen den unterschiedlichen Anforderungen muss sich die Unternehmensverantwortung bewähren. Andernfalls sind erhebliche Verwerfungen wirtschaft­licher und politi­scher Art zu erwarten. Hier gilt es den »stakeholder value« sichtbar werden zu lassen, der in komplexen Struk­turen wie Liefer­ketten be­sonderes Gewicht besitzt. Auf dem Weg der Inwertsetzung dieses Poten­tials wird die Politik die Wirt­schaft all­gemein und einzel­ne Unternehmen beglei­ten müssen, wenn der Umbau der Liefer­ketten erfolgreich sein soll.

Letztlich werden sich aber nur in begrenztem Umfang einheitliche Blöcke im Sinne der MSP bilden lassen. Die Komplexität der Gestaltung geopolitisch »sicherer« Liefer­ketten dürfte zudem durch Vorgaben des Wettbewerbs- und Handelsrechts wachsen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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