Eine lange Reihe von Störungen des Welthandels in den letzten Jahren hat eine Reorganisation der internationalen Lieferketten auf die politische Tagesordnung gebracht. Die Unregelmäßigkeiten begannen mit dem Handelskrieg zwischen den USA und China, setzten sich fort mit der Covid-19-Pandemie und den dadurch verursachten Unterbrechungen der Versorgungsketten und kulminierten zuletzt nach Russlands Einmarsch in der Ukraine wegen der darauf folgenden Sanktionen und Exportkontrollen. Das Risiko einer Unterbrechung der Lieferbeziehungen zwingt die Unternehmen mittlerweile in viel stärkerem Maße als früher dazu, politische Faktoren nicht nur »einzupreisen«, sondern auch auf Vorgaben der Politik zu reagieren. Allerdings sind die realistischen Fristen für den Umbau von Lieferketten, besonders wenn diese sehr komplex und lang sind, kaum kompatibel mit den kurzen Reaktionszeiten, die von der Politik erwartet werden. Es gilt ein Verfahren zu entwickeln, mit dem politische Lieferkettenrisiken effektiver bearbeitet werden können und das für alle Teilnehmer transparent ist.
Mit den Folgen der Covid-19-Krise, den wachsenden Spannungen des Westens mit China als zentralem Knotenpunkt in der internationalen Lieferkettenarchitektur und dem Krieg in der Ukraine sind die Fragen der Neugestaltung internationaler und globaler Lieferketten erneut auf die politische Tagesordnung gelangt. Je mehr die wirtschaftlichen Sanktionen ausgeweitet werden, desto stärker entwickeln sich die Handelsbeziehungen zu einem Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik. Der eigenständige Wert des Freihandels verblasst zusehends. Neue Bedeutung gewonnen haben das Abstecken von Einflusssphären und die Bewertung der Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit bestimmter Lieferanten und Lieferländer. So ist auch der Vorschlag Janet Yellens, Finanzministerin der USA, zu interpretieren, die mit dem Begriff »friend-shoring« die Verlagerung von Lieferketten in vertrauenswürdige Länder empfohlen hat. Auf diese Weise sollen auch künftig der freie Marktzugang sicher ausgeweitet sowie die Risiken für die eigene Wirtschaft und nahestehende Handelspartner verringert werden können. Yellens kanadische Amtskollegin Chrystia Freeland hat ihren Vorschlag aufgenommen und will »friend-shoring« als neue Norm verstanden wissen, die auch neue Institutionen und Beziehungsmuster mit den Lieferketten verbindet. Im europäischen Kontext wurde diese politische Konvergenzanforderung in Gestalt des »friend-shoring« mit ähnliche Werte vertretenden Staaten aufgegriffen, etwa im Strategic Foresight Report 2022 der Europäischen Kommission. Mit diesem Konzept wird unter dem Stichwort »sicherer Handel« das multilaterale System der Welthandelsorganisation (WTO) in Frage gestellt. Deren Direktor Ngozi Okonjo-Iweala kritisierte dies als Tendenz zur Fragmentierung der Welthandelsordnung und als Weg in einen neuen Protektionismus. Stimmen aus dem Globalen Süden lehnen indes die Umsetzung eines »friend-shoring« prinzipiell ab. Arme Länder würden dadurch noch stärker von internationalem Handel abgeschnitten, dort würden keine Einkommens- und Arbeitseffekte erzielt, und damit geriete auch die innere Stabilität dieser Länder noch mehr unter Druck.
»Friend-shoring« – die geopolitische Teilung der Lieferketten-Welt
»Friend-shoring« baut auf dem Konzept eines offenen Partnerschaftsmodells auf. Dieses soll jene Staaten erfassen, die dem US-amerikanischen Verständnis offener Märkte folgen, sich aber auch der Beachtung von Arbeits- und Umweltstandards verpflichtet sehen. Für den Umbau der Lieferketten wird damit das Kriterium »politische Konvergenz« eingeführt, das in Europa nicht zuletzt nach dem Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zusätzlichen Schub erhalten hat. Damit wird das Entstehen eines neuen Handelsblocks in den Blick genommen, der sich aus ordnungspolitisch konvergenten und demokratisch verfassten Staaten zusammensetzen würde. Für die Lieferketten-Governance heißt das, dass eine weitere, und zwar stark geopolitisch motivierte Facette in die breitere Diskussion über geographisch angelegtes »re-shoring« (Rückverlagerung ins eigene Land) eingebracht wird, die bislang eher neutral auf Diversifizierung abzielte. Dies gilt in besonderem Maße für als strategisch angesehene Sektoren wie die Luft- und Raumfahrt, die Automobilindustrie, den Elektronik-Sektor und medizinische Geräte sowie Medikamente, aber auch für mineralische, energetische und agrarische Rohstoffe und deren Weiterverarbeitungsstufen.
Mit Yellens Vorschlag wird die bisher auf die operative Sicherheit von Lieferketten konzentrierte Debatte um die geopolitisch motivierte Dimension »Vertrauenswürdigkeit von Lieferpartnern« erweitert. Den bis dato diskutierten Kriterien Effizienz, Nachhaltigkeit und Resilienz von Lieferketten wird also das Merkmal »politische Konvergenz« im oben skizzierten Sinne hinzugefügt. Die damit angestrebte Umsteuerung in der Ansiedlungspolitik und der »Länge« von Lieferketten zeitigt indes hohe finanzielle Kosten und bedarf gerade bei komplexen Lieferketten eines beachtlichen zeitlichen Vorlaufs. So wird geschätzt, dass sich das Volumen jener 25 Prozent der weltweiten Liefer- und Warenströme, die in den nächsten fünf Jahren möglicherweise in neue Länder verlagert werden könnten, auf bis zu 4,6 Billionen Dollar jährlich beläuft. Die damit verbundenen unternehmerischen Entscheidungen müssen dann allerdings immer stärker politische Vorgaben berücksichtigen, denen man bislang so weit wie möglich entgehen wollte. Denn die Rentabilitätsbewertung von »friend-shoring« ist eine strategische Neuorientierung, die mit weitgehender Auflösung des Geflechts herkömmlicher Lieferkettenarrangements einhergehen könnte. Das ist nur mit hohem Zeit- und Kostenaufwand zu erreichen.
Konkret bedeutet dies, dass die Gestaltung von Lieferketten die einfache Logik des bisherigen »off-shoring« (Verlagerung der Produktion ins Ausland) hinter sich lassen würde. An ihre Stelle müsste eine flexible Mischung aus Komponenten des »near-shoring« (Ansiedlung im engeren Nachbarschaftsbereich), »re-shoring« und »friend-shoring« treten. Je nach Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren und -standorten hätte diese Mischung eine modulare Neukonfiguration der verschiedenen Segmente einer Lieferkette zur Folge. Hierfür ist es unabdingbar, die Instrumente und ihre Bedeutung aus strategischer und operativer Sicht einzuordnen. Das können Staat und Unternehmen nur gemeinsam leisten. Endpunkt des Bestrebens, »sichere« Lieferketten aufzubauen, wäre dann eine geopolitische Neuordnung der Welt, die hinsichtlich strategischer Güter und Dienstleistungen in »Nord-Nord«- und »Süd-Süd«-Lieferketten gespalten wäre. In dem Falle wären Versuche an der Tagesordnung, einzelne Länder in das jeweilige Lager zu ziehen, um die eigenen Chancen zu erhöhen.
Allerdings ist zu fragen, inwieweit ein solches Raster angesichts der geographischen Verteilung von Rohstoffen in der Welt tragfähig ist. Zu erwarten ist, dass eine solche Logik eine massive Störung von Handelsflüssen nach sich zöge. Die Folge wären enorme Preissteigerungen für die Konsumenten.
Die operative Ausgestaltung politischer Konvergenz
Mit dem Vorschlag des »friend-shoring« geraten auch die Lieferketten in den Sog der Großmachtkonkurrenz und der Teilung der Welt zwischen marktwirtschaftlichen Demokratien und Ländern, die mit den autoritären Regimen Chinas oder Russlands im Bunde stehen. Zentrales Motiv, sich für »friend-shoring« zu entscheiden, ist das Streben nach größerer Unabhängigkeit von Zulieferern, deren autokratische Ausrichtung die Gefahr politischer Erpressbarkeit und wirtschaftlichen Zwangs birgt. Wird die »Interdependenzverwundbarkeit« gemindert, werden – so hofft man – die Lieferketten robuster und deren Teilnehmer weniger erpressbar. Letztlich handelt es sich um ein Mittel, um globale Lieferketten vor externen Störungen oder wirtschaftlichem Zwang zu schützen. Das ehrgeizige Vorhaben der EU, 43 Milliarden Euro in die Halbleiterindustrie zu investieren, oder das US-amerikanische CHIPS-Gesetz zur Ankurbelung der heimischen Produktion gehen eindeutig auf »re-shoring«-Pläne zurück. Angesichts fehlender Rohstoffverfügbarkeiten, der Abhängigkeit von Importen und teurer Arbeitskosten taugen solche Unterfangen jedoch nur begrenzt zur Nachahmung. Hier führt kein Weg an China vorbei, das bei weitem bedeutendste Land in der Textil- und Elektronikindustrie und bei der Weiterverarbeitung wichtiger Rohstoffe. China konnte seine Position auf der vorgelagerten Produktionsstufe in der Kraftfahrzeug- und Textilindustrie ebenso ausbauen wie bei der Verarbeitung von Rohstoffen und der Verfügung über Seltene Erden. Die Kehrseite ist eine negative Bilanz bei der Beachtung der Menschenrechte.
Indes ist unklar, wie weit ein Umbau im Sinne von »friend-shoring« reichen soll: Geht es nur darum, die Unternehmen zu ermutigen, ihre Produktion vorwiegend in Ländern dieser »vertrauenswürdigen« Gruppe anzusiedeln? Oder soll diese Vorgehensweise nach dem »strategischen« Wert bestimmter Güter und Dienstleistungen gestaffelt werden? Wie kann politische Konvergenz als Kriterium handhabbar gestaltet werden? Hier sind Konflikte programmiert: Die Unternehmen streben nach Effizienz und Skaleneffekten, während die politischen Entscheidungsträger nun der Sicherung wichtiger Versorgungsgüter und dem Zugang zu ihnen Vorrang einräumen. Aber welches Gewicht haben Demokratie, Menschenrechte und Nachhaltigkeit bei der Beurteilung »vertrauenswürdiger« Staaten? Einseitige Zuordnungen führen hier nicht zum Ziel. Stattdessen bedarf es bei den Staaten, die dem »friend-shoring«-Konzept folgen wollen, einer ausgewogenen Interessenbewertung, die alle Kriterien von Nachhaltigkeit in den Blick nimmt. Dies gilt auch im weltweiten Maßstab mit Blick auf mögliche Profiteure der Produktionsverlagerungen und Arbeitsplatzverschiebungen.
Doch die Zeichen stehen klar auf Wandel. So zeigt der jährliche Reshoring-Index der Unternehmensberatung Kearney für das Jahr 2021, dass nur 8 Prozent der befragten Führungskräfte des verarbeitenden Gewerbes in den USA keine Verlagerung in Erwägung gezogen haben. Dagegen haben 47 Prozent in den letzten drei Jahren bereits Verlagerungen vorgenommen, und 29 Prozent planen dies in den nächsten drei Jahren – und das, obwohl die Umfrage noch vor der Ukraine- und Energiekrise stattfand.
So wollen die USA ihre Abhängigkeit von autoritären Regimen wie China bei essentiellen Produkten verringern, vor allem Seltenen Erden, Elektronik wie etwa Halbleitern und anderen militärisch verwendbaren Gütern. Dafür suchen sie eine intensivere Zusammenarbeit mit Südkorea und Japan. In Europa wiederum wird versucht, sich von den russischen Lieferanten unverzichtbarer Rohstoffe abzukoppeln, besonders von Energieträgern, Getreide und Düngemitteln.
Problematisch ist allerdings, wenn alle westlichen Staaten bei der Suche nach »vertrauenswürdigen« Kandidaten gleichzeitig ihren Blick auf Indonesien, Malaysia, Vietnam und andere Länder im indopazifischen Raum, auf Bulgarien, Rumänien und die Mittelmeeranrainerstaaten im europäischen Raum richten. Es ist wenig erfolgversprechend, wenn Produktionsstätten, Arbeitsplätze und Investitionen auf breiter Front in diese Länder verlagert werden. Zwar würde damit eine gewisse Diversifizierung der geographischen Konzentration globaler Lieferketten erreicht. Nicht gesichert ist jedoch, dass sie auf diese Weise resilienter gegenüber externen Ereignissen werden. Viele Transportwege wären weitgehend identisch und könnten durch dieselben Krisenereignisse wie Wirbelstürme, politische Blockaden oder Engpässe im Suezkanal massiv beeinträchtigt werden. Politische Risikofaktoren bei den neuen Diversifizierungspartnern in Südostasien werden damit ebenso wenig beseitigt wie die regionale Hegemonierolle Chinas. Werden operativ und sozial robuste Produktionszyklen geschaffen, muss dies in eine stärker politisch motivierte Orientierung am westlichen Wertekanon und an der Umsetzung entsprechender Verhaltensnormen eingebettet werden, um unternehmerisches Verhalten neu auszurichten. Zudem ist die Einteilung bestimmter Staaten als »vertrauenswürdig« nicht stabil über die Zeit. Dieses Schwarz-Weiß-Denken geht überwiegend an den Realitäten der Handels- und Wirtschaftspolitik vorbei und ignoriert die dort eher vorherrschenden Grautöne.
Dennoch gewinnt dieses Denken in der Politik weiter an Boden. Hier ist auch die Verbindung zu dem globalen Investitionsprogramm für Infrastruktur anzusiedeln, das die G7 auf ihrem Gipfel auf Schloss Elmau Ende Juni 2022 verkündete. Es soll knapp 600 Milliarden US-Dollar für die nächsten fünf Jahre umfassen. Aufbauend auf strategische Investitionen der G7 in die globale Infrastruktur wird das »friend-shoring« ergänzt. Auf diese Weise wird der chinesischen Belt-and-Road-Initiative ein westlich inspiriertes Alternativprogramm entgegengesetzt, das wirtschaftliche und politische Stärke beweisen und Chinas Pläne wirksam eindämmen soll.
Der geopolitische Umbau von Lieferketten
Mit der Forderung nach politischer Konvergenz bei der Gestaltung von Lieferketten verlagert sich der Blick – gerade unter dem Gesichtspunkt kritischer Rohstoffe – auf die Produzentenseite in der Lieferketten-Governance. Nachverfolgbarkeit (»tracking and traceability«) und Auditing hingegen werden an Bedeutung verlieren. Da die Versorgung mit Vorleistungen und Vorprodukten aus dem Ausland nicht mehr gewährleistet oder erwünscht ist, steht eine Reorganisation der Produktion in vielen industriellen Sektoren und landwirtschaftlichen Versorgungswegen auf der Tagesordnung. Die geographisch weit gestreuten Fertigungsschritte, die durch günstige Transportkosten erleichtert wurden, scheinen sich zunehmend als Nachteil zu erweisen. Das liegt daran, dass die Zuverlässigkeit von Lieferungen und Lieferanten in Frage steht und gleichzeitig eingespielte logistische Verbindungen durch Engpässe in Häfen und Einschränkungen an bestimmten Produktionsstätten beeinträchtigt sind, etwa durch Covid-19-Ausbrüche.
Die zahlreichen ökonomischen Transaktionen und Zwischenschritte bei der Produktion von Gütern machen es notwendig, das Verhältnis zwischen privatwirtschaftlichen Entscheidungen und Steuerung durch die öffentliche Hand neu zu ordnen. Dies gilt besonders für die Frage, an welchen Orten Produktionsanlagen künftig sicher und berechenbar betrieben werden können und sollen, aber auch für mögliche Antworten auf die Einstufung der produzierten Güter und Dienstleistungen als strategisch wichtig für die jeweilige Ökonomie. Hier spielen führende Unternehmen (»lead firms«) eine ausschlaggebende Rolle, die sich auch auf die weitreichende Gestaltung internationaler Produktionsnetzwerke erstreckt. Sie nehmen Einfluss auf die Eckwerte einer wirtschaftlichen Transaktion, also auf Preis, Volumen, Anzahl der Lieferanten, deren Qualifikationen oder Eigenschaften, welche die Lieferanten jenseits der Frage des Preises aufweisen sollten, etwa Qualitäts-, Arbeits- und Umweltstandards.
Dies wird sich zwischen produzenten- und käufergesteuerten Lieferketten unterschiedlich darstellen: »Lead firms« sind stärker im Segment produzentenzentrierter Lieferketten präsent, also in jenen kapitalintensiv operierenden Sektoren wie zum Beispiel der Automobilindustrie, in denen hohe technologische Anforderungen und Kapitalausstattung als die wichtigsten Haupteintrittsbarrieren wirken und den Status der großen Hersteller stärken. Produzentenzentrierte Lieferketten zeichnen sich daher durch hohe vertikale Integration aus. Käuferzentrierte Lieferketten dagegen, etwa in der Landwirtschaft oder der Bekleidungs-, Schuh- und Spielzeugfertigung, sind durch arbeitsintensive Sektoren mit unabhängigen Auftragnehmern charakterisiert. Dort bilden Marktinformationen, Produktdesign sowie Marketing und Werbung die Eintrittsbarrieren.
Beiden Modellen liegt eine Logik des »outsourcing« zugrunde, um kosten- bzw. arbeitsintensive Segmente des Produktionsprozesses in andere Weltregionen auszulagern. Zwar wird in der wissenschaftlichen Debatte die Unterscheidung zwischen produzenten- und käufergesteuerten Lieferketten weitgehend als überholt angesehen, da man heute eher von modular organisierten Lieferketten spricht. Unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit aus strategischer Perspektive erhält diese Differenzierung indes eine neue Bedeutung: Bei der Reorganisation der Lieferketten im Zeichen ihrer geopolitisch motivierten Ausrichtung muss geklärt werden, wie zentrale Fertigungsabschnitte neu aufgebaut und regional angesiedelt werden müssen, um den nationalen Versorgungsinteressen Rechnung tragen zu können.
Damit geraten unmittelbar jene Akteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die eine weitreichende Steuerungs- und Koordinationsfunktion in den Lieferketten besitzen, also die »lead firms« mit ausgeprägter Marktmacht. Entscheidungen oder Vereinbarungen, die an der Schnittstelle zwischen dem führenden Unternehmen und dem erstrangigen Zulieferer getroffen werden, haben Ausstrahlungseffekte auf oder umfassendere Folgen für ein breites Spektrum von Akteuren, die den unmittelbaren Zulieferern vorgelagert sind. Die führenden Unternehmen sind nun in erster Linie gefragt, ihre strategische Lagerhaltung neu zu konzipieren, also ihre Lagerbestände als zusätzlichen Puffer aufzustocken. Zudem sind sie darum bemüht, mögliche Lieferengpässe durch eine länderübergreifende Diversifizierung ihrer Produktionsstandorte zu verringern und die Flexibilität zu erhöhen, indem sie die Substituierbarkeit von Vorleistungen verbessern. Mit solchen Maßnahmen sind allerdings immer auch politische Einschätzungen über die Gastländer verbunden. Für ihre Tätigkeit dort erwarten die Unternehmen nun Leitlinien der Politik. Um die Lebensfähigkeit der globalen Lieferketten zu erhalten, sind daher neue Formen der Abstimmung zwischen öffentlichem und privatem Sektor vonnöten.
Die Orchestrierung von Lieferketten-Governance
»Lieferkettensouveränität« ist zum zentralen Stichwort der Debatte geworden, Diese hat sich über die vorausgehenden Überlegungen hinausbewegt, technische Souveränität durch Abkopplung von China (»decoupling«) zu erlangen. Damit hat sich die Stoßrichtung der Diskussion umgekehrt: Haben sich die Unternehmen bislang gegen staatliche Interventionen in Lieferketten durch Verordnungen und Gesetze gewehrt, rufen sie heute nach staatlichen Vorgaben, um robuste Produktionsprozesse organisieren zu können. Insoweit sind sie Opfer ihrer eigenen Entscheidungen geworden, bei denen sie sich nur an Kosteneffizienz orientierten und dabei auch bereit waren, Umwelt- und Sozialkosten zu Lasten der Produzentenländer zu externalisieren. Wurden bisher europäische oder deutsche Regulierungen von Sorgfaltspflichten als unbotmäßiger Eingriff verstanden, ist jetzt staatliche Unterstützung und Übernahme von Garantien beim Umbau von Lieferketten gefragt.
In die Suche nach mehr Autonomie mischt sich die Erwartung möglicher Autarkiegewinne. Doch diese unterschwellige Debatte führt in die Sackgasse, da es letztlich um die Frage geht, welche Risikoeinschätzung über die Zuverlässigkeit von Lieferanten zugrunde gelegt wird. Dabei gilt es die komplexe Struktur von Lieferketten ebenso zu berücksichtigen wie ihren kaskadenartigen Aufbau über mehrere Stufen. Auf der Tagesordnung stehen daher auch operative Fragen, zum Beispiel eine eventuelle Verkürzung von Lieferketten, ihre stärkere vertikale Integration durch Aufkauf von Zulieferbetrieben und größere Bevorratung von Gütern.
Die Orientierung an Kapitaleffizienz hatte viele Unternehmen dazu bewegt, Aufträge an Subunternehmer zu vergeben (»subcontracting«). Für viele Hersteller haben geringe Produktionskosten Priorität. Damit nicht vereinbar ist der Aufwand für mehrfache Anlageninvestitionen und für die Herausforderungen, die sich aus der Verteilung der Produktionsauslastung auf mehrere Standorte ergeben. Unternehmen haben den Eingriff staatlicher Instanzen in betriebliche Belange oft scharf zurückgewiesen. Doch gerade die Beseitigung von Schwachstellen bei Logistik, Versorgungssicherheit und Sorgfaltspflichten zwingen nun zum Umsteuern. Das Kriterium »politische Konvergenz« erfordert es, die Lieferketten-Governance zwischen Staaten und Unternehmen zu »orchestrieren«. Das kann von neuen Handelsverträgen bis hin zur Schaffung einer »Börse für vertrauenswürdige Lieferanten« reichen. Hinzu kommt die Frage der Kostenübernahme: Viele Entscheidungsträger sind skeptisch, ob Unternehmen oder Verbraucher wirklich bereit sein werden, die höheren strukturellen Kosten der Produktionsverlagerungen und Reibungskosten bei der Umstellung von Lieferketten zu tragen.
Die Verlagerung an neue Produktionsstandorte lässt sich vor allem mit jenen führenden Unternehmen orchestrieren, die in produzentengesteuerten Lieferketten hohe Gestaltungskapazität und Optionen für schnelles Handeln besitzen, um sich im Sinne robusterer Lieferketten neu zu orientieren – soweit es sich um strategische Produkte bzw. strategische Segmente einer Lieferkette handelt. Da diese »lead firms« die Knotenpunkte in einer Lieferkette kontrollieren, besitzen sie bedeutende Hebelwirkung für die gesamte Gestaltung der Beziehungen innerhalb der Kette.
Zwar haben jüngste Studien nachgewiesen, dass solche Multistakeholder-Verfahren unter Beteiligung von Staat(en), Unternehmen und Zivilgesellschaft nicht per se effektiver bei der Durchsetzung von Standards sind, aber weit höhere Legitimität genießen. Dies gilt nicht zuletzt hinsichtlich der Repräsentation von Produzenten und Nichtregierungsorganisationen aus dem Globalen Süden, die unverzichtbar sind für die lokale Umsetzung von Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards. Hier gilt es darauf zu achten, wie die »lead firms« anfallende Kosten verteilen werden. Studien verweisen darauf, dass sie diese oftmals in vorgelagerte Betriebe verschieben. Das belastet besonders kleine und mittlere Unternehmen und informelle Produzenten in den Lieferländern, sodass viele von ihnen aus der Lieferkette ausscheiden müssen. Weder ist dies entwicklungspolitisch sinnvoll, noch werden es die Regierungen der betreffenden Lieferländer dauerhaft tolerieren. Gewiss können Resilienz- und Konvergenzkosten nur begrenzt durch staatliche Subventionen aufgefangen werden. Stattdessen sollte man sich auf die Erfolge konzentrieren, welche die Orchestrierung durch »lead firms« und Staaten, die flankierende Maßnahmen ergreifen, gezeitigt hat. Dies könnte auch andere Branchen zu einem ähnlichen Vorgehen anspornen.
Die Orchestrierung der Lieferketten-Governance erfordert eine Fülle von Prozess- und Strukturveränderungen, die in und zwischen den Unternehmen möglichst rasch in Angriff genommen werden müssen. So geht es etwa darum, strategische Güter selektiv gegen konkret erkannte Ausfallrisiken abzusichern, indem man die Lagerbestände erhöht. Zudem ist es bisweilen ratsam, wenn Unternehmen Zulieferbetriebe aufkaufen. Die Absicherung gegen Lieferausfallrisiken und die Bewertung von Transportsicherheit stehen ebenso an wie die unternehmerische Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards sowie die Bestimmung von Service- und Garantie-Anteilen der Lieferanten.
Letztlich reicht all dies bis zu ordnungspolitischen Fragestellungen, die auch den Grad der Konzentration in einer Branche erfassen. Daraus wird schon erkennbar, dass mit größeren Koordinationsproblemen und höheren Transaktionskosten zu rechnen ist, wenn eine Orchestrierung erfolgreich sein soll. Anzusprechen sind dabei jene Firmen, die in ihren Märkten eine dominante Rolle einnehmen. Das sind zum Beispiel große Supermarktfilialisten, Pharmakonzerne, Rohstoffhandelshäuser, aber auch Saatguthersteller.
Immer mehr führende Unternehmen sind in Ländern des Globalen Südens angesiedelt. Dort sind gegenwärtig Anstrengungen zu verzeichnen, nationale Rohstoffkonzerne in staatlicher Hand zu gründen, um die Vorstellungen der betreffenden Länder von Souveränität und politischer Autonomie zu unterstreichen. Damit dürfte es schwieriger werden, sektorspezifische und politische Standards durchzusetzen, da Themen des Handelsrechts und der Vorwurf von Handelsbeschränkungen durch Sorgfaltspflichtenregelungen an politischer Brisanz gewinnen. Für eine Aushandlung mit diesen »lead firms« wird damit sehr viel stärker die zwischenstaatliche Ebene gefragt sein, um das Handeln von Unternehmen politisch zu flankieren. Hier ist eine Abschätzung entsprechend der strategischen Bedeutung des jeweiligen Sektors oder Segments zu treffen, da einheitliche Regelungen eher die Ausnahme bilden dürften. Damit erhalten Verfahren, die sich an lokaler »ownership« orientieren, größere Bedeutung als klassische Instrumente, die von Compliance-Anforderungen geleitet sind. Diese Ausrichtung ist nicht zuletzt eine Folge dessen, dass einzelne Länder des Globalen Südens untereinander neue regionale Lieferketten vereinbaren, die nach eigenen Standards gestaltet sind.
Die politische Lieferketten-Geographie und die Lieferkettengesetzgebung
Bei der räumlichen Neuordnung von Lieferketten gemäß dem Kriterium »politische Konvergenz« muss die Geographie von Produktion, Transport und Konsum neu abgesteckt werden. Es ist davon auszugehen, dass unter den Maximen »friend-shoring« und Versorgungssicherheit diese Räume näher zusammenrücken und Knotenpunkte neu konfiguriert werden müssen. Beim Umbau der Lieferketten dürfte ein globaler Wettbewerb um günstige Lohnkosten, geeignete Produktions- und Transportinfrastrukturen und steuerliche Anreize erneut eine wichtige Rolle spielen. Je stärker Lieferketten in den Schatten der Großmachtkonkurrenz geraten, umso schwächer sind ihre ökonomischen Bestimmungsfaktoren ausgeprägt. Die »Politisierung« von Lieferketten nimmt dabei unterschiedliche Dimensionen an: Unsicherheit und Risikofaktoren geraten deutlicher ins Bild, da sie massive Folgen für wirtschaftliches Handeln und politische Stabilität haben. Vorgaben für geeignete Partner(strukturen) werden gesetzt werden, sei es im Rahmen von Rohstoffpartnerschaften, bei der Bildung neuer Konsortien sowie in puncto Akzeptanz zentraler Regelwerke und Standards. Die Verteilung der Kosten geopolitisch motivierter Neuordnung von Lieferketten ist ein Hauptdiskussionspunkt, der zwischen Staat(en) und Unternehmen geklärt werden muss.
Einen ersten gemeinsamen Versuch der Koordination internationalen Handelns haben im Juni 2022 zehn westlich orientierte Staaten und die EU mit der Minerals Security Partnership (MSP) unternommen. Sie will sicherstellen, dass kritische Mineralien wie Kobalt, Lithium und Nickel in einer Weise gewonnen, verarbeitet und recycelt werden, die es den Mitgliedsländern ermöglicht, ihre geologischen Ressourcen gemeinsam mit »befreundeten« Staaten zu nutzen. Bei diesem Zusammenwirken sollen mit Hilfe öffentlicher und privater Infrastrukturinvestitionen robuste und verantwortliche Lieferketten (»responsible supply chains«) im Rohstoffbereich aufgebaut werden, die auch den Ansprüchen des Green Deal genügen.
In der MSP werden Produktion, Verarbeitung und Recycling der kritischen Rohstoffe miteinander verknüpft. Zudem sind mit Australien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Japan, Kanada, Südkorea, Schweden, dem Vereinigten Königreich und den USA sowohl rohstoffarme als auch rohstoffreiche Staaten vertreten. Aus diesen Gründen könnte sich zwischen den genannten Ländern durch Lieferketten ein Block bilden, der sich dem »friend-shoring«-Konzept stark annähert. Damit käme diese Lieferkette ohne Beteiligung Chinas aus, das bislang weltweit eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung der oben erwähnten Rohstoffe spielt. Der Aufbau einer solchen durchgängigen Lieferkette vom Abbau über die Herstellung bis zum Recycling wäre damit ein erster Schritt zur Neuordnung globaler Lieferketten nach westlichen Standards, bei der die Klimaziele beachtet würden und eine sichere Versorgung mit kritischen Rohstoffen garantiert wäre. Entscheidend dürfte sein, ob die Kooperationsbereitschaft der beteiligten Staaten groß genug ist, um diesen Schritt der geopolitischen Abgrenzung von Lieferketten auch wirklich zu vollziehen.
Bis dahin werden auch weiterhin nationale Wege beschritten werden, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dabei sollten jedoch die Prioritäten nicht gänzlich verschoben werden. Angesichts der Rohstoffverknappung und der damit verbundenen Neustrukturierung der Lieferketten wurden bereits Forderungen laut, die Lieferkettengesetzgebung auszusetzen. Dies aber entspräche nicht dem Bedarf einer Neuorientierung der politischen Geographie der Lieferketten. Auch diese nämlich muss sich an der Integration der gesetzlichen Anforderungen in die Geschäftsprozesse der Unternehmen und an der Reduzierung menschenrechtlicher Risiken ausrichten. Es muss verhindert werden, dass verschiedene Regelungsansprüche im Zielviereck von Effizienz, Nachhaltigkeit, Resilienz und politischer Konvergenz gegeneinander ausgespielt werden. Gerade in Zielkonflikten zwischen den unterschiedlichen Anforderungen muss sich die Unternehmensverantwortung bewähren. Andernfalls sind erhebliche Verwerfungen wirtschaftlicher und politischer Art zu erwarten. Hier gilt es den »stakeholder value« sichtbar werden zu lassen, der in komplexen Strukturen wie Lieferketten besonderes Gewicht besitzt. Auf dem Weg der Inwertsetzung dieses Potentials wird die Politik die Wirtschaft allgemein und einzelne Unternehmen begleiten müssen, wenn der Umbau der Lieferketten erfolgreich sein soll.
Letztlich werden sich aber nur in begrenztem Umfang einheitliche Blöcke im Sinne der MSP bilden lassen. Die Komplexität der Gestaltung geopolitisch »sicherer« Lieferketten dürfte zudem durch Vorgaben des Wettbewerbs- und Handelsrechts wachsen.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird.
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DOI: 10.18449/2022A45