Der Schutz der Arktis, die nachhaltige Entwicklung und die internationale Zusammenarbeit: an diesen drei Prinzipien hat sich die Arktispolitik der Europäischen Union (EU) in den einschlägigen Mitteilungen der Kommission 2008 und 2016 orientiert. Aufgrund ihres langjährigen Engagements und einer Vielzahl von Projekten in der Arktis, für die diese drei Prinzipien maßgeblich sind, ist die EU bereits ein arktischer Akteur, auch wenn sie im Arktischen Rat keinen formellen Beobachterstatus hat. Darüber hinaus sind drei EU-Staaten – das Königreich Dänemark, Finnland und Schweden – Mitglieder dieses Rates. Island und Norwegen sind Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums und beteiligen sich am EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation.
Während die ersten beiden Prinzipien hoch relevant bleiben, fehlt im internationalen Kontext eine sicherheitspolitische Komponente. Sie ist wegen der zunehmenden geopolitischen Bedeutung der Arktis notwendig geworden. Diese Komponente sollte daher in die neue EU-Arktisstrategie integriert werden, die zurzeit in Brüssel erarbeitet wird, nachdem zwischen Juli und November 2020 eine öffentliche Befragung dazu stattgefunden hat. Die maritime Sicherheit bietet ein bewährtes und geeignetes Feld für ein stärkeres Engagement der EU in der Arktis.
Die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels stellen alle Arktisstaaten und die Beobachterstaaten im Arktischen Rat vor große Herausforderungen, denen sie in ihren jeweiligen Arktisstrategien zu begegnen suchen. Dabei ist es laut einer Mitteilung der EU-Kommission vom April 2016 »wichtiger denn je, dafür zu sorgen, dass die Arktis weiterhin ein Raum des Friedens, des Wohlstands und der konstruktiven internationalen Zusammenarbeit bleibt.« Wie dies konkret erreicht werden soll, das wird in der Mitteilung allerdings nicht ausgeführt.
In den letzten drei Jahren haben zahlreiche Staaten – und in einem Land zusätzlich Ministerien und Teilstreitkräfte – neue Dokumente veröffentlicht, in denen sie ihre Strategie für die Arktis darlegen. Im Jahr 2019 haben Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika – die USA gleich dreifach mit Marine, Küstenwache und Pentagon – sowie Deutschland und Kanada neue bzw. aktualisierte Arktisstrategien vorgelegt. Ein Jahr später folgten US-Luftwaffe, Russland, Schweden, Norwegen und Polen. Im Januar 2021 gaben US-Marine und US-Marinekorps gemeinsam ein Strategiedokument heraus, gefolgt vom US-Heimatschutzministerium. Indien stellte den Entwurf einer Arktisstrategie im Internet zur Diskussion; im Laufe dieses Jahres werden voraussichtlich Dänemark, Finnland und die Schweiz folgen. Die EU-Kommission plant, im Herbst eine neue Politik für die Arktis zu präsentieren.
Die ungewöhnlich große Zahl von Strategiepapieren ist an sich schon bemerkenswert. Die bislang veröffentlichten Dokumente unterscheiden sich zudem wesentlich von früheren Arktisstrategien, indem sie (außer im Falle Indiens) erstmals oder verstärkt sicherheitspolitische Risiken betonen. Ein Grund dafür sind militärische Aktivitäten Russlands, die zwar aus Sicht des Kremls folgerichtig sein mögen, unter Arktisstaaten aber zu einer Verunsicherung geführt und ein Sicherheitsdilemma erzeugt haben. Außerdem ist ungewiss, inwieweit die chinesisch-russische Zusammenarbeit auch in der Arktis militärisch wirksam werden wird. Russland wird im Mai 2021 bei der Ministersitzung in Reykjavik den Vorsitz im Arktischen Rat übernehmen, dann wird es sich auch mit dem entstandenen Konfliktpotential auseinandersetzen müssen.
Wachsende sicherheitspolitische Bedeutung der Arktis
Alle Arktisstaaten wollen, dass die Arktis ein Gebiet bleibt, in dem Frieden, Stabilität und ein geringes Maß an Spannungen herrschen und so viel Zusammenarbeit wie möglich gepflegt wird. Das Risiko einer Eskalation von Konflikten in der Arktis ist nach wie vor gering, besteht aber durchaus. Viele militärische Aktivitäten und Rüstungsprojekte Russlands können auf dessen Selbstverständnis als Großmacht, die Absicherung wirtschaftlicher Interessen und den Wunsch nach einem Verhältnis auf Augenhöhe mit den USA und der Nato zurückgeführt werden. Dabei bildet die Arktis ein wichtiges Element in Moskaus Gesamtstrategie, das dort aber selbst ein Anwachsen des Konfliktpotentials erkannt hat.
Trotz seiner aggressiven Rhetorik und Verhaltensweise sind Russlands strategische Ziele in der Region prinzipiell defensiv ausgerichtet. Moskau hat es jedoch versäumt, durch Transparenz und Vertrauensbildung um Verständnis für seine Arktispolitik zu werben. So wird Russland denn auch als aggressive Militärmacht wahrgenommen, die auf die Sicherheitsinteressen anderer Staaten keine Rücksicht nimmt. Arktische Nachbarländer reagieren darauf, indem sie aufrüsten und sich auf Konflikte vorbereiten, die eskalieren könnten. Die Lage hat sich in den letzten zehn Jahren insofern fundamental geändert.
Noch 2011 hatte Schweden in seiner Strategie für die Arktis konstatiert, dass die gegenwärtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen keinen militärischen Charakter hätten. Vielmehr sei im bilateralen wie im multilateralen Kontext die Bedeutung eines umfassenden Konzepts von Sicherheit hervorzuheben, zivile Instrumente seien zu bevorzugen. Im neuen Strategiepapier vom November 2020 wird nun die Notwendigkeit von Frieden und Stabilität ebenso betont wie eine »neue militärische Dynamik in der Arktis«. In den Leitlinien der deutschen Arktispolitik vom August 2019 war bereits ein ganzes Kapitel der sicherheitspolitischen Dimension gewidmet und forderte Berlin »eine intensivere Befassung von EU und Nato mit den sicherheitspolitischen Implikationen der Arktis«. Die französische Verteidigungsministerin Florence Parly erkannte 2019 als neue große Herausforderung einen verstärkten Wettbewerb zwischen Staaten in der Region, der eines Tages zur Konfrontation führen könne. Im Vorwort des Strategiepapiers zitierte sie Michel Rocard, Frankreichs ehemaligen Premierminister und Botschafter für Arktis und Antarktis, der die Region mit dem Nahen Osten gleichsetzte. Einmal mehr werden an diesen Äußerungen geopolitische Veränderungen und Unsicherheiten deutlich, die aktuell die Lage kennzeichnen.
Eine neue EU-Arktisstrategie sollte sich daher auch der Sicherheitspolitik widmen. Für Brüssel bedeutet dies einen Balanceakt zwischen Arktis- und Nicht-Arktisstaaten, EU- und Nato-Staaten, Geopolitik und Geoökonomie, hohen Erwartungen und unzureichenden Fähigkeiten – all dies birgt eine ganze Reihe von Zielkonflikten.
Die EU wird in der Arktis gebraucht
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zu Beginn des neuen fünfjährigen institutionellen Zyklus der Europäischen Union eine »geopolitische Kommission« ausgerufen. Europa müsse die »Sprache der Macht lernen«, erklärte sie in ihrer Grundsatzrede am 8. November 2019 in Berlin. Das heiße auch, »eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten – etwa in der Sicherheitspolitik.« Aber Brüssel kann (und will) kein Gegengewicht zu einem schwächelnden Amerika, einem ambitionierten China und einem aggressiven Russland sein. Damit wäre die EU überfordert und bräuchte mehr – insbesondere militärische – Machtmittel, als derzeit politisch vertretbar und durchsetzbar ist. Momentan gilt: »Wir sind keine Anbieter von harter Sicherheit, und wir haben nichts, was an eine europäische Armee heranreicht«, erklärte der im April 2020 ernannte EU-Arktisbotschafter Michael Mann.
In Anbetracht der veränderten geopolitischen Lage kommt keine neue Arktisstrategie mehr umhin – wie jüngst am Beispiel Schwedens zu sehen –, auf sicherheitspolitische Risiken hinzuweisen und daraus Schlüsse zu ziehen. Welchen Beitrag kann und will die EU leisten, wenn sie gleichzeitig weiter auf multilaterale Kooperation setzen, Risiken dabei aber nicht verleugnen möchte?
Ein Fokus auf maritime Sicherheit entspricht gleichermaßen der Lage in der Arktis wie den Fähigkeiten der EU. Die in der EU-Strategie für maritime Sicherheit (EUMSS) verankerten Maßnahmen dienen dazu, gegen externe Einflussnahme resilient zu werden und Fähigkeiten auszubauen, die zum gemeinsamen Lagebild der Schifffahrt und des Flugwesens sowie der Weltraumfähigkeiten in und über der Arktis beitragen sollen. Hier hat die Arktis große Defizite, während die EU reiche praktische Erfahrung einbringen kann. Denn mit dem zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis sind vielfältige Risiken verbunden, die es einzudämmen gilt – das Spektrum reicht vom Eindringen gebietsfremder Fischarten, die den Umweltschutz betreffen, bis zum Eindringen ausländischer Fischfangflotten, die eine Herausforderung für die Küstenwache sind. In Fortschreibung der EU-Strategie 2016 gilt es daher, die maritime Sicherheit in höherem Maße zu gewährleisten.
So ist etwa zur Sicherung der Seeverkehrswege eine verbesserte Lageerfassung nötig (als ein entscheidender Baustein der EUMSS). Dabei ist die Kommunikationsabdeckung lückenhaft oder fehlt oft gänzlich. Die Folge ist, dass Such- und Rettungsteams derzeit gar nicht oder nur unzureichend bereitgestellt und geleitet werden können, wenn Schiffe und ihre Besatzungen in Not geraten. Gerät ein Schiff in der Arktis in Seenot, ist es daher in allergrößter Gefahr. Mit dem wachsenden Schiffsverkehr ist auch die Zahl der jährlichen Unglücksfälle in der Arktis von 28 (2007) auf 71 (2017) gestiegen; meistens war Maschinenschaden die Ursache. Weil zu wenig Einsatzkräfte und ‑mittel für Unglücksfälle verfügbar sind, findet weniger Vorsorge statt, sondern eher Risikomanagement.
Maritime Sicherheit erfordert eine Kombination weicher und harter Mittel, über die EU-Mitgliedstaaten in der Arktis zur Wahrung ihrer nationalen Souveränität durchaus verfügen – von gemeinsamen Normen bis hin zu Fähigkeiten für Satellitenüberwachung, Küstenschutz und Marineeinsätze. Dabei stellt sich allerdings das alte Problem der EU-Nato-Beziehungen: das Potential für eine Kooperation zur Gewährleistung der maritimen Sicherheit ist immer noch nur unzureichend benannt, geschweige denn abgestimmt und koordiniert. Eine positive Ausnahme ist das Baltic Maritime Component Command in Rostock, das sowohl (und vorrangig) der Nato wie auch der EU zur Verfügung stehen soll – mit Schwerpunkt auf Führung von Operationen im Ostseeraum und an der Nordflanke.
Eine zukunftsweisende Strategie auch gegenüber Russland
Soll die neue EU-Arktisstrategie ein realistischer Entwurf für die Zukunft sein, muss sie Russland gleichermaßen als Problem wie als Herausforderung berücksichtigen. In einigen Politikfeldern stimmen europäische und russische Interessen überein, wenn auch ihre Rangordnung unterschiedlich ist und mit Blick auf Ostukraine und Krim-Annexion bei jedem Engagement generell Zurückhaltung gilt. Bei einer Zusammenarbeit wäre Russland vor allem an Projektfinanzierung und Wissensaustausch in – politisch relativ unproblematischen – Umweltfragen interessiert. Auf seiner eigenen Agenda steht jedoch die nationale Sicherheitsvorsorge im Vordergrund. Wenn Russland im Mai 2021 den Vorsitz im Arktischen Rat übernimmt, genießen Energiewirtschaft und Militär daher traditionell Vorrang, während Umweltfragen eher nachrangig sind. Natürlich ist aber auch Russland an einem innovativen System für Such- und Rettungseinsätze interessiert und zu grenzüberschreitender Kooperation in Umweltbelangen bereit.
Die Europäische Union verfügt über ein breites Spektrum an regionalen Kompetenzen, Fachwissen und Initiativen, das als Rahmen für etwaige gemeinsame Projekte dienen kann. Ihre Beschlüsse und Aktivitäten haben außerdem direkte Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Arktis. Die EU ist nicht zuletzt ein wichtiger Abnehmer arktischer Produkte aus Energiewirtschaft und Fischerei.
Konkret könnte wiederum die maritime Sicherheit als bewährtes Feld für Kooperationen dienen – geeignete Beispiele sind Projekte wie ARCSAR (Arctic and North Atlantic Security and Emergency Preparedness Network), neue Projekte könnten sich dem Ausbau der Infrastruktur in der Arktis widmen. Da es gravierende Defizite in der Infrastruktur gibt, ist für international genutzte Seewege die Unterstützung der EU sinnvoll, klima- und umweltpolitisch können europäische Normen dabei von Nutzen sein. Eine zukunftsweisende Strategie sollte dies nicht nur für den an die russische Arktis grenzenden Raum und die Beziehungen zu Russland berücksichtigen, sondern auch für Grönland, dessen Projekt Unabhängigkeit in Zukunft neue maritime Vulnerabilität bei der Sicherung von Seeverkehrswegen und der notwendigen Infrastruktur entstehen lassen könnte.
Russland wird seinerseits versuchen müssen, das in seiner Arktisstrategie festgestellte wachsende Konfliktpotential in der anstehenden Präsidentschaft im Arktischen Rat zu verringern. Im Vorgriff auf den russischen Vorsitz wurde in den USA die Zusammenarbeit im Rahmen der Küstenwache und dem Arctic Coast Guard Forum (ACGF) thematisiert, die auszubauen wäre. Darüber hinaus könnte – als Ersatz für den 2014 eingestellten Dialog der Generalstabschefs oder als Vorstufe für dessen Reaktivierung – auf Expertenebene ein Dialog über militärische Sicherheit im hohen Norden aufgenommen werden. Dazu könnten die Empfehlungen des Expertendialogs Nato-Russland aufgegriffen werden, um später unter Umständen in der Arktis geltende militärische Verhaltensregeln festzulegen, die dann auch Maßnahmen zur maritimen Sicherheit enthalten könnten.
Der ehemalige finnische Premierminister Antti Rinne äußerte im Oktober 2019: »Es sollte mehr EU in der Arktis geben und mehr Arktis in der EU«, denn die EU habe der Region viel zu bieten. Die EU kann zur maritimen Sicherheit beitragen und sollte dazu eine arktisspezifische Konnektivitätspolitik (Digitalisierung, Navigation, Logistik, Transport) verfolgen. Sie wird aber auf absehbare Zeit kein arktischer Sicherheitsakteur werden, weil sie nicht über die dazu notwendigen militärischen Fähigkeiten verfügt. In diesem Sinne sollte die neue EU-Arktisstrategie mehr maritime Sicherheit und die EU-Globalstrategie mehr Arktis enthalten, indem sie eine konkrete Ausweitung des geopolitischen Rahmens vornimmt.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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