Als letzte große klimapolitische Initiative vor den Europawahlen hat die scheidende Europäische Kommission ihre Mitteilung für ein 2040-Ziel veröffentlicht. Mit ihrer Empfehlung eines 90%-Netto-Reduktionsziels im Vergleich zu 1990 schlägt sie erste strategische Pflöcke für die nächste Legislaturperiode ein. Dabei unterstreicht sie die zunehmende Bedeutung industriepolitischer Flankierung der Klimapolitik, besonders von Carbon-Management-Technologien. Zwar beginnt die Ausgestaltung der klimapolitischen Architektur für die Jahre 2031 bis 2040 erst nach den Europawahlen. Doch die Mitteilung zum 2040-Ziel gibt einen Vorgeschmack auf die politischen Herausforderungen, denen sich auch die Bundesregierung stellen muss.
Mit ihrer Empfehlung für ein ambitioniertes Minderungsziel für 2040 leitet die scheidende Kommission den Übergang zur nächsten Phase europäischer Klimapolitik ein. Ähnlich wie bei den Zielen für 2020 und 2030 beginnt damit die politische Planung und öffentliche Diskussion über das Ambitionsniveau und die notwendigen klimapolitischen Reformen bis 2040. Das ist ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur anvisierten Treibhausgasneutralität 2050.
Die Kommission betont, ihre 90%-Empfehlung folge dem Gutachten des neu eingerichteten Europäischen Wissenschaftlichen Beirats zum Klimawandel. Auch setze sie mit ihrer Empfehlung den derzeitigen Kurs in der Klimapolitik fort, verglichen mit einer theoretischen Fortschreibung der bereits eingesetzten, bis 2030 laufenden politischen Maßnahmen.
Noch sind die Ambitionen der Mitgliedstaaten zu gering, um das 2030-Ziel von 55% zu erfüllen. In ihrer Bewertung der nationalen Klima- und Energiepläne konstatierte die Kommission Ende 2023 großen Handlungsbedarf, unter anderem in Landwirtschaft und Verkehr. Zudem könne das 2030-Ziel nur erreicht werden, wenn die durchschnittliche jährliche Emissionsminderung des letzten Jahrzehnts verdreifacht wird. Diese Ambitionslücke bis 2030 wirft Fragen zur inkrementellen Weiterentwicklung auf. Politisch ist die Rahmung durch die Kommission nachvollziehbar. Sie deutet die nötige Ambitionssteigerung nur an und antizipiert so die klimapolitische Zurückhaltung in den Hauptstädten angesichts vieler anderer Krisen. Doch damit verstellt sie den Blick auf die politischen Herausforderungen bei der Umsetzung des 90%-Ziels.
Regulatorische Erfolge
Die Europawahlen im Juni 2024 läuten das Ende der Amtszeit der gegenwärtigen Kommission ein. Sie wird die Geschäfte voraussichtlich zum 1. November an das nachfolgende Kollegium übergeben. Die Kommission unter Ursula von der Leyen hat seit 2019 klimapolitisch tiefe Spuren hinterlassen: Im Rahmen des europäischen Green Deal bündelte das Programm »Fit for 55« die Vorschläge der Kommission, alle 2018 verabschiedeten Rechtsakte zur Erreichung des ursprünglichen 2030-Minderungsziels von 40% zu schärfen und auf das neue 2030-Ziel von 55% im europäischen Klimaschutzgesetz (Verordnung 2021/1119) auszurichten.
Die Verabschiedung zahlreicher Rechtsakte im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, und das während der Corona-Pandemie, des Ukraine-Krieges und hoher Inflation, gilt als Erfolg der Kommission. Die nach der Europawahl gestartete politische Initiative des europäischen Green Deal hat zu einer rechtsverbindlichen Ambitionssteigerung, zur Weiterentwicklung bestehender und zur Entwicklung neuer Instrumente geführt. Dazu gehören etwa die Ausweitung des bestehenden Emissionshandels auf die Schifffahrt, die Schaffung eines zweiten Handelssystems für Gebäude und den Straßenverkehr (ETS-II) sowie ein CO2-Grenzausgleichsmechanismus für die Sektoren Eisen und Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel, Elektrizität und Wasserstoff.
Diese Erfolge sprechen für die politische Belastbarkeit der Mehrheiten für eine ambitionierte Klimapolitik sowie für die Stabilität des bisher geschaffenen klimapolitischen Rahmens. Zudem belegen sie die Funktionalität des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens der EU. Wurde in anderen Politikfeldern wie Gesundheits- oder Energiepolitik weit mehr situativ und krisengetrieben agiert, ist die Klimapolitik stark durch die regelmäßige Fortschreibung bestehender Rechtsakte und Instrumente geprägt.
Gleichwohl zeigt die eingangs beschriebene Ambitionslücke, wie dringlich es ist, die bereits beschlossenen Ziele und Instrumente umzusetzen. In den kommenden Jahren sind Abschwächungsversuche und Blockaden durch einzelne Mitgliedstaaten oder ein anders zusammengesetztes Europäisches Parlament möglich. Daher sollten europäische und nationale Entscheidungsträger:innen die Absicherung des beschlossenen Ambitionsniveaus und Instrumentenmixes vorantreiben.
2040-Ziel: Neuer Zwischenschritt
Die im Klimaschutzgesetz vereinbarte Zeitschiene für das 2040-Zwischenziel sieht vor, dass die Kommission den Vorschlag sechs Monate nach der ersten weltweiten Bestandsaufnahme (Global Stocktake) im Rahmen des Abkommens von Paris vorlegt, die bei der COP28 im Dezember 2023 abgeschlossen wurde. Da diese Vorgabe mit den Europawahlen im Juni kollidiert, hat die Kommission beschlossen, zuerst die Mitteilung zu veröffentlichen und den Legislativvorschlag der nächsten Kommission zu überlassen.
Frühestens im ersten Quartal 2025 dürfte die neu zusammengesetzte Kommission sich auf einen Vorschlag verständigt und diesen veröffentlicht haben. Sie ist dabei weder an Ambitionsniveau noch Zieldesign aus der Mitteilung gebunden.
Führungsanspruch des Europäischen Rates
Wie bei der Festlegung der Ziele für 2020 und 2030 dürften die Staats- und Regierungschef:innen auch diesmal ihren Führungsanspruch deklarieren und versuchen, besonders den Einfluss des Europäischen Parlaments bei der Entscheidungsfindung zu begrenzen. Ähnlich wie bei der Festlegung des 55%-Ziels für 2030 könnten die Mitgliedstaaten die vorzeitige Meldung eines neuen EU-Klimaschutzbeitrags (Nationally Determined Contribution, NDC) unter dem Pariser Abkommen nutzen, um für das EU-Legislativverfahren Pflöcke einzuschlagen. Denkbar wäre ein NDC-Ziel für 2035, dessen Niveau einen Minderungswert von 90% bis 2040 unwahrscheinlich machen würde. Erste Absprachen und Weichenstellungen könnten bereits Teil der Sitzung der Staats- und Regierungschef:innen im Europäischen Rat Ende Juni sein, bei dem die Besetzung der Spitzenpositionen verhandelt wird.
Mit ihrer Empfehlung versucht die scheidende Kommission, für die Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten sowie für die anschließend im Europäischen Parlament mit neuer Sitzverteilung anstehenden Debatten thematische Prioritäten und ein Ambitionsniveau diskursiv zu verankern. Die Empfehlung zum 2040-Ziel ist also nicht nur eine Staffelübergabe an die neue Kommission, sondern auch ein Versuch, die voraussichtlich umkämpfte Entscheidung auf heute noch unbekanntem politischem Terrain vorzuspuren.
Die Zielempfehlung im Detail
Die Kommission empfiehlt, die Treibhausgasemissionen bis 2040 netto um 90% im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Mit dem Vorschlag eines Nettoziels setzt die Kommission den Paradigmenwandel fort, der mit dem »Fit for 55«-Paket vollzogen wurde, nämlich Emissionsminderungen und CO2-Entnahmen bei der Zielerreichung miteinander zu verrechnen. Ähnlich wie beim 2030-Ziel und als Reaktion auf Forderungen vieler Akteure aus Umweltverbänden, Parteien und Unternehmen schlägt sie vor, das Nettoziel in zwei Obergrenzen zu unterteilen: Um eine Netto-Reduktion von 90% zu schaffen, sollen 2040 noch maximal 850 Millionen Tonnen (Mt) CO2-Äquivalente emittiert werden (ohne Emissionen aus Landnutzung und Forstwirtschaft) und maximal 400 Mt an CO2-Entnahme aus der Atmosphäre zur Zielerreichung beitragen. Anteilig entspräche das einem Mindestreduktionsziel von rund 83% und einem CO2-Entnahmeziel von etwa 8% im Vergleich zu den Bruttoemissionen von 1990.
Ein wichtiger Unterschied zum 2030-Ziel ist, dass die vorgeschlagene Zielarchitektur neben der CO2-Entnahme im Landsektor auch die sogenannte industrielle CO2-Entnahme berücksichtigt. Das betrifft Technologien, bei denen CO2 zum Beispiel durch Abscheidung aus der Atmosphäre entnommen und dauerhaft gespeichert wird. Die Techniken Bioenergie plus CCS (BECCS) und Abscheidung aus der Umgebungsluft (Direct Air Capture plus CCS, DACCS) werden in den Szenarien der Folgenabschätzung schon bis 2040 im großen Maßstab eingesetzt. In einigen Szenarien werden etwa im Stromsektor schon 2040, spätestens aber 2050 netto negative Emissionen erreicht, um Restemissionen aus anderen Sektoren auszugleichen.
Neues Konfliktpotential
Die detaillierte Folgenabschätzung zeigt, dass es erheblicher Anstrengungen bedarf, um das 90%-Ziel zu erfüllen. Dazu zählen etwa ein dekarbonisiertes Energiesystem, ein Fokus auf Defossilisierung der Industrie und wesentliche Emissionsminderungen in der Landwirtschaft. Damit trifft die Ambitionssteigerung jene Sektoren, über die in den letzten Monaten in Parlamenten sowie bei Demonstrationen und Protestaktionen intensiv diskutiert wurden. Jüngst musste die amtierende Kommission mehrere ihrer Vorhaben in der Agrarpolitik abschwächen, nicht zuletzt wegen fehlender Mehrheiten innerhalb der Europäischen Volkspartei. Um die Gesamt-Minderungsziele einzuhalten, wird die nächste Kommission neue Maßnahmen zur Verzahnung von Klima- und Agrarpolitik vorantreiben müssen.
Ähnliches gilt für die Industrie: Nicht klimapolitische Ziele, sondern Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz einer krisengeschüttelten Industrie dominieren die politische Auseinandersetzung. Den politischen Gegenwind antizipiert die Kommission mit ihrem Vorschlag eines »Deals« für die Dekarbonisierung der Industrie als Teil ihrer Empfehlung. Nachdem der Net Zero Industry Act und die Förderplattform STEP (Strategic Technologies for Europe) hinter den von der Kommission geschürten Erwartungen zurückgeblieben sind, dürfte die industriepolitische Flankierung der Klimapolitik ein zentrales Handlungsfeld der nächsten Kommission bilden.
Carbon Management
Die Vorbereitungen für einen neuen Fokus auf Industriepolitik zeigen sich auch in einer parallel zur 2040-Zielempfehlung veröffentlichten Mitteilung zum Thema Carbon Management. Die prominente Rolle von Technologien zur Abscheidung und anschließenden Nutzung und Speicherung von CO2 bildet eine Schnittstelle zwischen Klima- und Industriepolitik, an die die Unternehmen und Wirtschaftsverbände ausgeprägte Erwartungen formulieren. In allen drei Varianten dieser Technologien – Carbon Capture and Storage (CCS), Carbon Capture and Utilization (CCU) und CCS-basierter CO2-Entnahme (CDR) und ihren Funktionen in der Klimapolitik (siehe SWP-Aktuell 30/2023) – sieht die Kommission entscheidende Bausteine dafür, das Zwischenziel bis 2040 zu erreichen.
In der Folgenabschätzung für die einzelnen Technologien fallen die Zahlen teilweise sehr hoch aus. Sie implizieren eine rasche Skalierung aller drei Ansätze (280 Mt CO2 bis 2040, 450 Mt bis 2050). Um diese Dimensionen zu erreichen, wären enorme Mittel und große Unterstützung für die Entwicklung nötig. Zudem würde es einen europäischen Binnenmarkt für Transport und Speicherkapazitäten von CO2 erfordern.
Neben den Synergien, die ein solcher Binnenmarkt für diese Technologien mit sich brächte, ergäben sich aber auch neue politische Konflikte: Carbon Management wird in den Mitgliedstaaten teils stark kontrovers diskutiert. In Deutschland etwa ist CCS ein äußerst heikles Thema. Irritationen dürfte vor allem die Aussage in der Folgenabschätzung erzeugen, dass die absolute Menge an abgeschiedenem CO2 aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe im Stromsektor bis 2050 ansteigen wird. Hinzu kämen absehbare Konflikte innerhalb und zwischen Mitgliedstaaten über die zu errichtenden CO2-Transportinfrastrukturen.
Nächste Schritte und Auswirkungen auf Deutschland
Die Mitteilung der amtierenden Kommission ist vor allem als strategische Intervention zu verstehen, mit der sie den Ton setzen und Erwartungen managen will.
Offen ist, ob die neue Kommission in ihrem Legislativvorschlag der 90%-Empfehlung folgen wird und ob die Mehrheiten für eine ambitionierte Klimapolitik im Europäischen Parlament auch nach den Wahlen Bestand haben werden. Unabhängig vom Ambitionsniveau wird es ein übergeordnetes Ziel der Mitgliedstaaten sein, mit Hilfe des Europäischen Rats die faktische Entscheidungshoheit zu beanspruchen. Anders als im Rat der Europäischen Union entscheiden die Staats- und Regierungschef:innen im Konsens – was auch in der Klimapolitik üblicherweise eine hohe Hürde darstellt.
Für die Bundesregierung kommt die Debatte über ein neues Klimaziel politisch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Angesichts der ohnehin kontroversen Diskussion über die Novellierung des deutschen Klimaschutzgesetzes wird das 2040-Ziel zusätzlichen Konfliktstoff bergen. Hinzu kommt, dass die Verhandlungen zum Legislativvorschlag in das Bundestagswahljahr 2025 fallen. Eine Möglichkeit, den zu erwartenden Dissens aus dem Wahlkampf herauszuhalten, wäre der Versuch, nach einer fristgerechten Entscheidung über die Meldung des NDC für 2035 auf eine Verzögerung des Gesetzgebungsprozesses hinzuwirken.
Die in den letzten Monaten offener zu Tage getretene Vielstimmigkeit der Koalition in den EU-Gesetzgebungsverfahren und das Aufschnüren bereits erzielter Kompromisse in letzter Minute (zum Beispiel beim Lieferkettengesetz oder den CO2-Flottengrenzwerten für LKW und Reisebusse) haben dem Ansehen der Bundesregierung in Brüssel geschadet. Weil Deutschland der Mitgliedstaat mit den in absoluten Zahlen höchsten Emissionen ist, wird der deutschen Position zum 2040-Ziel dennoch eine wichtige Orientierungsfunktion für andere Mitgliedstaaten zukommen.
Dr. Felix Schenuit ist Wissenschaftler im Projekt CDRSynTra und in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Oliver Geden ist Leiter des SWP-Anteils des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts, Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa und Leiter des Forschungsclusters Klimapolitik.
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DOI: 10.18449/2024A17