Das internationale und europapolitische Umfeld Deutschlands verändert sich drastisch. Dies erfordert auch ein Umdenken in der deutschen Europapolitik. Für Deutschland wird die EU als schlagkräftige Handlungsgemeinschaft noch wichtiger. Sie sollte zu einer wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lebensversicherung fortentwickelt werden. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD nehmen die künftigen Regierungsparteien für Deutschland eine mit Pragmatismus praktizierte Führungsrolle in der Europapolitik in Anspruch. Um dieses Ansinnen mit Leben zu füllen und jene Schlüsselpolitiken voranzubringen, die für die Selbstbehauptung der Europäer zentral sind, sollte die Bundesregierung eine Führung anbieten, die sich durch eine verbesserte europapolitische Koordination auszeichnet, in eine erweiterte Partnerschaftsstrategie eingebettet ist und die Handlungsfähigkeit der Union insgesamt stärkt.
Der Kollaps transatlantischer Gewissheiten in Verbindung mit der anhaltenden russischen Bedrohung verlangt von Deutschland und seinen transatlantisch sozialisierten Eliten ein prinzipielles Umdenken. Es sind die Europäische Union und die Zusammenarbeit mit Schlüsselpartnern, durch die künftig Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gewährleistet und Solidarität zwischen Staaten und Gesellschaften hergestellt werden müssen.
Deutsche Europapolitik sollte nicht länger an einem Status quo festhalten, den es nicht mehr gibt, oder sich darin erschöpfen, die EU zusammenzuhalten. Deutschland sollte sein Gewicht mit Nachdruck einbringen, um die EU zur Lebensversicherung für alle Mitgliedstaaten zu machen und so auch zum starken Partner für Nachbarländer zu werden.
Das erfordert umfassende politische und finanzielle Investitionen zum Schutz der Sicherheit, der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und des europäischen Gesellschafts- und Demokratiemodells. Die EU ist der Grundstein für eine strategische Autonomie Europas – verstanden als die »Fähigkeit, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen« (so die Definition in SWP-Studie 2/2019). Es gilt, mehr in gemeinsame öffentliche Güter zu investieren und den Rahmen für eine wettbewerbsfähige, moderne europäische Wirtschaft zu schaffen.
Zwar ist die EU für Deutschland schon lange die zentrale Plattform, um regionale und globale Regelwerke zu entwickeln und so seine Interessen weltweit zur Geltung zu bringen. Die Politikfelder, die hauptsächlich über die EU gestaltet werden, reichen von Handel und Außenwirtschaft über Klima und Umwelt, Energie- und Rohstoffsicherung, Gesundheit, Cybersicherheit, Künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung bis hin zur klassischen Diplomatie und Konfliktregulierung. Doch geopolitische und machtpolitische Strategien, die auf Drohungen, militärische Gewalt und territoriale Expansion setzen, fordern diesen kooperativen Multilateralismus bzw. die EU-Gemeinschaftsmethode mehr denn je heraus.
Die neue Bundesregierung umreißt in ihrem Koalitionsvertrag eine Europapolitik mit viel Pragmatismus, beachtlichem Führungsanspruch und ohne große Vision. Ihre Leitlinie sind Selbstbehauptung und strategische Autonomie. Dass sie kaum rote Linien zieht, zeigt, dass sie sich den hierfür nötigen Handlungsspielraum erhalten will.
Tektonische Veränderungen innerhalb der EU
Zur Bewertung dieses Führungsanspruchs gehört ein Blick auf die neuen Kräfteverhältnisse in der EU. Die Verteilung von Macht und Einfluss innerhalb der Gemeinschaft hat sich zuungunsten des klassischen Kraftzentrums, insbesondere des deutsch-französischen Duos und deutscher Gestaltungsfähigkeit, verändert. Hatte die Osterweiterung der EU zunächst eine neue Peripherie im Osten geschaffen, die Finanzkrise das deutsche Gewicht verstärkt und die südlichen Euro-Staaten geschwächt und hatte der Brexit auf den ersten Blick dem deutsch-französischen Paar mehr relative Stärke zukommen lassen, so hat sich das Verhältnis zwischen Zentrum und Rändern zwischenzeitlich neu sortiert. Dies hat vor allem mit drei Entwicklungen zu tun:
Neue politische Mehrheiten in Europa
Erstens ist das Erstarken »europaskeptischer« oder national-souveränistischer Strömungen mittlerweile ein Phänomen, das den politischen Alltag in der EU als Ganzes prägt. Heute sind in 24 von 27 EU-Staaten (allen außer Irland, Malta und Slowenien) Rechtsaußen-Parteien in nationalen Parlamenten vertreten. Zwei nationale Regierungen werden von Rechtsaußen-Parteien toleriert (Frankreich, Schweden), in dreien sind sie als Junior-Partner beteiligt (Finnland, Kroatien, Slowakei) und in fünf führen sie die Regierung an (Belgien, Italien, Niederlande, Tschechien, Ungarn). Darunter praktizieren einige einen moderat-konstruktiven Kurs nach dem Muster der national-konservativen Fraktion »Europäische Konservative und Reformer« (EKR) im Europäischen Parlament (EP), andere sind klar auf Anti-EU-Kurs, wie ihn die Fraktion »Patrioten für Europa« verfolgt (siehe SWP-Aktuell 8/2024).
Anders betrachtet: Auch wenn Rechtsaußen-Parteien keinen Block bilden, kommen viele Entscheidungen der EU nur noch mit ihrer Zustimmung zustande. Sie sind bei Beschlüssen und Gesetzgebungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit ebenfalls eine relevante Größe, wenn auch noch ohne Sperrminorität. Im EP gibt es nicht nur eine rechnerische Mehrheit von Rechtsaußen- und Mitte-rechts-Parteien. Sie stimmten in der aktuellen Legislaturperiode auch schon dreimal gemeinsam ab.
Die neuen Mehrheitsverhältnisse bringen die Europäische Volkspartei (EVP) in eine zentrale Stellung. Im Europäischen Rat gehören elf Staats- und Regierungschefs zur EVP-Parteienfamilie (Deutschland nicht mitgerechnet); in der EU-Kommission sind der EVP 13 von 27 Mitgliedern zuzurechnen. Im Parlament kann die EVP zwischen zwei Mehrheitsoptionen (nach links oder nach rechts) wählen.
Neue Trennlinien und Koalitionen
Zweitens hat der Krieg in der Ukraine neue Trennlinien, aber auch Kooperationsdynamiken geschaffen. Im Schatten der russischen Bedrohung, die aber nach wie vor unterschiedlich empfunden wird, wurden mehrere Mitgliedstaaten zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Taktgebern.
Dabei ergaben sich neue Zentren und Koalitionen: etwa ein nordöstliches, sicherheitspolitisch motiviertes Konglomerat im weiteren Ostseeraum (Polen, nordisch-baltische Staaten), aber auch eine lockere wirtschafts- und handelspolitische Interessenkoalition östlicher und südlicher Mitgliedstaaten unter Einschluss Frankreichs. Der noch weiter verstärkte Fokus auf Sicherheit und Verteidigung infolge des Wegbrechens der transatlantischen Partnerschaft wird diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse verstärken. Ausgaben für Verteidigung, die Stärke der Rüstungsindustrie und militärische Fähigkeiten – etwa die französischen Nuklearkräfte – werden zu einem wichtigeren Machtfaktor in der EU.
Drittens haben sich im Zuge des Umbaus von Industrien, der klimaorientierten Transformation und globaler Handelskonflikte strukturelle ökonomische Rahmenbedingungen verändert. Deutschland, das gerade im Kontext der Finanzkrise und danach seine ökonomische Stärke gestalterisch nutzen konnte, muss sich nun mit Ländern aus dem Osten (Polen und andere ostmittel- und südosteuropäische Staaten) oder dem Süden (Spanien) auseinandersetzen, die gestützt auf resiliente und wachstumsstärkere Ökonomien mehr politische Mitsprache einfordern.
Von der rabiaten und sich ständig ändernden Zollpolitik des US-Präsidenten sind die EU-Staaten unterschiedlich stark betroffen. Deutschland gehört hier zu den Mitgliedern mit den größten Vulnerabilitäten und muss daher in vielen Hauptstädten frühzeitig Überzeugungsarbeit leisten, um politische Unterstützung für eventuelle Gegenmaßnahmen zu sichern. Der technologische Wandel bedroht auch europäische und deutsche Schlüsselindustrien. Er verstärkt die Unsicherheit darüber, welche wirtschafts- und industriepolitischen Interessen in der EU noch geteilt werden. Jedenfalls verblassen die scharfen Trennlinien zwischen ordoliberalen und etatistisch orientierten Staaten.
Zusammengenommen führen diese drei Trends dazu, dass sich jenseits von Deutschland bzw. von Deutschland und Frankreich, die sich ihrerseits dem Vorwurf der Führungsschwäche und Selbstbezogenheit ausgesetzt sehen, die Gestaltungsoptionen erweitern.
Gleichzeitig eröffnen sich durch die Ungewissheiten in Bezug auf das transatlantische Verhältnis und aufgrund von weltanschaulichen Parametern neue Einflussmöglichkeiten für externe Akteure. Denn die USA bleiben zwar Partner der EU, werden aber zunehmend auch zu deren Rivalen und Gegner. Souveränistische und nationalistische Regierungen verspüren eine ideologische Nähe zur jetzigen US-Administration. Europäische Staaten, die bisher primär auf die Nato und US-Sicherheitsgarantien gesetzt haben, könnten bei gezielten Spaltungsversuchen und transaktionalen Angeboten der Trump-Administration die jahrzehntelang gewachsene verteidigungspolitische Verquickung mit den USA neuen EU‑Initiativen für eine eigenständigere Verteidigungspolitik vorziehen. China bietet sich mehr denn je als Alternative zur hegemonialen US-Ordnung an und versucht, seinen wirtschaftlichen Einfluss weiter in vielen Branchen und durch Investitionen in Verkehrs- und andere Infrastrukturen auszuweiten. Russland wiederum kann nicht nur auf antiwestliche Strömungen weltweit setzen, sondern auch auf einige wenige europäische Staats- und Regierungschefs, die – mit Blick auf die Annäherung zwischen Washington und Moskau – ebenfalls eine »Normalisierung« des Wirtschaftsaustauschs anstreben.
Thematisch flexible Partnerschaften für europapolitische Interessen
Deutschlands aktuelle europapolitische Kerninteressen bestehen vornehmlich darin, die Widerstands- und Verteidigungskraft der EU zu verbessern, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und Wirtschaft bzw. der europäischen Volkswirtschaften zu erhöhen, Deutschlands Handelsinteressen als Exportnation abzusichern und Kontrolle über Migrationsströme zu gewinnen. Um diese Interessen zu verfolgen, muss Deutschland Führung anbieten und neue Koalitionen für Vorstöße, auch risikobehaftete, schmieden, anstatt primär reaktiv einen mutmaßlichen europapolitischen Konsens zu organisieren.
Im volatilen auswärtigen wie innereuropäischen Umfeld erfordert dies ambitionierte, agilere und thematisch fokussierte Partnerschaftsstrategien. Deutschland muss weiterhin in alle Richtungen anschlussfähig bleiben, im Zweifel aber Wirkung und vorwärtsgerichtete Koalitionen (»Coalitions of the willing«) priorisieren. Funktionale Fortschritte haben Vorrang gegenüber EU-weitem maximalen Zusammenhalt.
E5+1 in der Sicherheitspolitik
In der Sicherheitspolitik geht es darum, möglichst zügig rüstungsindustrielle Kapazitäten zu generieren, militärische Fähigkeiten aufzubauen und nach außen – sei es gegenüber Russland oder den USA – Krisenreaktionsfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit zu demonstrieren. Die Gruppe der fünf europäischen »Schwergewichte« (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen) plus die EU-Außenvertretung, ergänzt um Großbritannien, weist hierfür die nötige normative Breite und das verteidigungspolitische, rüstungsindustrielle und militärische Potential auf. Das Format der E5+1/Weimar Plus sollte auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ad hoc und informell tagen, um Entscheidungen schnell auf den Weg zu bringen. Die Gruppe könnte auch wie die E3 bei den Verhandlungen über eine Atomvereinbarung mit Iran ins Spiel kommen, wenn sie eine treuhänderische Rolle für die Europäer wahrnimmt.
Die E5+1 wären nützlich als ein Format zur Abstimmung über große Linien und diplomatische Initiativen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Konsolidierung einer europäischen Position in der Nato. Das E5+1-Format sollte allerdings nicht zur Dauernebenstelle des Europäischen Rats oder zu einem Direktorat werden. Die Diskussion über einen europäischen Sicherheitsrat wird aber Fahrt aufnehmen. Daran sollte sich Deutschland zwar ergebnisoffen beteiligen; besser als eine primär institutionelle Debatte wäre aus deutscher Sicht jedoch zunächst eine pragmatische Nutzung des E5+1-Formats, zu dem je nach Bedarf und Fokus andere europäische Staaten hinzustoßen könnten.
Für die Umsetzung von Schlussfolgerungen oder Beschlüssen der Regierungen ist das EU-System fast immer unabdingbar. Auch deshalb sind die EU-Spitzen, die Hohe Vertreterin, die Kommissionspräsidentin und der Präsident des Europäischen Rats an Treffen und Prozessen der E5+1 zu beteiligen. Kleinere Staaten oder deren Fürsprecher (z. B. Repräsentanten der Nordic-Baltic Eight) sollten immer dann hinzukommen, wenn dies in der Sache begründet ist. Damit wird auch nach außen ein Signal der Einbindung gesendet. Deutschland kann innerhalb dieses Formats allein initiativ werden oder gemeinsam mit Frankreich bzw. Polen oder mit beiden (Weimarer Dreieck) eine Taktgeberrolle einnehmen.
Wettbewerbspartnerschaften in der Wirtschaftspolitik
In der europäischen Wirtschaftspolitik ist der Weg, der durch den Kompass für Wettbewerbsfähigkeit grob vorgegeben ist, konsequent weiterzuverfolgen. Hinsichtlich von Fragen der Wettbewerbsfähigkeit sollte Deutschland Allianzen mit Mitgliedstaaten suchen, denen an der Stärkung klassischer Industriezweige gelegen und mit denen die deutsche Wirtschaft eng verbunden ist (Ostmitteleuropa, Rumänien). Parallel wäre eine intensive Abstimmung mit Ländern anzustreben, die offen für eine aktive Industriepolitik sind, etwa Frankreich und Italien (Neufassung des deutsch-französischen Manifests für Industriepolitik und der trilateralen Abstimmung Deutschland-Frankreich-Italien). Ein dritter Strang sind Partnerschaften mit Ländern, die hohe Innovationspotentiale besitzen (nordeuropäische Länder, baltische Staaten, Niederlande, Irland bzw. generell »Neue Hanse«). Mit Blick auf die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) sollte frühzeitig ein Interessenabgleich mit »frugalen« Ländern aus Nordeuropa, mit den Niederlanden und Österreich gesucht werden.
Auch bei Fragen der Handelspolitik und der internationalen Wirtschaftspolitik wird sich Deutschland nicht auf dauerhafte Mehrheitskoalitionen stützen können. Spaltungsversuche von außen (etwa seitens der USA), unterschiedliche Interessen (Exportabhängigkeit gegenüber China und anderen Märkten) oder abweichende Interpretationen der internationalen Ordnung (Ungarn, Slowakei) werden es auch hier unvermeidlich machen, punktuelle und temporäre Partnerschaften zu suchen. Ungeachtet ihres ökonomischen Kerns wird die EU ihre Handels- und Wirtschaftspolitik in einem globalen Umfeld in Teilen geopolitisieren und versicherheitlichen müssen. Deutschland sollte diesen Kurs nicht nur qua Wirtschaftsmacht mitbestimmen, sondern auch politisch gestalten.
Asyl- und Migrationspolitik stabilisieren
In der europäischen Migrationspolitik ist die Dynamik unübersichtlich. Hier gelten schon lange keine klaren Trennlinien mehr zwischen nördlich-nordwestlichen und süd-südöstlichen Mitgliedstaaten. Auch seit der Verabschiedung des Pakts für Migration und Asyl haben diverse Koalitionen, angeführt oder inspiriert von Staaten wie Italien, Dänemark, Polen oder Griechenland, zahlreiche neue Vorschläge und Initiativen eingebracht. Deutschland sollte dagegen als Stabilitätsanker fungieren und die Umsetzung bereits beschlossener Maßnahmen zur besseren Migrationssteuerung priorisieren.
Diese Position bleibt herausfordernd. Differenzen bei der Umsetzung einer verschärften Migrations- und Asylpolitik werden fortbestehen, insbesondere mit Blick auf Zurückweisungen an Binnengrenzen und auf weitere restriktive Entwicklungen auf EU-Ebene, wie die Einrichtung von Rückkehrzentren in Drittstaaten oder die Suspendierung von Asylanträgen an EU-Außengrenzen. Das essentielle Interesse Deutschlands an einer stabilen und funktionierenden Schengenzone steht an erster Stelle. Gleichzeitig ist mehr Druck auf andere EU-Staaten dahingehend auszuüben, dass sie das geltende Recht, auch in Fragen der Verantwortungsteilung für Schutzsuchende, stringent ausüben. Eine verhältnismäßige Verschärfung und Vertiefung der EU-Rückführungspolitik kann hier dazu genutzt werden, zu mehr innereuropäischer Kooperation zurückzufinden, insbesondere mit Italien.
Kooperationsstrategien
Der Transfer von Zuständigkeiten und Vertragsänderungen sind für Deutschland kein Tabu, wenn dadurch Handlungsfähigkeit und Legitimität der EU gestärkt werden kann. Viele Mitgliedstaaten lehnen die Entwicklung der EU zur Politischen Union generell ab. Sie werden aber, anders als Großbritannien, nicht (freiwillig) austreten. Deutschland wird also auch auf »schwierige Partner« individuell zugehen müssen. Die Zusammenarbeit mit solchen »non-like-minded states« erfordert ein differenziertes Vorgehen. Ungeachtet dessen kann die fallweise Einbindung »Andersdenkender« aber auch deren Drang minimieren, Koalitionen oder Blöcke gegen Deutschland zu bilden. Hier sollte die Bundesregierung die Differenzen zwischen verschiedenen Rechtsaußen-Parteien nutzen, auch indem weiterhin eine klare Linie zu radikalen Anti-EU-Parteien gezogen wird.
Darüber hinaus bleibt die Daueraufgabe, kleinere Mitgliedstaaten an- und einzubinden. Die neue Relevanz von Sicherheit in der europäischen Politik geht oft einher mit der Prävalenz verteidigungspolitisch, rüstungswirtschaftlich oder militärisch starker, also größerer Staaten. Deutschland kann durch das Zugehen auf kleine Partner gerade in dieser Frage nicht nur Einheit stiften, sondern auch seine Glaubwürdigkeit erhöhen und seine Führungschancen verbessern. Hierfür müssen bilaterale Dialogformate gefestigt und europa- und sicherheitspolitisch eingerahmt werden.
Flankierung durch starke EU‑Institutionen und nationale Koordination
Eine handlungsfähige EU benötigt starke Institutionen. Diese schützen auch – vor allem da, wo nicht Einstimmigkeit herrscht – vor politischen Krisen einzelner Mitgliedstaaten. Dabei gilt es gleichermaßen anzuerkennen, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten gerade in der aktuellen Drucksituation nicht nur einen großen Integrationssprung hin zu einem föderalen Bundesstaat ablehnt, sondern auch Vertragsänderungen. Politische Ziele, die im Koalitionsvertrag niedergelegt sind, wie die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen (siehe SWP-Aktuell 24/2024) oder institutionelle Reformen zur Vorbereitung der nächsten Erweiterung, bleiben langfristige Projekte. Ohnehin fügen sich die Positionen der neuen Regierung zur EU-Erweiterung in den pragmatisch-gradualistischen Gesamtduktus ein. Berlin setzt vor allem auf die faktische Integration auch vor der Vollmitgliedschaft. Im Zuge der Krisen der letzten Jahre hat sich das EU-System auch ohne Vertragsänderungen fortentwickelt, ein Aspekt, den Deutschland in seiner Europapolitik in Rechnung stellen sollte (siehe SWP-Studie 11/2024). Der Europäische Rat ist zum politischen Zentrum der EU geworden. Entweder gelingt den 27 dort die konsensuale Beschlussfassung oder diese scheitert bzw. wird auf die lange Bank geschoben. Wie der Bundeskanzler im Europäischen Rat auftritt, welchen Ton er setzt und welche Inhalte er vertritt, bestimmt zu einem großen Teil, wie die deutsche Europapolitik von den Peers in Brüssel und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Europapolitische Koordinierung stärken
Die neue Bundesregierung will die europapolitische Koordinierung verbessern. Der Chef des Bundeskanzleramts soll wöchentlich ein »EU-Monitoring« in der Runde der beamteten Staatssekretäre abhalten, um Ressortkonflikte über EU-Vorhaben frühzeitig zu identifizieren und zu entschärfen. Übergreifende Themen wie der MFR oder die neuen rüstungspolitischen Initiativen der EU sollten direkt im Kabinett besprochen werden. Dies ist mindestens so wichtig wie die Fortentwicklung des Bundessicherheitsrats zum nationalen Sicherheitsrat.
Denn das Phänomen des »German Vote«, also die Enthaltung aufgrund koalitionsinterner und ressortbedingter Differenzen, aber auch das späte Ändern von Verhandlungspositionen infolge interner Streitigkeiten, hat nicht nur deutschen Interessen in Brüssel geschadet. Als ein Akteur, an dem sich viele seiner Partner orientieren, hat Deutschland damit die Beschlussfassung in – bedeutenden – Einzelfällen stark erschwert. Der Chef des Bundeskanzleramts müsste als Oberkoordinator der EU-Dossiers eng mit dem Sherpa des Bundeskanzlers zusammenarbeiten, der die Sitzungen des Europäischen Rats und etwa der G7 vorbereitet. Dieser wäre auch ein zentraler Gesprächspartner für die Sherpas der anderen EU-Regierungschefs. In enger Abstimmung mit der ständigen Vertretung in Brüssel sollten die Koordinatoren der deutschen Europapolitik koalitionsinterne Differenzen somit früh ausräumen und auch gemeinsam mit Partnern Initiativen ergreifen (oder verhindern).
Führung mit der EU-Kommission
Die Kommission von der Leyen II ist mit einem Machtzuwachs an den Start gegangen, der sich aus den Krisen der letzten Dekaden und der relativen Schwäche des deutsch-französischen Tandems speist. Zugleich ist das Misstrauen vieler Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission gewachsen. Grundlegende Reformen des EU‑Haushalts, neue Fonds für die Verteidigungspolitik und Befugnisse zur Mittelverteilung und Ausgabenkontrolle könnten die Stellung der Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten noch verstärken.
Was Aufgaben angeht, bei denen die Kommission EU-intern als neutraler Schiedsrichter auftritt, sollte Deutschland aber darauf drängen, entsprechende Vorgänge innerhalb der Kommission möglichst von der zunehmenden Politisierung ihrer Führung abzuschirmen. Dies betrifft unter anderem die Einleitung und konsequente Durchführung von Vertragsverletzungsverfahren. Gleichzeitig ist auch die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament komplexer geworden. Dessen wechselnde Mehrheiten schaffen nun mehr Unsicherheiten, bieten aber bei Gesetzgebungs- und Haushaltsverhandlungen, etwa zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, auch Spielräume zur Bildung neuer Koalitionen.
Vor allem die großen Entscheidungen zu zentralen Vorhaben – in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit, die Klima- und die Migrationspolitik – sollten unter deutscher Mitführung umsichtig und früh vorbereitet werden, um die Kommission an einen robusten Konsens unter den Mitgliedstaaten rückzubinden und ihre Arbeit stärker zu legitimieren. Die Kommission sollte insbesondere darauf hinarbeiten, dass ihre Vorschläge im Rat und im EP stabile Mehrheiten ohne radikale und Anti-EU-Parteien finden. Als Mitglied des Europäischen Rats kann die Kommissionspräsidentin frühzeitig in einen solchen politischen Konsens eingebunden werden und Hinweise auf die betreffende Grundrichtung erhalten.
Die Bundesregierung sollte der Präsidentin auch signalisieren, dass die mit Doppelhut ausgestattete Hohe Vertreterin Kaja Kallas umso wirkungsvoller nach außen auftreten und im Namen der 27 sprechen kann, je stärker ihre Rolle im Innern ist. Daher müssen die Dossiers für das Auswärtige Handeln bei ihr zusammenlaufen. Auch im Hinblick auf Ratspräsident António Costa muss eine pragmatische und für Außenstehende einsichtige Rolle als Vertreter der EU auf oberster Ebene gefunden werden, wenn das Format E5+1 ins Spiel kommt, also etwa gegenüber den USA und bei den Verhandlungen mit der Ukraine.
Für einen pragmatischen, aber beherzten Funktionalismus
Für die EU bricht mit dem Ende der Pax Americana (siehe SWP-Studie 3/2025) eine neue Zeitrechnung an. Es ist ein essentielles deutsches Interesse, die EU zur zentralen Lebensversicherung für Sicherheit, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und auch für den Schutz der nationalen Verfassungsordnung fortzuentwickeln. Das muss zügig und nach Politikfeldern differenziert geschehen.
Deutschland hat die bestehenden Institutionen, Verfahren und Politikfelder der EU in beträchtlichem Maße mitgestaltet. Sie reflektieren traditionelle deutsche Präferenzen und sind das Ergebnis eines stetigen deutschen Engagements im Rahmen von Vertragsänderungen und Erweiterungen der EU. Deutschland hat auf diesem Weg viel erreicht und viel zu verlieren. Deshalb tritt es oft als Status-quo-Macht auf, die den Besitzstand verteidigt und sich um den Zusammenhalt, das heißt die Funktionsfähigkeit der EU sorgt. So stützte die Bundesregierung bei den Brexit-Verhandlungen konsequent die Linie von EU-Unterhändler Michel Barnier und wehrte Londons Strategie des Rosinenpickens ab. In der Staatsschuldenkrise blieb Berlin unnachgiebig gegenüber Forderungen nach gemeinsamer Verschuldung.
Doch Deutschland war und ist kein Musterschüler. Es verletzt EU-Regeln und geht eigene Wege, wenn es seine Wirtschaftsmacht erlaubt (»Doppel-Wumms«) oder wenn Entscheidungen in die Kategorie nationaler Staatsräson (Gaza-Krieg) fallen. Zudem begünstigt die Tatsache, dass innerhalb der Union ohne oder gegen Deutschland effektiv nur wenig vorankommt, eine zögerliche und passive Haltung Berlins.
Prioritäten für eine proaktive deutsche Europapolitik
Will Deutschland wieder eine Führungsrolle in der EU spielen, sollte die Bundesregierung in Brüssel mit klaren politischen Positionen auftreten. In der von schnellen Umbrüchen geprägten Welt ist eine Europapolitik gefragt, die Handlungswillen, Handlungsfähigkeit und Handlungsschnelligkeit vereint. Dazu drei zentrale Empfehlungen:
Erstens kommt Handlungswille dadurch zum Ausdruck, dass sich Bundeskanzler und Regierungsspitzen anhaltend für das EU-Geschehen interessieren und unzweifelhaft gemeinsame Positionen vertreten. Die Bundesregierung will die Ressort-Abstimmung zu den anliegenden Dossiers deutlich verbessern. Das neu vom Chef des Bundeskanzleramts zu moderierende »EU-Monitoring« sollte dazu genutzt werden, um bei wichtigen und/oder übergreifenden Dossiers im Fall der Fälle auf Kabinettsebene früh interne Differenzen auszuräumen und klare Standpunkte der deutschen Europapolitik festzulegen, ohne dabei das Ressortprinzip in Frage zu stellen. Durch eine kohärente und berechenbare Positionierung kann Deutschland Orientierung und Führung bieten und verlorene Glaubwürdigkeit in der EU zurückgewinnen.
Zweitens benötigt Deutschland zur europapolitischen Handlungsfähigkeit eine neue Partnerschaftsstrategie. Die Bundesregierung sollte thematisch flexible, agile und effektive Koalitionen bilden, anstatt primär auf den Zusammenhalt und den kleinsten gemeinsamen Nenner zu setzen. Beispiele hierfür sind das E5+1-Format in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie unterschiedliche Wirtschaftspartnerschaften, zum Beispiel mit Ostmitteleuropa, Frankreich und Italien sowie innovationsstarken Ländern, etwa aus Nordeuropa. Deutschland sollte proaktiv Partnerschaften für einzelne Politikfelder schmieden, um konkrete Fortschritte zu erzielen. Vor allem im Hinblick auf das Themenfeld Sicherheit muss die Koordination zwischen den Mitgliedstaaten und – im Rahmen ihrer Zuständigkeiten – mit den EU-Organen intensiviert und gleichzeitig sorgsam ausbalanciert werden. Gemischte Vorgehensweisen werden gerade in der Anlaufphase und im Zuge der anstehenden kritischen Verhandlungen zur Ausgestaltung einer weniger fragilen »Nachkriegszeit« vorherrschen. Dies verlangt von Deutschland außergewöhnlich viel Flexibilität und Kreativität.
Drittens braucht es Handlungstempo. Und dies setzt den Willen voraus, jenseits der Einstimmigkeit Entscheidungen zu suchen. In funktionalen Feldern ist die klassische Gemeinschaftsmethode zur Vertiefung der EU mit Mehrheitsbeschlüssen zu priorisieren. Das gilt etwa in Bezug auf das Projekt Kapitalmarktunion, das wegen seiner rasant wachsenden sicherheitspolitischen Bedeutung schneller Fortschritte bedarf. Ebenso werden Industrie- und Technologiepolitik – auch unter stärkerer Einbeziehung privater Akteure – zu einem dauerhaften und institutionalisierten Bestandteil der europäischen Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung sollte selbst Ideen für eine umfassende Reform der Einnahmen- und Ausgabenseite des EU-Haushalts, ein Kerninteresse Deutschlands, einbringen. Größere Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit und in eine bessere Infrastruktur sollten für Wachstumsimpulse genutzt werden, die der europäischen Wirtschaft zugutekommen. Bei Blockaden sollte Deutschland bereit sein, mit dem Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit in Gruppen voranzuschreiten.
Insgesamt betrachtet muss Deutschland unter schwierigeren Rahmenbedingungen sein politisches Kapital, seine Führungskraft und sein Geld in diese vielschichtigen Aufgaben investieren und die EU zur Lebensversicherung machen. Insofern sollte sich die deutsche Europapolitik in der nächsten Legislaturperiode an einem pragmatischen, aber beherzten Funktionalismus orientieren, der stets das Leitbild strategischer Autonomie im Visier hat.
Dr. Raphael Bossong ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP. Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2025A20