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Die engen Grenzen von Äthiopiens nationalem Dialog

In seiner derzeitigen Form kann der Prozess kaum zur Bearbeitung der strukturellen Probleme des Landes beitragen

SWP-Aktuell 2024/A 40, 25.07.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A40

Research Areas

Äthiopien befindet sich seit Längerem in einer Umbruchphase, die von massiver Gewalt gekennzeichnet ist. Die Beziehungen zwischen den größten Volksgruppen sind in Bewegung ebenso wie deren Verhältnis zur Regierung. Dem Staat mangelt es in zentralen Regionen des Landes an Legitimität, sein Gewaltmonopol ist umstritten und er verfügt kaum über finanzielle Ressourcen, um die Bevölkerung flächendeckend zu versorgen. Der nationale Dialog soll dazu dienen, den Wandel Äthiopiens zu beglei­ten und den Rückhalt des Staates unter der Bevölkerung zu erhöhen. Allerdings sind die Voraussetzungen für eine vertrauensbildende Aussprache nicht vorhanden an­gesichts bewaffneter Aufstände in den beiden bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Amhara und Oromia, einer stark begrenzten Medien- und Meinungsfreiheit sowie der Dominanz der Regierungspartei in Parlament und Gesellschaft. Ein zusätzlicher strukturierter Dialog auf der Ebene der wichtigsten politischen Player könnte eine Hauptschwäche des Prozesses abmildern. Internationale Akteure, die wie Deutschland den nationalen Dialog unterstützen, sollten darauf achten, sich nicht für eine autoritäre Konsolidierung einspannen zu lassen.

Am 4. Juni 2024 endete in Addis Abeba die erste Veranstaltung jener Phase des natio­nalen Dialogs, die auf der Ebene der Bundes­staaten und eigenständigen Stadtverwaltun­gen stattfindet. Das Ziel des Prozesses ist, die wichtigsten Themen zu identifizieren, die das Land auseinandertreiben, Lösungsansätze zu ermitteln und Repräsentanten für den letzten Teil der Konsultationen auf nationaler Ebene zu bestimmen. Allein an der Veranstaltung in Addis Abeba nahmen mehr als 2.000 Personen teil, die ihrerseits von vorherigen Versammlungen auf lokaler Ebene in der Stadt Addis Abeba delegiert worden waren. Weitere Veranstaltungen in den anderen Bundesstaaten sollen folgen.

Der nationale Dialog ist ein zentrales Projekt der Regierung von Premierminister Abiy Ahmed. Die Regierung hofft, dass der Dialog einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, das Land zu befrieden, die Legitimität des Staats in der Breite der äthiopischen Gesellschaft zu erhöhen und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Das übergeordnete Ziel ist, die Bevöl­kerung hinter Abiys Vorstellung von nationaler Einheit zu versammeln. Der Dialog kann somit nur in den engen Gren­zen der fortgesetzten Hegemonie der Regie­rung stattfinden.

Staat und Gesellschaft unter Stress

Abiy ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, Äthiopien zu einen. Vielmehr sind sein Regierungsstil, die Art der Auf­standsbekämpfung und verzögerte wirt­schaftliche Reformen mitverantwortlich für Konflikte, Gewalt und existenzielle Not in Teilen des Landes. Die Krise des äthiopischen Staats, die Abiy ins Amt gebracht hat, ist durch einige seiner Handlungen weiter verschärft worden.

Entgegen Abiys panäthiopischer Rhetorik prägt die Orientierung an den Volksgruppen, an deren Spitze ethnisch-nationalistische Politikunternehmer stehen, weiterhin das Land. Der in der Verfassung von 1995 ver­ankerte ethnische Föderalismus spielt für den Zugang zum Staat weiterhin eine wich­tige Rolle. Ein neues nationales Narrativ konnte sich bislang nicht durchsetzen. Vielmehr prägen Polarisierung und Null­summen-Mentalität die Politik, wie selbst Äthiopiens nationaler Sicherheitsrat be­merkt. Eine größere Rolle einer Volks­gruppe wird von anderen als Minderung des eigenen Einflusses gesehen. Dies zeigt sich vor allem beim Aufstieg von Angehörigen der Oromos in der Politik nach Abiys Amtsantritt, den traditionelle Eliten aus Amhara und Tigray kritisch sehen.

Doch Abiys Regierungsstil basiert weniger auf der Hegemonie einer ethnischen Gruppe (auch wenn ihm einige die Bevorteilung von Oromos in Regierung und Staatsunternehmen vorwerfen), sondern auf wechselnden Partnerschaften, entsprechend seinem Verständnis von pragmatischer Macht­politik. In einem Kontext, der von Nullsummen-Mentalität und mangelnder natio­naler Identität geprägt ist, führt Abiys trans­aktionale Politik jedoch zur Entfremdung von einstigen Unterstützern, insbesondere in Amhara und Oromia. Sie befördert auch den Konflikt innerhalb ethnischer Gruppen zwischen denen, die mit der Regierung ko­operieren, und solchen, die sich enttäuscht abwenden. Abiy selbst warf Anfang Juli der Opposition Putschpläne vor.

Sowohl Regierung als auch Teile der Oppo­sition sehen Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktaustragung an. Ausdruck dieser Haltung sind und waren nicht nur der Krieg im Norden des Landes zwischen 2020 und 2022, sondern auch die Auf­stände in Oromia und Amhara. Zwar hat die Regierung erkannt, dass sie auch auf Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen setzen muss; sie will dies aber stets aus einer Position der militärischen Stärke heraus tun. So wurde das Pretoria-Abkom­men mit der Tigray People’s Libera­tion Front (TPLF) im November 2022 unter­zeichnet, als die Armee bereits kurz vor Tigrays Hauptstadt Mekelle stand.

Gleichzeitig befeuert die Art und Weise, wie die Regierung Aufstände bekämpft, Kon­flikte eher noch. Im Krieg gegen die TPLF kämpfte die Regierung im Verbund mit para­militärischen Kräften und irregulären Fano-Einheiten aus Amhara. Als diese Regio­nalmilizen Amharas nach dem Pretoria-Abkommen demobilisiert und entwaffnet werden sollten, weigerten sich viele der Einheiten, weil sie ihre Interessen durch die Vereinbarung verraten sahen. Die Fano-Rebellen konnten einen erheblichen Zulauf von diesen gut ausgebildeten paramilitäri­schen Kämpfern verzeichnen, der es ihnen erlaub­te, gegen die Regierungsarmee zu be­ste­hen. Seither kontrollieren die Aufständischen weite Teile der ländlichen Gebiete und dringen ab und zu in Städte wie die amharische Regionalhauptstadt Bahir Dar oder die UNESCO-Welterbestätte Lalibela vor.

Die Regierungseinheiten sind eine erheb­liche Gefahr für die Zivilbevölkerung in die­sen Konfliktgebieten. Das UN-Hochkommis­sariat für Menschenrechte macht sie für 70 Prozent der im Jahr 2023 dokumentier­ten Menschenrechtsverletzungen in Äthio­pien verantwortlich. Die äthiopische Men­schenrechtskommission kritisiert extralegale Tötungen durch staatliche Sicherheitskräfte und massenhafte willkürliche Verhaftun­gen in Amhara, Oromia und Addis Abeba. Außerdem ist der Einsatz von Drohnen, bei dem teilweise hohe Zahlen an zivilen Opfern zu verzeichnen sind, in der Kritik. Berichte sprechen davon, dass die Armee immer wieder willkürlich Zivilisten tötet, wenn sie der Fano-Rebellen in Amhara nicht habhaft werden kann. All dies schürt weitere Gegen­wehr der betroffenen Bevölkerung.

Die Regierung investiert zwar in Prestige­projekte in Addis Abeba, lässt aber weite Teile der Bevölkerung zurück. Mehr als 21 Millionen Menschen in Äthiopien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. In eini­gen Teilen des Landes herrscht eine akute Nahrungsmittelunsicherheit als Folge von Dürre, Konflik­ten und schlechten makroökonomischen Bedingungen. Die Inflation ist zwar seit letztem Jahr gesunken, bewegt sich aber gerade für Nahrungsmittel mit 22,7 Prozent weiter auf einem hohen Niveau (19,9 % insgesamt). Getrieben von steigenden Prei­sen, hoher Arbeitslosigkeit und Einschränkungen der Bewegungs­freiheit breitet sich kriminelle Gewalt aus. Aus einigen Kon­flikt­gebieten haben sich staatliche Institu­tionen zurück­gezogen. In der Umgebung von Addis Abeba ist es so gefährlich, Opfer von Entführungen zu werden, dass viele es nicht mehr wagen, die Hauptstadt auf dem Landweg zu verlassen.

Wirtschaftliche Entlastung könnte eine Vereinbarung mit dem IWF und der Welt­bank bringen, die sowohl eine direkte Unterstützung als auch einen Schulden­erlass von Gebern beinhalten würde. Doch trotz jahrelanger Verhandlungen konnten die Regierung und die internationalen Organisationen sich bisher nicht auf das geplante Unterstützungspaket von 10,5 Mil­liarden Dollar einigen. Die Anpassung des Wechselkurses ist das wichtigste Streit­thema. Die Regierung ist besorgt, dass eine zu schnelle Liberalisierung des Wechselkurses die Inflation anheizen könnte. Der Mangel an Devisen schwächt die heimischen Produktionskapazitäten. Gleichzeitig profitieren primär staatliche Importeure von dem parallelen Wechselkursregime.

Sehr hohe Ambitionen für den nationalen Dialog

Grundsätzlich kann das Format eines natio­nalen Dialogs tiefgreifende politische Ver­änderungsprozesse begleiten und voranbringen. In einem Kontext, der von Gewalt und Repression geprägt ist, kann der Dialog einen Weg aufzeigen, Differenzen auf fried­liche Weise zu verhandeln. Zudem kann er den Prozess einer demokratischen Öffnung be­gleiten, indem er eine breitere Beteiligung der Zivilgesellschaft ermöglicht als reine Elitenverhandlungen. Die Zielsetzung spielt dabei eine wichtige Rolle. Geht es darum, einen Kon­sens zu übergreifenden Fragen zu erzielen oder einen Mechanismus zu schaf­fen, um die tief in Geschichte und Identität verankerten Gegensätze konstruktiv oder zumindest friedlich auszutragen? Die Ein­richtung eines nationalen Dialogs kann einer Gesellschaft dabei helfen, den Rahmen für ihre Konflikte zu finden, ohne diese bereits aufzulösen.

Die ersten Initiativen zur Herbeiführung eines solchen Dialogs nach dem Amtsantritt Abiys im April 2018 deuteten in eine kon­struktive Richtung. Politische Gefangene wurden freigelassen, die Gesetzgebung für Nichtregierungsorganisationen gelockert und Oppositionspolitiker kehrten auf Ein­ladung der Regierung aus dem Exil zurück. In der Zivilgesellschaft gab es Bemühungen, einen inklusiven Dialog zu organisieren. Dazu fanden 2019 und Anfang 2020 infor­melle und vorbereitende Seminare und Workshops statt. Es gab weitere Aktivitäten, die auf die Unterstützung der Regierung trafen. Im Oktober 2020 wurde eine Multi-Stake­holder Initiative for National Dialogue (MIND) gebildet, an der neben der Destiny Ethiopia Initiative, die als Sekretariat fun­gier­te, eine Reihe zivil­gesellschaftlicher Dialog­initiativen, die äthiopische Versöhnungskommission, das Friedensministe­rium als Regierungsvertretung sowie der Joint Coun­cil of Political Parties (d. h. die Oppo­sitionsparteien) teilnahmen.

Anfang November 2020 brach der Krieg in Tigray aus. Der militärische Konflikt ging mit einer erheblichen Polarisierung der Gesellschaft und Beschneidungen des öffent­lichen Raums einher. Dennoch trieb die Regierung das Dialogprojekt weiter voran. Am 29. Dezember 2021 beschloss das House of People’s Representatives, die untere Parlamentskammer, eine Proklamation, die gleichzeitig das Mandat für die Ethiopian National Dialogue Commission (ENDC) dar­stellte. Diese nahm im Februar 2022 ihre Arbeit auf. Ihre Amtszeit währt drei Jahre. Das Mandat sieht drei übergreifende Ziele vor: einen »nationalen Konsens« über die »tiefgreifendsten Themen« des Landes her­zustellen, Vertrauen unter den Bevölkerungsgruppen und zwischen diesen und dem Staat zu schaffen sowie den Weg für eine Kultur des Dialogs zu bereiten. Die Ambition könnte kaum höher sein, sollen doch »interne Probleme, die seit Jahr­hunderten schwelen«, so die Erklärung des Parlaments, durch eine neue Kultur des Dialogs gelöst werden.

Die Regierung betont selbst, welch ein Wandel ein erfolgreicher nationaler Dialog für die Art und Weise bedeuten würde, in der bisher grundlegende politisch-gesell­schaftliche Differenzen bearbeitet wurden. Abiy sprach davon, dass eine Kultur des Dialogs die strenge Trennung von »Siegern und Verlierern«, wie sie bisher in Äthiopien vorgeherrscht habe, auflösen könne. Aller­dings passt das Bild eines Friedensstifters und Versöhners der Nation, das Abiy selbst von sich zeichnet, nicht mit dem Verhalten seiner Regierung zusammen.

Vorgehen der Kommission

Die Nationale Dialogkommission brauchte eine Weile, um sich zu finden, ihre Arbeit zu definieren und Vertrauen bei zen­tralen Stakeholdern aufzubauen. Dazu trat die logistische Herausforderung, Anhörungen im ganzen Land abzuhalten. Dies sei auch ein Lernprozess für die Kommission ge­wesen, heißt es von Seiten Beteiligter. Einziger Out­put soll ein öffentlicher Abschlussbericht sein, wobei die ENDC auch ein System ent­wickeln soll, um die Umsetzung der zu er­wartenden Empfehlungen zu überwachen.

Das grundsätzliche Design sieht ein drei­stufiges Verfahren vor. Zunächst soll es Veranstaltungen in allen der 769 Distrikte (Woreda) geben, dann auf der Ebene der zwölf Bundesstaaten und der beiden Städte, die sich selbst verwalten (Addis Abeba und Dire Dawa), und schließlich den eigentlichen Dialog auf nationaler Ebene. Bei ihrer Arbeit wird die ENDC von einem Beratungs­ausschuss und einem Sekretariat unterstützt. So sollen den Ver­anstaltungen Expert:innen in Verfassungsfragen beiwohnen, um die Teilnehmer:innen in den Stand zu setzen, eine informierte Diskussion zu führen.

Die Anhörungen auf Woreda-Ebene ver­liefen nach einem einheitlichen Muster. Ko­operationspartner luden einen Querschnitt der Bevölkerung ein, rund 3.000 Per­sonen, die sich in Räumen zu je 50 Diskutant:in­nen austauschten. Nach einer Einweisung bestimmten diese kleineren Gruppen selbst, wer moderiert, berichtet und wer für die nächsthöhere Ebene nomi­niert wird. Die Gruppen wurden nach zehn demografischen und sozioökonomischen Kriterien eingeteilt, also beispielsweise nach ihrer Eigenschaft als Frauen, Jugend­liche, Ver­triebene, Lehrer, Vertreter der Privatwirtschaft, des öffentlichen Sektors oder der Subsistenzwirtschaft (Hirten und Bauern). Kommissionsmitglieder begleiteten diese Sitzungen, die protokolliert und aufgezeich­net wurden zwecks weiterer Aufbereitung.

Auf diese Weise erreichte die ENDC nach eigenen Angaben rund hunderttausend Personen (ursprünglich waren 1,5 Millionen geplant). Bis auf Amhara und Tigray waren demnach alle Bundesstaaten vertreten. Aus 679 Distrikten seien laut Regierung 12.294 Teilnehmer:innnen für die regionalen Kon­ferenzen nominiert worden. Diese Ge­sprächs­runden auf lokaler und regio­naler Ebene dienen lediglich dazu, Agendapunkte zu sammeln und Repräsentant:innen der sozioökonomischen Gruppen für den eigent­lichen Dialog auf nationalem Level zu nominieren. Dabei ist es grundsätzlich die Vorstellung der ENDC, dass nur Themen auf die regio­nale oder nationale Stufe gehoben werden, die nicht bereits in dem jeweils darunter­liegenden Format angegangen werden kön­nen. Außerdem hört die ENDC Mitglieder der äthiopischen Diaspora über Video­konferenzen an und wertet schriftliche Ein­gaben aus.

Eine Herausforderung für die ENDC ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. »Manch­mal wissen wir gar nicht, wo wir starten sollen«, sagte der ENDC-Vorsitzende Mesfin Araya in einem TV-Interview. Es gebe »tonnenweise Agendapunkte«. Einen trans­parenten Mechanismus, wie die vielen Themen gefiltert und aggregiert werden sollen, konnte kein Gesprächspartner nen­nen. Allerdings soll es um Sachfragen von grundsätzlicher Bedeutung gehen, die um­stritten seien. Aus dem regionalen Dialog in Addis Abeba kondensierte die ENDC bei­spielsweise die wichtigsten zehn Themen. Zu diesen gehörten unter anderem der Föderalismus, die nationale Flagge, Streitig­keiten um Land­ansprüche sowie der verfas­sungsrechtliche Status von Addis Abeba.

Erfolgsbedingungen nicht erfüllt

Der nationale Dialog hat derzeit geringe Chancen, seine Ziele zu erreichen. Wenn man die Kriterien für den Erfolg solcher Formate anlegt, die die vergleichende Forschung erarbeitet hat, wird deutlich, dass Äthiopien die meisten nicht erfüllt.

Zentral für das Gelingen eines natio­nalen Dialogs ist die Unterstützung der Initia­tive durch die Bevölkerung und die politi­schen Eliten. Dafür sollte der Prozess in­klusiv und transparent sein und die Kom­mission als unparteiisch wahr­genommen werden. Außerdem sollte er in einem Um­feld stattfinden können, das einen einiger­maßen offenen Aus­tausch und auch Kritik an Staat und Regierung erlaubt, ohne Angst vor Repression haben zu müssen.

Die Glaubwürdigkeit des Dialogs in Äthio­pien leidet darunter, dass einflussreiche politische Kräfte nicht an ihm teilnehmen. Dazu zählen die Oromo Liberation Front (OLF) und der Oromo Federalist Congress (OFC) sowie die TPLF. Insgesamt kooperiert zwar die Mehrheit der oft sehr kleinen Oppositionsparteien in der einen oder anderen Form mit der ENDC, aber andere boykottieren sie. Eine Koalition von elf Oppositionsparteien warf der ENDC im Mai 2024 vor, für »politische Zwecke« in­strumen­talisiert zu werden.

Viele Beobachter:innen haben die Unparteilichkeit der ENDC in Frage gestellt und das Prozedere bei der Ernennung der Kommissar:innen kritisiert. Zwar konnten für diese Posten Vorschläge beim Parlament ein­gereicht werden, aber die Bedin­gung einer akademischen Qualifikation schloss von vornherein lokale und religiöse Füh­rungspersönlichkeiten, junge Menschen und viele Frauen aus. Auf dieses Manko hat beispielsweise die Strategic Initiative for Women in the Horn of Africa, eine regio­nale Frauenrechtsorganisation, hingewiesen.

Die Prosperity Party (PP), die Regierungspartei von Premierminister Abiy, dominiert den Staat auf allen Ebenen. Bereits die Grün­dung der PP 2019 aus drei der vier Parteien (alle außer der TPLF) der EPRDF-Koalition, die Äthiopien seit 1991 regiert hatte, sowie aus Parteien aus anderen Bundesstaaten sollte der Fragmentierung der Bevölkerung entgegenwirken. Die PP ist deutlich zentra­listischer als die EPRDF aufgestellt. Nach eigenen Angaben ist die PP mit 14 Millionen Mitgliedern die größte Partei Afrikas – viele Mitglieder sol­len auch die Konsul­tationen des natio­nalen Dialogs dominiert haben. Die PP stellt mehr als 96 Prozent aller Sitze im Parlament. Einige der Führer der winzigen Oppositions­fraktionen im Parlament arbeiten noch dazu mit der Regierung zusammen, nicht unbedingt zur Zufriedenheit ihrer Mitglieder.

Entsprechend groß ist die Sorge in der Opposition, dass die Regierung den natio­nalen Dialog dazu nutzen könnte, Verfassungsänderungen durchzudrücken oder weitere moderate Flügel von Oppositionsparteien zu kooptieren. Die föderalen Rechte der ethnischen Gruppen und Bundesstaaten könnten eingeschränkt werden und ein Präsidialsystem das derzeitige parlamen­tarische System ablösen. Angesichts der Mehr­heitsverhältnisse ist augenfällig, dass das Parlament als Aufsichtsorgan der ENDC kaum als unabhängig gelten kann. Ein Ver­treter einer Menschenrechtsorganisation begrüßte daher Pläne für ein Präsidial­system, da dieses eine größere Distanz zwischen gesetz­gebender und ausführender Gewalt schaf­fen könne.

Ein Klima für offenen, freien Austausch besteht im Land kaum. Die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt, die Medienöffentlichkeit polarisiert und anfällig für Desinforma­tionskampagnen. Personen mit unliebsamen Meinungen aus Medien und Politik werden entweder ver­haftet oder sogar getötet.

Zivilgesellschaftliche Organisationen haben seit einer Gesetzesänderung von 2019 zwar mehr Rechte, müssen aber wei­terhin mit erheblichen Einschränkungen ihrer Arbeit umgehen. Die für sie zuständige Bundesbehörde gab im Mai 2024 bekannt, dass sie plane, fast der Hälfte der bisher regis­trierten Organisationen die Lizenz zu entziehen, weil sie die gesetzlichen Anforde­rungen nicht erfüllten oder keine Berichte eingereicht hätten. Menschenrechtsorganisationen kritisieren Einschränkungen und Drohungen der Sicherheitskräfte auch bei Auslandsreisen.

Die anhaltende Gewalt in Amhara und Teilen Oromias und die Folgen der Zer­störungen des Kriegs in Tigray beeinträch­tigen die Möglichkeiten des nationalen Dia­logs ebenfalls. Die ENDC hat zwar bewaffnete Gruppen wie die Oromo Liberation Army (OLA) und die Fano in Amhara dazu aufgerufen, sich zu beteiligen, wenn nötig auch über Proxies oder durch Treffen in Drittstaaten. Direkter Kontakt scheint aber schwierig zu sein. Die OLA nannte ihrer­seits konkrete Bedingungen, um an dem Prozess teilzunehmen, insbesondere mehr politische Freiheiten, Friedensverhandlungen und eine unabhängigere Kommission. Genauso wie andere Oppositionskräfte stört sich die bewaffnete Gruppe daran, dass die von der PP dominierten Institutionen den Dialog über­wachen und eventuelle Ergeb­nisse umsetzen sollen. Sie fordern seit langem die Bildung einer Übergangsregierung. Abiy lehnte dies bei der Abschlussveranstaltung des regionalen Dialogs in Addis Abeba Anfang Juni 2024 als undemo­kratisch ab.

Vielleicht der größte Mangel des natio­nalen Dialogs ist jedoch ein fehlender be­gleitender Dialog auf politischer (Eliten)­Ebene. Die Regierung hätte mit den wich­tigsten Vertreter:innen der politisch-ethni­schen Gruppen bzw. Parteien einen Prozess initiieren können, der die Parameter für die Konsultationsverfahren des nationalen Dialogs festgelegt hätte. Das hätte dazu bei­tragen können, dass für den Dialog klarere Ziele festgelegt werden, was eben­falls eine Erfolgsbedingung für diese Art von Initiati­ven ist.

Selbst wenn bei den Veranstaltungen der ENDC tatsächliche Probleme angesprochen werden und es aus Sicht der Opposition effektive Empfehlungen zu ihrer Lösung in den Abschlussbericht der Kommission schaf­fen sollten, fehlt dem Prozess die Legitimität und Autorität, für ihre Umsetzung zu sor­gen. Es ist unwahrscheinlich, dass der nationale Dialog das Vertrauens­defizit von weiten Teilen der Bevölkerung und Eliten in die Regierung signifikant ver­ringern wird. Auch innerhalb der Bevölkerung kann die Initiative wenig Vertrauen schaffen, da er primär auf das vertikale Verhältnis zwischen Staat und sozialen Gruppen aus­gelegt ist, aber auf der lokalen Ebene Vertreter:innen unterschiedlicher Communities gar nicht zusammenbringt.

Ohne einen übergreifenden Konsens besteht jedoch ein großes Risiko, dass die Regierung den nationalen Dialog nutzen wird, um die wichtigsten oppositionellen Kräfte zu umgehen oder gar zu isolieren. Abiy soll beispielsweise die Aufsplitterung weiterer Bundesstaaten anstreben, was die größeren Volksgruppen schwächen würde. Statt einer Atmosphäre der demokratischen Auseinandersetzung könnte der Dialog auf diese Weise der auto­ritären Konsolidierung Vorschub leisten.

Risiken und Chancen für Friedensförderung

Einige, durchaus regierungskritische äthio­pische Gesprächspartner verwiesen ihrer­seits auf die beschriebenen Unzulänglichkeiten des nationalen Dialogs, äußerten sich aber auch besorgt über ein mögliches Schei­tern des Prozesses. Dieses könne erst recht zu mehr Gewalt im Land führen. Einige sprachen sich daher dafür aus, das Beste aus der Gelegenheit zu machen. Gerade im Hinblick auf das Ziel eines zu­künftig fried­lichen Zusammenlebens gilt es, zu verhin­dern, dass das Instrument des Dia­logs insgesamt Schaden nimmt und das gesell­schaft­liche Misstrauen sich weiter erhöht.

Das Ethiopia Peace Observatory, eine internationale Forschungsplattform, weist darauf hin, dass der nationale Dialog für einige Aspekte von Friedensförderung noch konstruktive Effekte erzielen könnte. Als landesweiter Konsultationsprozess er­mög­licht es der nationale Dialog der PP, Infor­mationen über lokale und regionale Miss­stände zu sammeln und auf der Basis dieser Kenntnisse das Vertrauen zwischen Mit­gliedern der PP sowie zur jewei­ligen Ver­wal­tung zu verbessern. Damit könnte die Regierung auch eher in die Lage versetzt werden, Kon­flikte vor Ort zu bear­beiten. Ähnlich verhält es sich in kleineren Regio­nen in der Peripherie, in denen es so fried­lich wie lange nicht mehr ist. Dort hat es erfolgreiche Frie­densprozesse mit bewaffneten Gruppen gegeben, die aber noch fragil sind. In Regionen wie Benishangul-Gumuz, Afar und Somali könnten parallele oder sequentielle Formate des nationalen Dia­logs die dort eingeleitete Neugestaltung der politisch-gesell­schaftlichen Beziehungen begleiten. Im Süden Äthiopiens könnten entsprechende zusätzliche Formate, die sich aus den Konsultationen der ENDC ergeben, den in den letzten Jahren neu gebildeten Regionen helfen, ihre Legitimität zu er­höhen und Konflikten vorzubeugen.

In Amhara, Oromia und Tigray könnte der nationale Dialog dann einen Beitrag zur Konfliktbeilegung leisten, wenn es glaub­würdige Friedens­verhandlungen (mit Fano und der OLA) gäbe bzw. zentrale Teile des Pretoria-Abkommens für Tigray umgesetzt würden. Zumindest Letzteres haben sich TPLF und Regierung zuletzt vorgenommen, einschließlich der geregelten Rückkehr Hun­derttausender Binnenvertriebener in die Gebiete im Westen und Süden Tigrays, die von amharischen Einheiten während des Krieges besetzt wurden. Die Konsulta­tionen könnten für die Volksgruppen der von Konflikten betroffenen Regionen ein Forum bieten, um ihre Vorstellungen von dem Zusammenleben auf nationaler Ebene einzubringen. Freilich kann dies nur gelin­gen, wenn die beteiligten politischen und bewaffneten Gruppen der Unabhängigkeit der ENDC vertrauen, beispielsweise durch die Ernennung weiterer Kommissar:innen in einer zweiten Phase.

Schließlich sollte der nationale Dialog eng mit anderen Initiativen zur Friedensförderung koordiniert werden. Der Natio­nale Sicherheitsrat, dem Abiy vorsitzt, be­kannte sich im April 2024 dazu, die ver­schiedenen Ansätze der Regierung zur Konfliktbearbeitung miteinander ab­zustim­men. Neben dem nationalen Dialog sind dies die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht (Transitional Justice), die Demobilisierung, Entwaffnung und Reinte­gration (DDR) von ehemaligen Kombattant:innen, der Wiederaufbau von Infrastruktur in den Konfliktgebieten, die Stärkung der Straf­verfolgungsbehörden und die Bekämpfung von Desinformation. Der nationale Sicher­heitsrat erwähnte in diesem Zusammenhang aber auch, dass es manchmal not­wendig sei, die Streitkräfte »zur Wahrung des Friedens« einzusetzen. Eine Aufgabe der noch zu gründenden Institutionen der Auf­arbeitung wäre es, die unterschiedlichen historischen Deutungen und Perspektiven zu untersuchen, die wahrscheinlich bereits im Zuge der ENDC-Konsultationen zutage getreten sind.

Die Demobilisierung von Kämpfern, die Auflösung von Milizen und die Aufarbeitung des begangenen Unrechts erfordern ein Grundmaß an Vertrauen in staatliche Institutionen. All diese Maßnahmen sollten in eine integrierte Friedensarchitektur ein­gebettet werden, die auch Dialogformate auf lokaler und regionaler Ebene einschließt. Wer durch Konsultationen, Initiativen und Ankündigungen wiederholt Erwartungen bei Opfern weckt, erhöht auch den Druck, tatsächlich Verbesserungen bei den kon­kreten Lebensbedingungen herbeizuführen. Peacebuilding nur zum Schein dürfte hin­gegen den Ärger, die Frustration und Ent­täuschung in der Bevölkerung weiter schüren.

Letztlich stehen alle Instrumente der Friedensförderung vor ähnlichen Herausforderungen wie der nationale Dialog. Die Regierung, deren Vorgehen selbst maß­geblich (wenn auch nicht allein) Konflikte be­fördert, Misstrauen säht und die Zivil­bevöl­kerung gefährdet, kann die Unabhängigkeit und Effektivität dieser Vorhaben nicht garantieren. Hier gibt es Ansatz­punkte für internationale Akteure.

Implikationen für internationale Akteure

Internationale Akteure unterstützen den nationalen Dialogprozess bereits signifikant. Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) koordiniert die finanzielle und technische Hilfe als Teil eines größeren Programms zur Friedensförderung. Die EU und mehrere Mit­gliedstaaten, einschließlich Deutschlands, sowie Norwegen finanzieren die Arbeit der ENDC über UNDP mit sieben Millionen Euro. Hinzu kommen technische Expertise und Trai­nings durch die Berghof-Stiftung im Auftrag des Auswärtigen Amts und weiterer inter­nationaler Partner, die bereits mehrere Jahre vor Einrichtung der ENDC begannen.

Die internationalen Akteure bemühen sich um einen schwierigen Balanceakt. Einerseits wollen sie mit dem nationalen Dialog ein Instrument der Friedensförderung in einem Kontext stärken, in dem auf Konflikte oft mit Gewalt und Repression reagiert wird. Andererseits verleiht die ex­terne Unterstützung dem Prozess zusätz­liche Legitimität, wie äthiopische Gesprächs­partner bestätigten. Die internationalen Partner sollten sich bewusst sein, dass sie damit auch eine gewisse Verantwortung für die Effektivität des nationalen Dialogs über­nehmen.

Äthiopiens Regierung zu einem konstruk­tiven Umgang mit dem nationalen Dialog und den anderen Mechanismen der Aus­söhnung und Konfliktbearbeitung zu be­wegen, erfordert eine äußerst sensible und überlegte Herangehensweise. Deutschland sollte sich bei der äthiopischen Regie­rung dafür einsetzen, Friedensverhandlungen in Amhara und Oromia voranzutreiben. Solche Bemühungen von Seiten Addis Abebas wie auch Fortschritte bei der Um­setzung des Pretoria-Abkom­mens in Tigray sollten die Voraussetzung für eine weitere internationale Unterstützung des nationalen Dialogs in diesen Regionen sein. In jedem Fall soll­ten Mittel für den Dialog und zur Friedens­förde­rung insgesamt nicht direkt an die Regierung fließen, sondern gezielt und nachvollziehbar den entsprechenden In­stitutionen wie der ENDC und deren Akti­vitäten zukommen.

Äthiopiens internationale Partner sollten den weiteren Verlauf des nationalen Dia­logs genau verfolgen. Im Hinblick auf ihre Haltung zu dem Prozess sollten sie einen engen Aus­tausch mit Oppositions- und Menschenrechtsvertreter:innen pflegen, die differen­ziert auf den Vorgang schauen. Einige Beobachter fordern bereits, den Dia­log­prozess zu pausieren, um ihn zu refor­mieren und um einen Eliten­dialog zu er­gänzen. Die Erfahrung mit anderen Län­dern wie Sudan und Jemen zeigt, dass eine übermäßige externe Unterstützung für einen fehlerhaften nationalen Dialog auto­ritäre Konfliktbearbeitung legitimieren kann. Die internationalen Förderer und Begleiter des nationalen Dialogs sollten darauf achten, zwischen dem Prozess und möglichen dar­aus folgenden Ergebnissen klar zu unter­scheiden. Sie sollten sich von der äthiopischen Führung nicht für Pro­jekte ein­spannen lassen, die keine Ver­besserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung bringen, sondern lediglich der Imagepflege der Regierung dienen sollen.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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