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Die deutsch-tschechischen Beziehungen europäisch nutzen

Ein Bilateralismus mit Mehrwert für die EU

SWP-Aktuell 2022/A 72, 09.11.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A72

Research Areas

Die deutsch-tschechischen Beziehungen fanden in den letzten Jahren wenig Auf­merksamkeit, standen sie doch im Schatten der großen europäischen und interna­tionalen Krisen. Nachdem es 2021 in Berlin und Prag zu Regierungswechseln gekommen ist, hat sich das bilaterale Verhältnis spürbar intensiviert, auch weil der Krieg in der Ukraine eine verstärkte Abstimmung erforderlich machte. Deutschland und die Tschechische Republik weichen zwar bei einer Vielzahl europäischer Fragen voneinander ab, etwa in der Debatte über Zukunft, Erweiterung und Reform der EU oder bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Gleichzeitig aber bestehen zahlreiche Schnittmengen, so dass die Unterschiede keineswegs unüberwindbar sind, zumal beide Länder in der Europapolitik nach wie vor einem pragmatischen Ansatz folgen. Im Gegenteil: Die Spannbreite der Positionen und ein konstruktiver Dialog können die deutsch-tschechischen Beziehungen zu einem der wenigen funktionieren­den Bilateralismen mit europäischem Mehrwert machen.

Die deutsch-tschechischen Beziehungen befinden sich gegenwärtig in einem posi­tiven Zustand. Das ist angesichts historischer Belastungen sowie potentieller Diffe­renzen in der Europa- und Sicherheits­politik keine Selbstverständlichkeit. Anders als im deutsch-polnischen Verhältnis kam es nicht zu Dauerkonflikten und struktu­rellen Erosionen.

Dies heißt nicht, dass in den vergangenen Jahren keine Dissonanzen aufgetreten wären. Bei der Migrationskrise von 2015 standen beide Länder auf unter­schiedlichen Seiten, und die unkoordi­nierten Grenzschließungen im Zuge der Corona-Pande­mie unterbrachen Kontakte zumindest vorübergehend. Die russische Aggression gegen die Ukraine wiederum brachte unter­schiedliche geopolitische Ansätze zum Vorschein – Prag zeigte sich aktiv, Berlin zögerlich. Diese Herausforderungen stellten Belastungstests für den gemeinsamen Umgang dar; sie trieben die beiden Länder aber nicht auseinander. Eine dichte Infra­struktur des bilateralen Austauschs, allen voran der Strategische Dialog zwischen den beiden Regierungen, sowie der Wille, den Kontakt auf hoher politischer Ebene auf­rechtzuerhalten, ermöglichten ein Aus­balancieren von Gegen­sätzen.

Infolge von Parlamentswahlen im Herbst 2021 kam es in beiden Ländern zu Regie­rungswechseln. Auf politischer Ebene ent­fielen dabei zunächst zwei langjährige Konstanten zwischen den Nachbarstaaten – zum einen die persönliche Beziehung von Bun­deskanzlerin Angela Merkel zur Tsche­chi­schen Republik, zum anderen die partei­politische Brückenfunktion zwischen den regierenden Sozialdemokraten auf deut­scher und tschechischer Seite. Die Tschechische Sozialdemokratische Partei (ČSSD) ist nach drei Jahrzehnten nicht ein­mal mehr im Parlament vertreten und damit als Dia­logpartner obsolet. Überdies kam es im parlamentarischen Bereich zu einem um­fassenderen Generationswechsel, so dass hier die traditionelle Vertrautheit verschwunden ist.

Fortführung der Kooperations­agenda

In beiden Ländern entstanden neue Regie­rungsbündnisse. Die Berliner Ampelkoali­tion sprach sich klar für eine pro-europä­ische Politik aus. Sie forderte, die europäische Integration zu vertiefen und die »stra­tegische Souveränität« der EU zu stärken. In Prag bildete sich eine Fünfer­koalition der rechten Mitte. Sie führte die »eurorealistische« Demokratische Bürgerpartei (ODS) des neuen Premiers Petr Fiala mit europafreund­lichen Koali­tionspartnern zusammen, setz­te aber vor allem konservative und pro-atlantische Akzente. Partei­politisch gab es keine größe­ren Berührungs­punkte zwi­schen den bei­den Regierungen. Gleichwohl zeichneten sich von Beginn an gemeinsame Schnittmengen ab, etwa was den Anspruch einer stärker wertegeleiteten Außenpolitik be­trifft. Dies galt insbeson­dere für einen kriti­scheren Umgang mit Russland und China, wie er von einzelnen Regierungs­par­teien in beiden Ländern ge­fordert wurde.

Im ersten Jahr nach den Wahlen belebten sich schon bald die wechselseitigen Beziehungen. Hierzu trugen der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen ebenso bei wie die tschechische EU-Ratspräsident­schaft. So kam es zu bilateralen Treffen zwischen den Leitungen aller bedeutenden Ministerien, darunter der Außen- und der Wirtschaftsressorts. Der Prag-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022 und seine an der Karls-Universität gehaltene Grundsatzrede zur Zukunft der EU wur­den in weiten Teilen der Union wahrgenommen.

Der intensivierte Dialog übersetzte sich in eine Reihe gemeinsamer Projekte. Ein zentrales Thema ist dabei die Energiepolitik. So unterzeichneten die zuständigen Minister eine Erklärung zur Energiesicherheit und -solidarität; zudem wurden die Kapazitäten der zwischen Italien und Deutschland verlaufenden Ölpipeline TAL erweitert, damit auf diesem Wege tschechische Raffinerien mit zusätzlichen Mengen versorgt werden können. Überdies ist an­gestrebt, das Land in einen der geplanten deutschen Terminals für Flüssigerdgas (LNG) einzubinden. Im Bereich von Sicher­heit und Verteidigung vereinbarte man, der Tschechischen Republik 14 deutsche Leopard-2-Panzer zu übergeben, die per Ringtausch tschechische Panzerlieferungen an die Ukraine ersetzen sollen. Ende Juli unterzeichneten die deutsche Außenministerin und ihr tschechischer Amtskollege ein neues Arbeitsprogramm für den Strategischen Dialog in den Jahren 2022–2024, wodurch die Agenda der Regierungskooperation mit zahlreichen Themenfeldern auf operativer Ebene definiert wurde.

Zu einer positiven Arbeitsatmosphäre trug auch der vorwiegend sachliche Stil in der öffentlichen Kommunikation bei. Dass es Unterschiede zwischen Berlin und Prag hinsichtlich der Hilfe für die Ukraine gibt, wurde von tschechischer Seite bis auf weni­ge Ausnahmen nicht zum Gegenstand emo­tionaler Debatten in den Medien gemacht – zumindest nicht durch parteipolitische Protagonisten.

So konnte nach einigen Monaten des Sondierens und der Prager Ungeduld die Weiterentwicklung des deutsch-tschechi­schen Verhältnisses bekräftigt werden. Weiterhin müssen dabei Chancen genutzt werden, um das europapolitische Potential der bilateralen Beziehungen abzurufen. Hierbei sollte sich die deutsche Seite den Nutzen der Zusammenarbeit vergegen­wärtigen, die tschechische Seite hingegen ihre Kooperationshoffnungen immer wieder artikulieren, aber auch realistisch einordnen.

Mehrwert der Zusammenarbeit …

Dass sich weder Krisen und Krieg noch innenpolitische Prozesse negativ auf die deutsch-tschechische Zusammenarbeit aus­gewirkt haben, hängt mit den jeweiligen Interessen und einem überwiegend real­politischen Ansatz in der Berliner wie Pra­ger Europa- und Sicherheitspolitik zusam­men. Nun wird es darum gehen, das hohe Kooperationsniveau fortzuführen und es noch stärker als bislang europa- und außen­politisch zu nutzen.

Pragmatismus und konstruktives Zusam­menwirken haben in der Vergangenheit zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik zu einer unspektakulären Normalität geführt, die für sich ein großer Erfolg war, aber kaum in gemeinsame Ge­staltungsversuche umgemünzt werden konnte. Damit der Schwung der Koopera­tion erhalten bleibt, sollten sich beide Länder des Mehrwerts ihrer Beziehungen be­wusst werden. Dadurch lässt sich den Risiken entgegenwirken, die zu einer Erlah­mung oder Ritualisierung des Miteinanders führen könnten, nämlich schleichende Gleichgültigkeit in Deutschland gegenüber der Zusammenarbeit mit dem kleineren Nachbarn und weltanschauliche Vorbehalte in Teilen des politischen Spektrums auf tschechischer Seite.

... aus deutscher Sicht

Deutschland steht in Ostmitteleuropa wegen seiner Russlandpolitik und seiner Reaktion auf den Krieg in der Ukraine unter Druck. In zahlreichen Ländern kritisiert man die Bundesregierung für ihre Zögerlichkeit, für spät anlaufende Waffenlieferungen, Schwierigkeiten beim Ringtausch oder das Nein zu einer restriktiven Visa­politik gegenüber Russland. Die Zusammenarbeit mit einem regional vergleichsweise wichtigen Land wie Tschechien, das klar ins russlandkritische Lager gehört, verschafft Deutschland in der EU sowie im transatlantischen Verbund ein Mehr an Legitimität.

Die deutschen Beziehungen zu den Ländern in Ostmitteleuropa sind schwierig. Russland- und sicherheitspolitische Diffe­renzen erschweren den Dialog mit Polen, den baltischen Staaten und anderen Län­dern aus Ostmittel-, Südost- und Nordeuropa. Das bilaterale Verhältnis zu Polen und Ungarn ist allein schon wegen des Themas Rechtsstaatlichkeit kompliziert. Im Umgang mit der Warschauer Regierung rücken durch deren Reparationsforderungen wie­der historische Fragen in den Vordergrund. Wird die Zusammenarbeit mit der Tsche­chischen Republik verstärkt, dürfte dies Berlins Beziehungen in die Region insge­samt stabilisieren, da Prag als ein relativ unkomplizierter Partner gelten kann.

Ansatzweise kann das Land dabei auch als Scharnier wirken. In der Vergangenheit wurde eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland, der Tschechischen Republik und der Slowakei in Aussicht gestellt. Durch den Krieg in der Ukraine hat sich mit der »enhanced Vigilance Activity Battle­group«, die im Rahmen der Nato in der Slowakei aufgestellt wurde, eine solche Dreier­kooperation nun auf sicherheitspolitischem Feld herausgebildet. Es böte sich an, das trilaterale Zusammenwirken auf weitere Felder auszudehnen. Auch ließe sich an andere regionale Formate mit deut­scher und tschechischer Beteiligung den­ken. Partizipieren könnte Deutschland etwa an Slavkov (der informellen Zusammen­arbeit zwischen Tschechischer Republik, Slowakei und Österreich) oder an den C5 (den »Cen­tral Five«, einer lockeren Koope­rations­initiative aus Österreich, Tschechischer Republik, Slowakei, Ungarn und Slowenien, die sich unter anderem Fragen von Grenz­schließungen und Migration widmet).

Deutschland benötigt Partner in der EU, will es seinem immer wieder formulierten Gestaltungswunsch in der Europapolitik und seinem deutlich vertretenen Anspruch, als eine europäische Führungsmacht zu handeln, gerecht werden. Doch viele Mit­gliedstaaten – nicht nur aus dem östlichen Teil der Union, sondern auch aus dem Nor­den und dem Süden – stehen den Berliner Vorschlägen zurückhaltend gegenüber. Teils versuchen sie, Kapital aus Deutschlands realer oder vermeintlicher Schwäche zu schlagen. Gerade in dieser Lage ist es wichtig, sich auf funktionierende Partnerschaften verlassen zu können. Eine deutsch-tschechische Kooperation mit aktiver euro­papolitischer Dimension kann für Berlin hilfreich sein, wenn es darum geht, Kom­promisse auszuarbeiten oder einzelne Poli­tiken weiterzuentwickeln – was indirekt den Reformbemühungen der EU zugutekommen kann.

Die Europapolitik der tschechischen Regierung ist indes nüchtern zu betrachten. Zwar gibt es in der Prager Koalition integra­tionsfreundliche Stimmen, doch werden sie gedämpft durch den »eurorealistischen« Kurs der größten Regierungspartei ODS. Der tschechische Premierminister Fiala hat ange­kündigt, er wolle sich künftig stärker mit der neuen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki koordinieren, also zwei Regierungschefs, die Parteien an­ge­hören, die ebenso wie Fialas ODS Teil des nationalkonservativen Bündnisses »Euro­päische Konservative und Reformer« (EKR) sind. Daraus dürfte keine enge Abstimmung zwischen den dreien resultieren. Doch aus deutscher Sicht sind derlei Äuße­rungen – wie die Grundausrichtung gerade der ODS an sich – allerdings auch ein Argu­ment dafür, die Beziehungen mit Prag zu stärken. Denn so bietet sich eine Chance, der Bildung einer EU-skeptischen Gruppe aus Mittel- und Südeuropa entgegenzuwirken bzw. Kontakt mit einem pragmatischen Reprä­sentanten aus dem Kreis der EKR zu halten.

… und aus tschechischem Blickwinkel

Aus tschechischer Perspektive ist Deutschland ein Partner, ohne den eine aktive Poli­tik der EU ebenso wenig möglich ist wie eine Stärkung der Nato in Europa. Angesichts der von Kanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende«, die mit massiven Rüstungsinvestitionen einhergehen soll, könnte die Bundesrepublik demnach eine zentrale Rolle dabei spielen, die Verteidigung der Nato und die sicherheitspolitische Dimension der EU voranzubringen. Deutschland wird aus tschechischer Sicht auch in Zu­kunft keine militärische und sicherheits­politische Führungsmacht sein. Doch viel­leicht darf man ihm zutrauen, eine enabling power zu werden – also ein Staat, der dank seines Potentials und seiner Politik lang­fristig die Handlungsfähigkeit im euro­päischen Pfeiler der Nato steigert, der die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension der EU aufwertet, ohne dadurch die transatlantischen Bindungen aufzuweichen, und der durch gezielte Kooperation mit Partnern deren Verwundbarkeiten reduziert. Zwar bestehen in der Tschechischen Republik durchaus Vorbehalte gegen­über der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), da befürchtet wird, sie könnte die strategischen Bande mit den USA schwächen. Dennoch hat sich das Land aktiv in europäische Initiativen wie etwa die Ständige Strukturierte Zusam­menarbeit (PESCO) eingebracht, an denen auch Deutschland mitwirkt.

Die Tschechische Republik teilt mit Deutschland ein grundlegendes Interesse an einer kohärenten und handlungsfähigen EU bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des transatlantischen Verhältnisses. Als kleiner bzw. mittelgroßer Mitgliedstaat hat die Tschechische Republik nur begrenzte Mög­lichkeiten, die Orientierung der EU oder die Weiterentwicklung ihrer Politiken zu be­einflussen. Jenseits der Zusammenarbeit mit anderen kleineren bis mittleren Staaten ist Deutschland aufgrund seines Gewichts und seiner historisch angeleiteten Integrationsbejahung ein notwendiger Partner für die Tschechische Republik, will sie die Chancen erhöhen, dass ihre europapolitischen Anliegen realisiert werden.

Prag ist allerdings daran interessiert, dass die deutsche Europa- und Sicherheitspolitik ihre Gestaltungs- und Fortentwicklungs­initiativen auch über den Rahmen des deutsch-französischen Tandems hinaus ent­faltet. Der Einfluss Deutschlands und Frank­reichs ist nach dem EU-Austritt Großbritan­niens, das der Tschechischen Republik in vielerlei Hinsicht nahesteht, strukturell gewachsen. Für Prag ist daher die deutsch-französische Zusammenarbeit durch eine gestärkte Rolle Mitteleuropas in der euro­päischen Politik zu ergänzen. Der bessere Weg hierfür ist aus tschechischer Sicht die Kooperation mit Deutschland – und nicht der (etwa von Polen betriebene) Versuch, die Bundesrepublik zu umgehen oder auszutarieren. Die gegenwärtigen Friktionen zwischen Berlin und Paris sind zwar nicht im tschechischen Interesse, da es deutsch-französischer Zwist der europäischen Politik erschwert, in wichtigen The­menfeldern voranzukommen. Doch könn­ten sich manche in Prag erhoffen, dass die deutsch-französischen Misstöne Berlin dafür sensibilisieren, welche Chancen die Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen EU-Staaten – und vor allem mit der Tschechischen Republik selbst – bietet.

Die Bundesrepublik ist aus tschechischer Sicht zwar oft Quelle der Frustration, doch anders als im Fall der USA besteht bei Deutschland nicht das Risiko, dass das Interesse an Europa bzw. der europäischen Sicherheit verlorengeht – wie im Szenario einer amerikanischen Hinwendung nach Asien oder eines Washingtoner Rückzugs in die Innenpolitik. Und anders als Frankreich gilt der Nachbar Deutschland europapolitisch als ein Partner, der gegenüber Ostmit­teleuropa eine interessenbedingte Neigung zu Kooperation und Einbindung hat. Wohl gab es zwischen Prag und Paris während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft kooperative Arbeitsbeziehungen, und die Positionen der beiden Länder über­lappen sich bei einzelnen Themen, so bei der Atomenergie. Dennoch zweifelt man auf tschechischer Seite daran, dass Frankreich ein nachhaltiges Engagement gegenüber Ostmitteleuropa entwickeln kann.

Eine Union, die sich erweitert und reformiert

Ein übergeordnetes Thema, bei dem Deutsch­land und die Tschechische Repub­lik aktiv nach Gemeinsamkeiten suchen sollten, ist die Debatte um Reformen und Zukunft der Europäischen Union. Beide Länder wollen den Erweiterungsprozess revitalisieren und sprechen sich dafür aus, dass sowohl die Länder des Westlichen Balkans als auch die neuen Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau (und vielleicht Georgien) auf ihrem Weg in die EU Fort­schritte machen.

Deutschland hat sich im Zeichen des Ukraine-Krieges und neuer geopolitischer Herausforderungen der traditionell erwei­terungsfreundlichen Tschechischen Repub­lik angenähert. Anders als dort gibt es in Deutschland indes weiterhin Bedenken, was die praktischen Konsequenzen eines raschen und nicht ausreichend vorbereiteten Beitrittsprozesses angeht. Von deutscher Seite werden daher Reformen der EU – wie die Ausweitung von Mehrheits­entscheidungen – zur Bedingung für die Aufnahme neuer Mitglieder gemacht. Die­ses Ansinnen korrespondiert mit deutschen Bestrebungen, die Gemeinschaft durch innere Umbaumaßnahmen handlungsfähiger und international durchsetzungsstärker zu machen. Die jetzige Bundesregierung hatte dieses Ziel schon vor Kriegsbeginn im Koalitionsvertrag von 2021 niedergelegt.

Solche Ansätze sind verständlich, doch werden sie allzu rigide verfolgt, kann dies den Verdacht nähren, Deutschland sei in Wirklichkeit nicht an einer Erweiterung der EU gelegen. Auf die Berliner Politik wartet daher ein schwieriges Manövrieren zwi­schen hohen Ansprüchen an Kandidaten- bzw. Beitrittsländer, einer Hebung der Inte­grationsfähigkeit der Gemeinschaft und der politischen Unterstützung für den Er­wei­terungsprozess. Ohne eine sich konkretisierende Beitrittsperspektive droht die EU an Einfluss, Deutschland wiederum seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

In der Tschechischen Republik hingegen gibt es Widerstand gegen eine weitere »Ver­tiefung« der EU, sei es durch Vertragsänderungen oder auf sonstigen Wegen, etwa um Einstimmigkeitsregeln in der Gemeinsa­men Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hinter sich zu lassen. In einer Rede vor der Botschafterkonferenz seines Landes am 22. August 2022 hat der tschechische Pre­mier in diese Sinne deutlich gemacht, dass er derlei Reformdiskussionen für fehl am Platze halte und das Konsensprinzip in der EU präferiere. Obwohl sich die Tschechische Republik entschlossen für den EU-Beitritt der Ukraine und der Länder des West­balkans einsetzt, wendet sie sich also gegen Strukturreformen in der Entscheidungs­findung. Vergleicht man diese Hal­tung mit dem Tenor der deutschen Debatte oder der Grundsatzrede des deutschen Kanzlers an der Karls-Universität, so wird ersichtlich, dass in den beiden Ländern zwei verschiedene Ansätze verfolgt werden: »Erweiterung nur nach Vertiefung« auf der einen, »Erwei­terung ohne Vertiefung« auf der anderen Seite.

Bei der tschechischen Haltung dürf­ten Grundsatzerwägungen zur Gestalt der EU eine Rolle spielen, aber eben­so Beden­ken, dass zusätzliche Mehrheitsentscheide das deutsch-französische Tan­dem aufwerten könnten – auch wenn dieser Vorbehalt in Prag nicht so explizit ausformuliert wird wie in anderen Mit­gliedstaaten. Der tsche­chische Standpunkt mag legitim sein, setzt Prag aber auch dem Risiko aus, sich in diesen Debatten als ein Akteur wiederzufinden, der bestehenden Vorschlägen nicht zustimmt, ohne eine alternative Vision anzubieten. Dabei droht das Land an Rele­vanz zu verlieren, ebenso an Möglichkei­ten, eigene Positionen zu vertreten, gerade wenn es um Fragen der Erweiterung geht. Die alte Debatte über EU‑Reformen und das Verhältnis von Er­wei­terung zu Vertiefung, die nun in einem neuen Kontext geführt wird, sollte von den beiden Ländern daher offensiv und sichtbar aufgegriffen werden.

Die Gelegenheit beim Schopf packen: Handlungsempfehlungen

Neben allen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und dessen Konsequenzen betref­fen, sollten Deutschland und die Tschechische Republik mit ihren spezifischen Motiv­lagen also die Diskussion stimulieren, in welche Richtung sich die EU weiterentwickeln muss. Mit Blick auf ihre engen öko­nomi­schen Verflechtungen sollten sie sich gleichzeitig um die Zukunftsfähigkeit ihrer Wirtschaftsmodelle im Kontext der EU kümmern und deren Bemühen unterstützen, mehr »europäische Souveränität« im ökonomischen Bereich zu erlangen. Dies sollte einhergehen mit neuen Anstrengungen, den bilateralen Dialog angesichts von Generations- und Themenwechseln zu festigen.

Die Diskussion über die Zukunft der EU inhaltlich voranbringen. Deutschland und die Tsche­chische Republik verfolgen unterschied­liche Visionen, wohin sich die euro­päische Integration langfristig bewegen soll. Die deutsche Seite propagiert eine bundesstaatlich verfasste EU, während die tschechische sich eher an einer Gemeinschaft orientiert, die durch Koexistenz supranationaler und spürbar intergouvernementaler Prinzipien bestimmt wird. In der Praxis haben sich aus diesen Abweichungen keine Konflikte er­geben, weil die Europapolitik hier wie dort immer wieder pragmatisch gestaltet wurde. Die deutschen und die tschechischen Posi­tionen (so vage sie im Einzelnen noch sein mögen) liegen insgesamt weit genug aus­einander, um eine gewisse euro­päische Spannbreite zu entwickeln, sind sich aber zugleich nahe genug, um einen konstruk­tiven Dialog zu ermöglichen. Inso­fern be­ste­hen gute Voraussetzungen, dass Berlin und Prag die Debatte über die Zu­kunft der EU gemeinsam anregen können.

Eine Idee wäre dabei, dass die beiden Regierungen im informellen Rahmen mög­liche Szenarien einer Reform und »Nicht­reform« der EU entwickeln. Entsprechende Überlegungen könnten durch ein gemeinsames Team aus Diplomaten und Fach­leuten umgesetzt werden (eventuell ergänzt um andere Mitgliedstaaten). Im Vordergrund stünde die Frage, ob Reformen wün­schenswert wären, bevor künftig neue Mit­glieder aufgenommen werden, worin diese Reformen gegebenenfalls bestehen sollten und welche davon als unabdingbar zu gelten hätten, um die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern. Damit könnten reformpolitische Notwendigkeiten zwischen zwei Ländern herausgearbeitet werden, die durchaus unterschiedliche Ausgangslagen haben, dabei aber das Ziel teilen, die EU zu erweitern und ihr Handlungsvermögen zu verbessern.

Eine andere Möglichkeit wäre ein »Prague Process« – ein neu zu schaffendes Format, bei dem die Tschechische Republik und Deutschland (sowie möglicherweise andere EU-Staaten) einzelne Mitgliedsländer oder kleine Gruppen dazu einladen wür­den, ihre Ideen vorzustellen. Dabei ginge es – ge­wissermaßen im Nachgang zur Kanz­lerrede an der Karls-Universität – um offene Wort­beiträge zu EU-Reformen sowie Fragen der Vertiefung und Erweiterung, aber auch um Workshops von Diplomaten und Experten, die im Kontext solcher Stel­lungnahmen veranstaltet würden. Dies alles würde dazu dienen, die eventuell einsetzenden proze­duralen Überlegungen zu Vertragsreformen oder anderen Reform­anstrengungen früh­zeitig inhaltlich zu flankieren.

Deutsch-tschechische »Lieferkettendialoge« führen. Die internationale Politik befindet sich in einer Phase, in der die Großmachtkonkurrenz zunimmt, multilaterale Regel­systeme infrage gestellt werden und wirt­schaftliche Interdependenz unter sicherheitspolitischen Aspekten oft bedenklich erscheint. Vor diesem Hintergrund dürfte das Streben nach »strategischer Resilienz« und »europäischer Souveränität« in ökono­mischen Belangen zu einem zentralen The­menfeld deutsch-tschechischer Kooperation der nächsten Jahre werden – sind die bei­den Länder wirtschaftlich doch eng mit­einander verflochten und durch eine starke Außenhandelsorientierung geprägt. Bedeu­tende Zukunftsfragen für Berlin und Prag sind insbesondere die Ausgestaltung und Sicherung von Lieferketten, also ihre Diver­sifizierung, ihre Anfälligkeit und ihre Ver­bindung mit ökologischen oder sozialen Kriterien, ebenso die Sicherung von Res­sourcen für strategische Sektoren. Darauf auswirken wird sich auch die deutsche China-Strategie, die noch auszuformulieren ist. Über Diversifizierung und Versorgungssicherheit auf nationaler wie europäischer Ebene dürfte künftig intensiver nachgedacht werden, etwa im Kontext des geplan­ten europäischen Gesetzes über kritische Rohstoffe. Entsprechende Überlegungen sollten auch im Verhältnis zwischen Berlin und Prag in hervorgehobener Weise ange­stellt werden. Zu empfehlen sind »Liefer­kettendialoge« in den etablierten Gesprächs­formaten sowie in deutsch-tschechischen Debatten, die an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft stattfinden.

Sicherheitspolitik atlantisch und europäisch denken. Beide Länder trachten sicherheits­politisch danach, die transatlantische Zusammenarbeit effektiver zu machen, gleich­zeitig aber auch die europäischen Anstrengungen – in der Nato und der Gemein­samen Sicherheits- und Verteidigungspoli­tik (GSVP) – weiter zu forcieren. Deutschland und die Tschechische Repub­lik könnten im Rahmen des Strategischen Dia­logs bzw. der zuständigen Arbeitsgruppe für Sicherheit und Verteidigung einen strukturierten Austausch über Verteidigungs- und Rüstungsplanung führen. Hier­bei würde vorausschauend darüber gespro­chen, wie die jeweiligen Fähigkeitsprofile zu gestalten bzw. Fähigkeitslücken zu schließen sind; bei gemeinsamen Projekten ließen sich zudem Finanzierungen und Planungshorizonte transparent machen. Dies gilt unter anderem für den Bereich Flugabwehr. Die Tschechische Republik beteiligt sich an der European Sky Shield Initiative (ESSI) und könnte dabei eine enge Abstimmung mit Deutschland demonstrieren, die als Vorbild für andere Teilnehmer dienen würde. Beide Länder könnten über­dies darauf drängen, mittel- und langfristig EU-(Teil-)Finanzierungsmöglichkeiten für ESSI zu entwickeln – und so die EU sicher­heitspolitisch aufzuwerten, allerdings im Sinne der von Prag wie Berlin gewünschten Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato.

Politische Kontakte revitalisieren. Im Zuge des Generationswechsels sind in den ver­gangenen Jahren zahlreiche Politikerinnen und Politiker aus den Parlamenten beider Länder ausgeschieden, die noch durch den historischen Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und der Tschechischen Repub­lik sowie durch das EU-Erweiterungs­gesche­hen geprägt waren. Zwischenzeitlich ergab sich im bilateralen Verhältnis eine un­­spektakuläre Normalität, die das politi­sche Interesse am jeweiligen Nachbarland oft­mals sinken ließ. Ausgenommen hiervon sind grenzüberschreitende Kontakte nicht­staatlicher Art sowie die Beziehungen zwi­schen den angrenzenden deutschen Bun­desländern und der Tschechischen Repub­lik. Zwar besteht ein solides Netzwerk für den Austausch, doch dominieren dabei die Exekutiven und etablierte zivilgesellschaftliche Dialogstrukturen, während es im parlamentarischen Bereich offenkundig Vorbehalte gibt. Diplomatie und Zivilgesellschaft sollten sich bemühen, der parlamentarischen Ebene Einbindungs- und Dialog­offerten zu unterbreiten. Hierbei geht es auch um neue Politikergenerationen, eben­so um sich wandelnde Themenfelder, die beide Länder national, bilateral sowie im europäischen Zusammenhang zunehmend beschäftigen werden, so etwa Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen, der Umgang mit Radikalisierung, Verschwörungstheorien und Hate Speech im Netz oder Herausfor­derungen der digitalen Wirtschaft.

Ausblick

Zwischen Berlin und Prag droht keine Krise. Im Gegenteil – trotz einer Reihe von Inter­essensdifferenzen kann die deutsch-tsche­chische Agenda in schwierigen Zeiten aus­gebaut und fortentwickelt, das bilaterale Verhältnis mithin weiter vertieft werden. Voraussetzung dafür ist, Kooperationsfelder zu definieren und den erforderlichen poli­tischen Willen zu bewahren, daneben aber auch, angesichts der immensen Heraus­forderungen in Europa mit Erwartungen realistisch umzugehen. Deutschland sollte nur das in Aussicht stellen, was es auch leisten kann, etwa bei Fragen der Energie­solidarität oder in der Sicherheitspolitik. Die Tschechische Republik wiederum sollte sich be­wusst sein, dass es von deutscher Seite immer ein Element des Aufmerksamkeitsmangels geben wird, solange Berlin durch anderweitiges europäisches oder bila­terales Problemmanagement absorbiert ist.

Dr. Jakub Eberle ist Forschungsdirektor am Institut für Internationale Beziehungen, Prag.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa der SWP.

Dr. Vladimír Handl ist Dozent am Lehrstuhl für Deutsche und Österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität, Prag.

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