Europa setzt darauf, seine Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik wiederzubeleben. Das verdeutlichen etwa die zahlreichen hochrangigen Besuche aus Deutschland und der EU, die seit Jahresbeginn in lateinamerikanischen Ländern erfolgt sind. Die Europäische Kommission hat Anfang Juni eine »neue Agenda« für den Austausch mit der Region vorgelegt, und im Vormonat brachte die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier zum Ausbau der wechselseitigen Partnerschaft heraus. Frische Impulse für das biregionale Verhältnis soll zudem ein Gipfeltreffen bringen, das EU und CELAC, die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten, im Juli abhalten werden. Damit aus diesen Interessenbekundungen ein substantieller Neustart in den Beziehungen wird, sind jedoch gemeinsam erarbeitete Initiativen erforderlich. Sie werden die Veränderungen im Dreieck von Demokratie, nachhaltiger Entwicklung und Global Governance berücksichtigen und adressieren müssen.
Damit sich die Beziehungen Deutschlands bzw. der EU zu Lateinamerika und der Karibik (LAK) revitalisieren lassen, bedarf es einer Abkehr von überholten Konzepten und Diskursen – denn die regionalen und internationalen Rahmenbedingungen haben sich stark verändert. Zusammen mit den Staaten der Region müssen neue Initiativen entwickelt werden, die gemeinsame Herausforderungen sowie Potentiale der Kooperation identifizieren. Drei Politikfelder eignen sich dafür in besonderem Maße: Bewahrung der Demokratie, nachhaltige Entwicklung und Global Governance.
Gemeinsame demokratische Herausforderungen
Schutz und Stärkung der Demokratie werden sowohl in LAK als auch in der EU zu einer immer dringlicheren Aufgabe. Die Staaten beider Regionen sind zunehmend mit politischer Polarisierung sowie populistischen und antidemokratischen Tendenzen konfrontiert. Der technologische Fortschritt, etwa in Form künstlicher Intelligenz, und dadurch erleichterte Desinformationskampagnen stellen zusätzliche Herausforderungen dar, die es erforderlich machen, neue demokratische Regulierungs- und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Über Wahlprozesse und deren Ergebnisse hinaus werden vielfach die Grundlagen der Demokratie in Frage gestellt. Wo krisenhafte Brüche ausbleiben, erodieren demokratische Verfahren oft schleichend, werden journalistische wie akademische Freiheit verletzt. Aber auch Armut und soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Gewalt gefährden das Vertrauen in die Demokratie.
Die Parteibindung von Wählerinnen und Wählern hat in beiden Regionen stark abgenommen. Wahlpräferenzen werden gesellschaftlich kaum noch durch historisch geronnene Konfliktlinien stabilisiert. Sich überlagernde Krisen und Unsicherheitswahrnehmungen strukturieren sie nur schwach. Das Wahlverhalten wird dadurch volatiler – auch weil es häufig eine Protestform ist. Immer mehr Stimmen wandern an die Ränder des politischen Spektrums. Die Wählerschaft sucht die Lösung ihrer Probleme in extremen Alternativen jenseits der üblichen Optionen.
Überprüfung von EU-Strategien
Lange Zeit galt die EU als Vorkämpferin der Demokratie, auch wenn sie nicht frei war von Doppelstandards und Demokratiedefiziten auf supranationaler Ebene. Demokratie wurde vor allem als »Effekt« verstanden, der außerhalb der EU durch die Aussicht auf einen Beitritt und die hierfür erforderliche Anpassung erreicht werden sollte. Zudem setzte man auf »Wandel durch Handel«. Solche Ansätze eignen sich jedoch nur gegenüber Staaten in der Nachbarschaft bzw. gewichtigen Handelspartnern. Andere EU-Mechanismen zur Demokratieförderung blieben vergleichsweise schwach.
In LAK dominiert ein Bild der EU als normativer Kraft – allerdings nicht selten verbunden mit dem erhobenen Zeigefinger. Zugleich blickt man dort auf Phänomene wie den Brexit, die Erosion der Demokratie in Polen und Ungarn, die Präsenz rechtsextremer Parteien in vielen Parlamenten Europas und das allgemeine Gefühl der Verwundbarkeit, wie es durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelöst wurde. Solche Erscheinungen könnten der EU bei allem Schaden vielleicht auch helfen, ein größeres Verständnis für die Demokratieprobleme in LAK zu entwickeln – so eine in der Region verbreitete Hoffnung.
Diese Einsicht sollte nicht zu demokratischer Indifferenz führen. Doch auch das Gegenteil wäre problematisch. Eine Außenpolitik, die die Welt in Demokratien und Autokratien einteilt, läuft Gefahr, die politische Polarisierung von nationaler auf internationale Ebene auszuweiten. Eine Folge könnte ebenfalls sein, dass fragile Demokratien und hybride Regime in die Defensive geraten, sich abschotten und vom demokratischen Weg abwenden. Nicht globale Konfrontation, sondern kontextsensible Kooperation sollte im Vordergrund stehen.
In Venezuela ist unlängst ein international unterstützter Machtwechsel gescheitert. Nicht zuletzt diese Erfahrung sollte Anlass sein, bisherige (europäische) Formate und Interventionen der externen Demokratieförderung zu überprüfen. Das Bemühen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie von außen zu festigen, hat geringe Erfolgschancen, wenn sich dabei nicht an das Handeln nationaler Akteurinnen und Akteure oder der Diaspora anknüpfen lässt. Problematisch sind auch Konzepte, die als einseitig, interventionistisch, anmaßend oder belehrend wahrgenommen werden. Günstiger ist die Ausgangslage, wenn gemeinsame Probleme im Umgang mit politischer Polarisierung und Radikalisierung thematisiert werden und die Kooperation auch in anderen Bereichen auf demokratischen Prinzipien, Transparenz, Partizipation und (Geschlechter-)Gerechtigkeit basiert. Dann ist es möglich, dass die Zusammenarbeit für Demokratie als dialogischer empfunden wird. Nicht weniger demokratische Werte sind gefragt, sondern mehr Kohärenz, horizontaler Dialog und breite Inklusion.
Förderung demokratischer Problemlösung
Wenig Aussicht auf Erfolg haben Konzepte der Demokratieförderung, die allein bei Institutionen und demokratischen Prozessen ansetzen und den sozialen Kontext vernachlässigen, in den diese eingebettet sind. Die Zusammenarbeit für Demokratie sollte nicht nur auf deren Widerstandsfähigkeit (Resilienz) abzielen, sondern auch auf ihre Leistungsfähigkeit (Performanz). Denn der Anspruch, Krisen überstehen und zu neuen Formen der Stabilität zurückfinden zu können, verblasst in chronischen Situationen ungelöster sozialer Großprobleme.
In der Bevölkerung vieler LAK-Staaten herrscht Unzufriedenheit, weil die Regierungen keine angemessenen Ergebnisse liefern. Folgen sind eine Abwendung von der Politik, soziale Proteste und die regelmäßige Abwahl von Präsidentinnen und Präsidenten – dort, wo Wahlen kompetitiv sind. Als Reaktion darauf entwickeln einige Staatsoberhäupter autoritäre Tendenzen; sie suchen den Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft und Medien einzuschränken, lassen die Opposition verfolgen und wollen so die eigene Wiederwahl absichern. Der Unmut von Bürgerinnen und Bürgern zeigt sich auch darin, dass die allgemeine Zustimmung zur Demokratie abnimmt (wenngleich nur leicht) und eine Machtausweitung der Exekutive zunehmend toleriert wird. Mit deren erweiterten Handlungsspielräumen und Durchgriffsmöglichkeiten verbindet sich in weiten Teilen der Gesellschaft die Hoffnung auf effektivere und schnellere Problemlösungen.
Zivilgesellschaft und Staatsfähigkeit stärken
Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Stärkung von Rechten und der Schutz von Freiräumen sind traditionelle Säulen der Demokratieförderung. Im Fokus stehen dabei etwa Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit oder eine pluralistische Presse. Ein zweiter Schwerpunkt von Demokratieförderung sollte darin bestehen, die staatliche Leistungsfähigkeit auszubauen. Zum einen gilt es dabei Partikularinteressen abzuwehren, also »state capture« oder Korruption vorzubeugen, zum anderen bürgernahe öffentliche Dienstleistungen zu verbessern.
Werden staatliche Kernfunktionen durch transnationale kriminelle Netzwerke unterwandert, wirkt dies einer berechenbaren Umsetzung von Regierungsprogrammen und der Achtung von Bürgerrechten entgegen. Dass illegale Ökonomien, etwa bezogen auf Drogen und Rohstoffe, sich auch im Beziehungsgeflecht zwischen Lateinamerika und Europa eingenistet haben, zeigt die wachsende Aktivität mexikanischer Kartelle auf europäischem Boden.
Neben der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit rücken als dritte Arbeitslinie zunehmend Fragen der alternativen Entwicklung, der geschlechtsspezifischen Gewalt sowie des Menschenhandels und ‑schmuggels in den Vordergrund; die Bekämpfung organisierter Kriminalität und die Verbrechensbekämpfung werden damit Teil demokratiefördernder Anstrengungen. Aber auch Fragen der Regierungsführung, der Legalisierung bisher informeller Wirtschaftsströme, der öffentlichen Gesundheit und der Umweltfolgen krimineller Aktivitäten bilden gemeinsame Herausforderungen.
Nachhaltige Entwicklung
Die direkten und indirekten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben die sozialen Errungenschaften der letzten 20 Jahre in LAK weitgehend zunichte gemacht. Auch wenn die Volkswirtschaften sich mittlerweile erholen, wird das Wachstum 2023 in der Region geringer ausfallen als im Vorjahr. Abgesehen von einigen Ausnahmen wie Mexiko, das derzeit vom »Nearshoring«-Effekt des US-Kapitals profitiert, stagnieren die ausländischen Direktinvestitionen unter dem Vor-Pandemie-Niveau. Dafür verantwortlich sind die inflationären Tendenzen in der Region und weltweit, die hohen Zinssätze und die große Unsicherheit über Dauer und Folgen des Krieges in der Ukraine.
Dabei ist der Anteil privater inländischer Investitionen in LAK traditionell gering. Der fiskalische Spielraum der Regierungen ist unter anderem wegen der Staatsverschuldung begrenzt, die Wirtschaft wiederum stark von ausländischer Technologie abhängig. Da die meisten LAK-Staaten zu den Ländern mittleren Einkommens gehören, gibt es nur eingeschränkten Zugang zu Finanzierungsmitteln mit Vorzugskonditionen. Darüber hinaus müssen sich entwicklungspolitische Anstrengungen an klima- und umweltpolitischen Notwendigkeiten orientieren, was vor allem die Energiewende und neue Mobilitätskonzepte betrifft. Den Anforderungen einer Just Transition entspricht weder ein Wachstum mit Umverteilung im Rahmen eines (unveränderten) extraktivistischen Wirtschaftsmodells – also eines, das auf Abbau von Rohstoffen basiert und mit Umweltzerstörung, Enteignung und Vertreibung von Menschen verbunden ist – noch eine rein konservatorische Umweltpolitik, die sozioökonomische Fragen unberücksichtigt lässt.
Die steigende Nachfrage nach den für die Energiewende (in Europa) notwendigen Ressourcen darf nicht dazu führen, dass LAK erneut auf die Rolle eines Rohstofflieferanten reduziert wird, während die eigene Bevölkerung an begrenzte und veraltete Energiequellen gebunden bleibt. Zwar verfügen einige Länder wie Brasilien und Kolumbien über einen relativ sauberen Energiemix, der stark auf Wasserkraft basiert. Doch reicht diese Energiequelle nicht aus, auch wegen der immer häufiger auftretenden Dürreperioden. Andere Staaten wie Argentinien, Ecuador, Mexiko oder Venezuela hingegen sind bislang in erheblichem Maße von fossilen Energieträgern abhängig und haben entscheidende Weichenstellungen noch vor sich. Auf der Agenda steht der Ausbau von (teurer) Solar- und Windenergie sowie von grünem Wasserstoff. Was vermieden werden muss, ist ein »grüner Extraktivismus«, der auf Wasserstoffexporte nach Europa ausgerichtet ist, ohne die Energietransition im eigenen Land zu berücksichtigen.
Der »grüne Wandel« im Rahmen des Global-Gateway-Ansatzes der EU und die Standards des europäischen Green Deal müssen mit der Region verhandelt werden, ansonsten bleiben sie eine bloße Anordnung von europäischer Seite. Die LAK-Staaten können zwar den zuverlässigen Zugang zu einer Reihe strategischer Rohstoffe gewährleisten, erwarten jedoch andererseits höhere Wertschöpfungseffekte im nationalen und regionalen Rahmen.
Umgestaltung der Wirtschaft
Der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise muss nicht nur die unterschiedlichen Grade an Verantwortung berücksichtigen, die einzelne Regionen für den Klimawandel tragen, sondern auch eine gemeinsame, kooperative, bedarfs- und kapazitätsgerechte Gestaltung zum Ziel haben. Hier kann die EU das notwendige Kapital und die erforderlichen Technologien beisteuern. Der Wissenstransfer sollte jedoch in beide Richtungen erfolgen: Die wertvolle Expertise und Erfahrung lokaler und indigener Gemeinschaften muss anerkannt und genutzt werden.
LAK ist nach Nordamerika die Region mit dem zweithöchsten Urbanisierungsgrad weltweit (2018: ca. 81 Prozent). Lange Pendelzeiten aufgrund großer Entfernungen, überfüllte öffentliche Verkehrsmittel und Staus gehören zum Alltag. Hier liegen auch viele der Städte mit den weltweit höchsten Mordraten. Gleichzeitig werden mehr als 70 Prozent des nationalen Güterverkehrs in LAK auf der Straße abgewickelt, und der Anteil des Straßenverkehrs am Handel zwischen den Ländern der Region nimmt zu. Diese komplexe Situation erfordert neue Mobilitäts- und Stadtplanungskonzepte, die den Transport- und Sicherheitsbedürfnissen verschiedener Personengruppen gerecht werden. Die EU und LAK könnten daran gemeinsam arbeiten.
Testfall EU-Mercosur-Abkommen
Eine Nagelprobe für das neue Engagement im Verhältnis der beiden Regionen wird sein, wie mit dem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) von 2019 umgegangen wird. Kann es gelingen, ein zusätzliches Instrument mit Verpflichtungen zum Umweltschutz zu formulieren bzw. sanktionierbare Nachhaltigkeitsstandards in den Text zu integrieren, ohne dass daran – trotz entsprechender Widerstände in der EU und LAK – die noch ausstehende Ratifizierung des Abkommens scheitern wird? Entscheidend ist, ob beide Seiten es schaffen, gemeinsam handelspolitische Nachhaltigkeitsregeln für das Abkommen zu entwickeln und Wege aufzuzeigen, wie sich Arbeits- und Umweltschutzvorgaben einhalten lassen. Beabsichtigt wird, das Abkommen »aufzuspalten« – in Freihandelsregeln, die zu weiten Teilen vorläufig angewendet werden könnten, und die verbleibenden Bestimmungen, denen die Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Ob dies ein gangbarer (Umgehungs-)Weg ist, sollte offen und transparent diskutiert werden.
Angesichts der wachsenden Präsenz Chinas in LAK argumentieren einige Beobachterinnen und Beobachter, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten in der Region an Attraktivität gewinnen könnten, wenn sie ihren »normativen Rucksack« leichter machen würden – zu dem Demokratieförderung und Konditionalität in der Entwicklungszusammenarbeit ebenso gehören wie Sozial- und Umweltstandards bei Handel und Investitionen. Orientieren solle man sich daher an Pekings weniger voraussetzungsreichen Angeboten. Ein solcher Ansatz ist jedoch nicht nur aus einer Just-Transition-Perspektive problematisch, sondern auch impraktikabel, denn China agiert in LAK – etwa was staatlich gelenkte Banken und Investitionen betrifft – unter Bedingungen, die für die EU nicht gegeben sind. Vielmehr muss die europäisch-lateinamerikanische Zusammenarbeit ihre eigene Qualität haben; sie sollte Raum bieten für eine Diskussion unterschiedlicher Sichtweisen, für gemeinsame Lernprozesse, die kooperative Entwicklung von Normen und eine entsprechende Anpassung. Dass die EU-Kommission sich in ihrer Agenda offen dafür zeigt, über europäische Rechtsvorschriften zu sprechen, die von der Entwaldungsrichtlinie und CO2-Grenzausgleich bis zu phytosanitären Vorschriften reichen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wünschenswert wäre, dass es zur Regel in der angestrebten »erneuerten Partnerschaft« wird, Standards gemeinsam zu entwickeln.
Dabei ist wichtig, dass die Zivilgesellschaften einbezogen werden, um sie für eine grüne Transformation zu gewinnen, die mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Wenn durch lokale Dialog- und Planungsforen der Ausstieg aus fossilen Energien gestützt wird, könnte es auch leichter werden, Umweltkriminalität zu bekämpfen und darin gebundene Finanzmittel freizusetzen.
Global Governance
Der Grad an intergouvernementaler Zusammenarbeit in LAK ist derzeit auffallend gering. Die Rolle der regionalen Organisationen stagniert. Sie fungieren weder als relevanter Handlungsrahmen noch als Dialogforen, in denen sich Präsidenten und Präsidentinnen divergierender politischer Ausrichtung begegnen würden. Der kleinste gemeinsame Nenner, der etwa innerhalb der CELAC erreicht wird, ist keine fruchtbare Basis für substantielle Initiativen.
In LAK fehlt ein breiter Konsens über die regionale und internationale Agenda. Zusätzlich erschwert wird das Einvernehmen durch die Großmachtkonkurrenz zwischen den USA und China sowie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Verletzungen demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien lassen sich unter linken wie konservativen Regierungen beobachten. Und mit Machtwechseln geht oft ein starker Politikwechsel einher, was einer langfristigen Kooperation entgegensteht.
Kooperation funktional ausrichten
In Abkehr von früheren biregionalen Strategien sollten neue Ansätze der Kooperation zwischen EU und LAK auf einer niedrigeren Ebene angesiedelt werden. Sie sollten sich weniger strukturell auf regionale Organisationen als funktional auf Themen oder Sektoren konzentrieren, die geeignet sind, Länder mit Gestaltungswillen und ‑kapazität für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.
Oberhalb dieser Kooperationslogik können biregionale Gipfeltreffen wie EU-CELAC dazu dienen, Austausch und gegenseitiges Interesse zu reaktivieren. Der angestrebte vielschichtige und flexible Ansatz der EU, der die Diversität der Region aufnimmt, deutet in die richtige Richtung. Unterschiedliche Sichtweisen und Prioritäten müssen diskutiert werden. Dabei sollte sich die EU von der Illusion verabschieden, die LAK-Region sei immer »auf ihrer Seite«. So zeugt die Erwartung, dass Brasilien die EU-Sanktionen gegen Russland mitträgt (und Munition an die Ukraine liefert), von fehlender Augenhöhe in den Beziehungen. Sichtbar wird hier auch die Unkenntnis des brasilianischen Anspruchs, sich als internationaler Vermittler im BRICS-Verbund zu profilieren.
Bündnisbildung im UN-Rahmen
Neben biregionalen Gipfeltreffen und einer verstärkten funktionalen Zusammenarbeit auf subregionaler Ebene erscheint es sinnvoll, eine variable, themenbezogene Strategie zur Bündnisbildung im Rahmen der UN zu intensivieren. Ein Beispiel dafür ist die Equal Rights Coalition (ERC), eine zwischenstaatliche Organisation, die 42 Mitgliedstaaten hat und sich unter starker Beteiligung der Zivilgesellschaft für den Schutz der Rechte von LGBTI-Personen einsetzt. Der ERC-Vorsitz wird von zwei Mitgliedstaaten gemeinsam geführt, im Zeitraum 2022–2024 sind dies Deutschland und Mexiko. Darüber hinaus gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit anderen LAK-Staaten, die der Koalition angehören, vor allem mit Argentinien (weitere Mitglieder sind Chile, Costa Rica, Ecuador und Uruguay).
Auch bestehen Ansatzpunkte, um im Kontext von Global Governance gemeinsame Positionen zu entwickeln. Dazu gehört die jüngste Initiative Boliviens und Kolumbiens, das Kokablatt und seine organischen Nebenprodukte von der Liste der gefährlichen Substanzen des internationalen Einheitsabkommens über die Betäubungsmittel zu streichen, ebenso der Kurs der Bundesregierung in Richtung einer Legalisierung von Cannabis. Dass LAK sich als ein strategisches Zentrum politischen Denkens und Handelns positioniert, sollte ernst genommen werden, denn die Region versucht, eine grundsätzliche Revision der globalen Drogenpolitik auf die Tagesordnung zu setzen.
Das Dreieck ausbalancieren
Es ist kein Zufall, dass sowohl Deutschland als auch die EU ihre auswärtigen Interessen verstärkt nach Westen ausrichten. Das Gewaltszenario im Osten und damit verbunden eine zunehmend kritische Lesart der Beziehungen zu China veranlassen beide, ihre Außenpolitik diplomatisch und materiell zu diversifizieren. In diesem Kontext soll die Kooperation mit LAK substantieller werden. In Zeiten der Konfrontation stehen politische Verbündete hoch im Kurs, ebenso Rohstoff- und Energiepartnerschaften für ökonomisch-ökologische Zukunftsprojekte.
Eine Reaktivierung der Beziehungen zu LAK wird aber nicht gelingen, ohne Einstellungen und Konzepte diesseits des Atlantiks zu ändern. Dies sollte weniger versprochen als gelebt werden. Dazu gehört, Differenzen offen zu diskutieren, etwa im Umgang mit dem Ukraine-Krieg. Es deutet indes eher auf einen Rückfall in eurozentrische Haltungen, dass eine verurteilende Referenz auf die russische Invasion in die offiziellen Vereinbarungen zur Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland und seinen Kooperationsländern aufgenommen wurde.
Solchen Ungleichgewichten gilt es entgegenzuwirken, während in der Kooperation zugleich eine Balance zwischen Demokratie, nachhaltiger Entwicklung und Global Governance gefunden werden muss. Erforderlich ist eine systemische Sichtweise, die die Spannungsverhältnisse und Interdependenzen zwischen diesen Bereichen erkennt. Das wiederum setzt voraus, reduktionistische Ressortlogiken zu überwinden, indem man sie in umfassende Regional- und Länderstrategien integriert. Entwickelt werden sollten diese im Dialog mit den LAK-Staaten unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika. Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts »Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«.
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DOI: 10.18449/2023A38