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Die Augen gen Westen

Lateinamerika und die Karibik im Fokus Deutschlands und der EU

SWP-Aktuell 2023/A 38, 16.06.2023, 6 Pages

doi:10.18449/2023A38

Research Areas

Europa setzt darauf, seine Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik wiederzu­beleben. Das verdeutlichen etwa die zahlreichen hochrangigen Besuche aus Deutsch­land und der EU, die seit Jahresbeginn in lateinamerikanischen Ländern erfolgt sind. Die Europäische Kommission hat Anfang Juni eine »neue Agenda« für den Austausch mit der Region vorgelegt, und im Vormonat brachte die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier zum Ausbau der wechselseitigen Partnerschaft heraus. Frische Im­pulse für das biregionale Verhältnis soll zudem ein Gipfeltreffen bringen, das EU und CELAC, die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten, im Juli abhalten werden. Damit aus diesen Interessenbekundungen ein substantieller Neu­start in den Beziehungen wird, sind jedoch gemeinsam erarbeitete Initiativen er­forderlich. Sie werden die Veränderungen im Dreieck von Demokratie, nachhaltiger Entwicklung und Global Governance berücksichtigen und adressieren müssen.

Damit sich die Beziehungen Deutschlands bzw. der EU zu Lateinamerika und der Karibik (LAK) revitalisieren lassen, bedarf es einer Abkehr von überholten Konzepten und Diskursen – denn die regionalen und internationalen Rahmenbedingungen haben sich stark verändert. Zusammen mit den Staaten der Region müssen neue Initia­tiven entwickelt werden, die gemein­same Herausforderungen sowie Potentiale der Kooperation identifizieren. Drei Politik­felder eignen sich dafür in besonderem Maße: Bewahrung der Demokratie, nachhaltige Entwicklung und Global Governance.

Gemeinsame demokratische Herausforderungen

Schutz und Stärkung der Demokratie wer­den sowohl in LAK als auch in der EU zu einer immer dringlicheren Aufgabe. Die Staaten beider Regionen sind zunehmend mit politischer Polarisierung sowie populis­tischen und antidemokratischen Tendenzen konfrontiert. Der technologische Fort­schritt, etwa in Form künstlicher Intelli­genz, und dadurch erleichterte Desinforma­tionskam­pagnen stellen zusätzliche Her­ausforderun­gen dar, die es erforderlich machen, neue demokratische Regulierungs- und Bewälti­gungsstrategien zu entwickeln. Über Wahl­prozesse und deren Ergebnisse hinaus wer­den vielfach die Grundlagen der Demokra­tie in Frage gestellt. Wo krisenhafte Brüche ausbleiben, erodieren demokratische Ver­fahren oft schleichend, werden journalis­tische wie akademische Freiheit verletzt. Aber auch Armut und soziale Ungerechtig­keit, Korruption und Gewalt gefährden das Vertrauen in die Demokratie.

Die Parteibindung von Wählerinnen und Wählern hat in beiden Regionen stark ab­genommen. Wahlpräferenzen werden ge­sellschaftlich kaum noch durch historisch geronnene Konfliktlinien stabilisiert. Sich überlagernde Krisen und Unsicherheits­wahrnehmungen strukturieren sie nur schwach. Das Wahlverhalten wird dadurch volatiler – auch weil es häufig eine Protest­form ist. Immer mehr Stimmen wandern an die Ränder des politischen Spektrums. Die Wählerschaft sucht die Lösung ihrer Prob­leme in extremen Alternativen jenseits der üblichen Optionen.

Überprüfung von EU-Strategien

Lange Zeit galt die EU als Vorkämpferin der Demokratie, auch wenn sie nicht frei war von Doppelstandards und Demokratie­­defi­ziten auf supranationaler Ebene. Demokra­tie wurde vor allem als »Effekt« verstanden, der außerhalb der EU durch die Aussicht auf einen Beitritt und die hierfür erforder­liche Anpassung erreicht werden sollte. Zu­dem setzte man auf »Wandel durch Han­del«. Solche Ansätze eignen sich jedoch nur gegenüber Staaten in der Nachbarschaft bzw. gewichtigen Handelspartnern. Andere EU-Mechanismen zur Demokratieförderung blieben vergleichsweise schwach.

In LAK dominiert ein Bild der EU als normativer Kraft – allerdings nicht selten verbunden mit dem erhobenen Zeigefinger. Zugleich blickt man dort auf Phänomene wie den Brexit, die Erosion der Demokratie in Polen und Ungarn, die Präsenz rechts­extremer Parteien in vielen Parlamenten Europas und das allgemeine Gefühl der Verwundbarkeit, wie es durch die russische Invasion in der Ukraine ausgelöst wurde. Solche Erscheinungen könnten der EU bei allem Schaden vielleicht auch helfen, ein größeres Verständnis für die Demokratie­probleme in LAK zu entwickeln – so eine in der Region verbreitete Hoffnung.

Diese Einsicht sollte nicht zu demokra­tischer Indifferenz führen. Doch auch das Gegenteil wäre problematisch. Eine Außen­politik, die die Welt in Demokratien und Autokratien einteilt, läuft Gefahr, die politi­sche Polarisierung von nationaler auf inter­nationale Ebene auszuweiten. Eine Folge könnte ebenfalls sein, dass fragile Demo­kratien und hybride Regime in die Defen­si­ve geraten, sich abschotten und vom demo­kratischen Weg abwenden. Nicht glo­bale Konfrontation, sondern kontext­sensib­le Kooperation sollte im Vordergrund stehen.

In Venezuela ist unlängst ein internatio­nal unterstützter Machtwechsel gescheitert. Nicht zuletzt diese Erfahrung sollte Anlass sein, bisherige (europäische) Formate und Interventionen der externen Demokratie­förderung zu überprüfen. Das Bemühen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie von außen zu festigen, hat geringe Erfolgschan­cen, wenn sich dabei nicht an das Handeln nationaler Akteurinnen und Akteure oder der Diaspora anknüpfen lässt. Problema­tisch sind auch Konzepte, die als einseitig, interventionistisch, anmaßend oder beleh­rend wahrgenommen werden. Günstiger ist die Ausgangslage, wenn gemeinsame Prob­leme im Umgang mit politischer Polarisie­rung und Radikalisierung thematisiert wer­den und die Kooperation auch in anderen Bereichen auf demokratischen Prinzipien, Transparenz, Partizipation und (Geschlech­ter-)Gerechtigkeit basiert. Dann ist es mög­lich, dass die Zusammenarbeit für Demo­kratie als dialogischer empfunden wird. Nicht weniger demokratische Werte sind gefragt, sondern mehr Kohärenz, horizon­taler Dialog und breite Inklusion.

Förderung demokratischer Problemlösung

Wenig Aussicht auf Erfolg haben Konzepte der Demokratieförderung, die allein bei Institutionen und demokratischen Prozes­sen ansetzen und den sozialen Kontext ver­nachlässigen, in den diese eingebettet sind. Die Zusammenarbeit für Demokratie sollte nicht nur auf deren Widerstands­fähigkeit (Resilienz) abzielen, sondern auch auf ihre Leistungsfähigkeit (Performanz). Denn der Anspruch, Krisen überstehen und zu neuen Formen der Stabilität zurückfin­den zu kön­nen, verblasst in chronischen Situationen ungelöster sozialer Groß­probleme.

In der Bevölkerung vieler LAK-Staaten herrscht Unzufriedenheit, weil die Regie­rungen keine angemessenen Ergebnisse lie­fern. Folgen sind eine Abwendung von der Politik, soziale Proteste und die regel­mäßi­ge Abwahl von Präsidentinnen und Präsi­denten – dort, wo Wahlen kom­petitiv sind. Als Reaktion darauf entwickeln einige Staatsoberhäupter autoritäre Tenden­zen; sie suchen den Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft und Medien einzu­schrän­ken, lassen die Opposition verfolgen und wollen so die eigene Wiederwahl ab­sichern. Der Unmut von Bürgerinnen und Bürgern zeigt sich auch darin, dass die all­gemeine Zustimmung zur Demokratie ab­nimmt (wenngleich nur leicht) und eine Machtaus­weitung der Exekutive zu­nehmend toleriert wird. Mit deren erwei­terten Handlungs­spielräumen und Durch­griffsmöglichkeiten verbindet sich in wei­ten Teilen der Gesell­schaft die Hoffnung auf effektivere und schnellere Problem­lösungen.

Zivilgesellschaft und Staats­fähigkeit stärken

Die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Stärkung von Rechten und der Schutz von Freiräumen sind tradi­tionelle Säulen der Demokratieförde­rung. Im Fokus stehen dabei etwa Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit oder eine pluralis­tische Presse. Ein zweiter Schwerpunkt von Demokratieförderung sollte darin bestehen, die staatliche Leistungsfähigkeit auszu­bauen. Zum einen gilt es dabei Partikular­interessen abzuwehren, also »state capture« oder Korruption vorzubeugen, zum ande­ren bürgernahe öffentliche Dienstleistun­gen zu verbessern.

Werden staatliche Kernfunktionen durch transnationale kriminelle Netzwerke unter­wandert, wirkt dies einer berechenbaren Umsetzung von Regierungsprogrammen und der Achtung von Bürgerrechten ent­gegen. Dass illegale Ökonomien, etwa bezo­gen auf Drogen und Rohstoffe, sich auch im Beziehungsgeflecht zwischen Latein­ame­rika und Europa eingenistet haben, zeigt die wachsende Aktivität mexikanischer Kartelle auf europäischem Boden.

Neben der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit rücken als dritte Arbeits­linie zunehmend Fragen der alternativen Entwicklung, der geschlechtsspezifischen Gewalt sowie des Menschenhandels und ‑schmuggels in den Vordergrund; die Bekämpfung organisierter Kriminalität und die Verbrechensbekämpfung werden damit Teil demokratiefördernder Anstrengungen. Aber auch Fragen der Regierungsführung, der Legalisierung bisher informeller Wirt­schaftsströme, der öffentlichen Gesundheit und der Umweltfolgen krimineller Aktivitä­ten bilden gemeinsame Herausforderungen.

Nachhaltige Entwicklung

Die direkten und indirekten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben die sozialen Errungenschaften der letzten 20 Jahre in LAK weitgehend zunichte gemacht. Auch wenn die Volkswirtschaften sich mittler­weile erholen, wird das Wachstum 2023 in der Region geringer ausfallen als im Vor­jahr. Abgesehen von einigen Ausnahmen wie Mexiko, das derzeit vom »Nearshoring«-Effekt des US-Kapitals profitiert, stagnieren die ausländischen Direktinvestitionen unter dem Vor-Pandemie-Niveau. Dafür verant­wortlich sind die inflationären Ten­denzen in der Region und weltweit, die hohen Zins­sätze und die große Unsicher­heit über Dauer und Folgen des Krieges in der Ukraine.

Dabei ist der Anteil privater inländischer Investitionen in LAK traditionell gering. Der fiskalische Spielraum der Regierungen ist unter anderem wegen der Staatsverschul­dung begrenzt, die Wirtschaft wiederum stark von ausländischer Technologie abhän­gig. Da die meisten LAK-Staaten zu den Län­dern mittleren Einkommens gehören, gibt es nur eingeschränkten Zugang zu Finan­zierungsmitteln mit Vorzugskonditionen. Darüber hinaus müssen sich entwicklungs­politische Anstrengungen an klima- und umweltpolitischen Notwendigkeiten orien­tieren, was vor allem die Energiewende und neue Mobilitätskonzepte betrifft. Den An­forderungen einer Just Transition ent­spricht weder ein Wachstum mit Umverteilung im Rahmen eines (unveränderten) extraktivis­tischen Wirtschaftsmodells – also eines, das auf Abbau von Rohstoffen basiert und mit Umweltzerstörung, Enteignung und Vertreibung von Menschen verbunden ist – noch eine rein konservatorische Umwelt­politik, die sozioökonomische Fragen un­berücksichtigt lässt.

Die steigende Nachfrage nach den für die Energiewende (in Europa) notwendigen Res­sourcen darf nicht dazu führen, dass LAK erneut auf die Rolle eines Rohstoff­lieferan­ten reduziert wird, während die eigene Be­völkerung an begrenzte und veraltete Ener­giequellen gebunden bleibt. Zwar verfügen einige Länder wie Brasilien und Kolumbien über einen relativ sauberen Energiemix, der stark auf Wasserkraft basiert. Doch reicht diese Energiequelle nicht aus, auch wegen der immer häufiger auftretenden Dürre­perioden. Andere Staaten wie Argentinien, Ecuador, Mexiko oder Venezuela hingegen sind bislang in erheblichem Maße von fossi­len Energieträgern abhängig und haben entscheidende Weichenstellungen noch vor sich. Auf der Agenda steht der Ausbau von (teurer) Solar- und Windenergie sowie von grünem Wasserstoff. Was vermieden wer­den muss, ist ein »grüner Extraktivismus«, der auf Wasserstoffexporte nach Europa ausgerichtet ist, ohne die Energietransition im eigenen Land zu berücksichtigen.

Der »grüne Wandel« im Rahmen des Global-Gateway-Ansatzes der EU und die Standards des europäischen Green Deal müssen mit der Region verhandelt werden, ansonsten bleiben sie eine bloße Anord­nung von europäischer Seite. Die LAK-Staaten können zwar den zuverlässigen Zugang zu einer Reihe strategischer Roh­stoffe gewährleisten, erwarten jedoch andererseits höhere Wertschöpfungseffekte im nationalen und regionalen Rahmen.

Umgestaltung der Wirtschaft

Der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise muss nicht nur die unter­schiedlichen Grade an Verantwortung be­rücksichtigen, die einzelne Regionen für den Klimawandel tragen, sondern auch eine gemeinsame, kooperative, bedarfs- und kapazitätsgerechte Gestaltung zum Ziel haben. Hier kann die EU das notwendige Kapital und die erforderlichen Technolo­gien beisteuern. Der Wissenstransfer sollte jedoch in beide Richtungen erfolgen: Die wertvolle Expertise und Erfahrung lokaler und indigener Gemeinschaften muss an­erkannt und genutzt werden.

LAK ist nach Nordamerika die Region mit dem zweithöchsten Urbanisierungsgrad weltweit (2018: ca. 81 Prozent). Lange Pen­delzeiten aufgrund großer Entfernungen, überfüllte öffentliche Verkehrsmittel und Staus gehören zum Alltag. Hier liegen auch viele der Städte mit den weltweit höchsten Mordraten. Gleichzeitig werden mehr als 70 Prozent des nationalen Güterverkehrs in LAK auf der Straße abgewickelt, und der Anteil des Straßenverkehrs am Handel zwischen den Ländern der Region nimmt zu. Diese komplexe Situation erfordert neue Mobilitäts- und Stadtplanungs­konzepte, die den Transport- und Sicher­heits­bedürfnissen verschiedener Personen­grup­pen gerecht werden. Die EU und LAK könn­ten daran gemeinsam arbeiten.

Testfall EU-Mercosur-Abkommen

Eine Nagelprobe für das neue Engagement im Verhältnis der beiden Regionen wird sein, wie mit dem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) von 2019 um­gegangen wird. Kann es gelingen, ein zu­sätzliches Instrument mit Verpflichtungen zum Umweltschutz zu formulieren bzw. sanktionierbare Nachhaltigkeitsstandards in den Text zu integrieren, ohne dass daran – trotz entsprechender Widerstände in der EU und LAK – die noch ausstehende Ratifi­zierung des Abkommens scheitern wird? Entscheidend ist, ob beide Seiten es schaf­fen, gemeinsam handelspoli­tische Nach­hal­tigkeitsregeln für das Ab­kommen zu ent­wickeln und Wege aufzu­zeigen, wie sich Arbeits- und Umwelt­schutzvorgaben ein­halten lassen. Beabsich­tigt wird, das Ab­kom­men »aufzuspalten« – in Freihandels­regeln, die zu weiten Teilen vorläufig ange­wendet werden könnten, und die verblei­benden Bestimmungen, denen die Mitglied­staaten zustimmen müssen. Ob dies ein gangbarer (Umge­hungs-)Weg ist, sollte offen und transparent diskutiert werden.

Angesichts der wachsenden Präsenz Chinas in LAK argumentieren einige Beob­achterinnen und Beobachter, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten in der Region an Attraktivität gewinnen könnten, wenn sie ihren »normativen Rucksack« leichter machen würden – zu dem Demokratie­förderung und Konditionalität in der Ent­wicklungszusammenarbeit ebenso gehören wie Sozial- und Umweltstandards bei Han­del und Investitionen. Orientieren solle man sich daher an Pekings weniger voraus­setzungsreichen Angeboten. Ein solcher Ansatz ist jedoch nicht nur aus einer Just-Transition-Perspektive problematisch, son­dern auch impraktikabel, denn China agiert in LAK – etwa was staatlich gelenkte Ban­ken und Investitionen betrifft – unter Be­dingungen, die für die EU nicht gegeben sind. Vielmehr muss die europäisch-latein­amerikanische Zusammenarbeit ihre eigene Qualität haben; sie sollte Raum bieten für eine Diskussion unterschiedlicher Sicht­weisen, für gemeinsame Lernprozesse, die kooperative Entwicklung von Normen und eine entsprechende Anpassung. Dass die EU-Kommission sich in ihrer Agenda offen dafür zeigt, über europäische Rechtsvor­schriften zu sprechen, die von der Entwal­dungsrichtlinie und CO2-Grenzaus­gleich bis zu phytosanitären Vorschriften reichen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wün­schenswert wäre, dass es zur Regel in der angestrebten »erneuerten Partnerschaft« wird, Standards gemeinsam zu entwickeln.

Dabei ist wichtig, dass die Zivilgesell­schaften einbezogen werden, um sie für eine grüne Transformation zu gewinnen, die mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Wenn durch lokale Dialog- und Planungs­foren der Ausstieg aus fossilen Energien ge­stützt wird, könnte es auch leichter wer­den, Umweltkriminalität zu bekämpfen und darin gebundene Finanzmittel freizusetzen.

Global Governance

Der Grad an intergouvernementaler Zusam­menarbeit in LAK ist derzeit auffallend gering. Die Rolle der regionalen Organisa­tionen stagniert. Sie fungieren weder als relevanter Handlungsrahmen noch als Dia­logforen, in denen sich Präsidenten und Präsidentinnen divergierender politischer Ausrichtung begegnen würden. Der kleinste gemeinsame Nenner, der etwa innerhalb der CELAC erreicht wird, ist keine frucht­bare Basis für substantielle Initiativen.

In LAK fehlt ein breiter Konsens über die regionale und internationale Agenda. Zu­sätzlich erschwert wird das Einvernehmen durch die Großmachtkonkurrenz zwischen den USA und China sowie Russlands An­griffskrieg gegen die Ukraine. Verletzungen demokratischer und rechtsstaatlicher Prin­zipien lassen sich unter linken wie konser­vativen Regierungen beobachten. Und mit Machtwechseln geht oft ein starker Politik­wechsel einher, was einer langfristigen Kooperation entgegensteht.

Kooperation funktional ausrichten

In Abkehr von früheren biregionalen Strate­gien sollten neue Ansätze der Kooperation zwischen EU und LAK auf einer niedrigeren Ebene angesiedelt werden. Sie sollten sich weniger strukturell auf regionale Organi­sa­tionen als funktional auf Themen oder Sek­toren konzentrieren, die geeignet sind, Län­der mit Gestaltungs­willen und ‑kapazität für eine Zusammen­arbeit zu gewinnen.

Oberhalb dieser Kooperationslogik kön­nen biregionale Gipfeltreffen wie EU-CELAC dazu dienen, Austausch und gegenseitiges Interesse zu reaktivieren. Der angestrebte vielschichtige und flexible Ansatz der EU, der die Diversität der Region aufnimmt, deutet in die richtige Richtung. Unter­schied­liche Sichtweisen und Prioritäten müssen diskutiert werden. Dabei sollte sich die EU von der Illusion verabschieden, die LAK-Region sei immer »auf ihrer Seite«. So zeugt die Erwartung, dass Brasi­lien die EU-Sank­tionen gegen Russland mit­trägt (und Muni­tion an die Ukraine liefert), von fehlender Augenhöhe in den Bezie­hun­gen. Sicht­bar wird hier auch die Unkennt­nis des bra­silia­nischen Anspruchs, sich als inter­natio­naler Vermittler im BRICS-Verbund zu profilieren.

Bündnisbildung im UN-Rahmen

Neben biregionalen Gipfeltreffen und einer verstärkten funktionalen Zusammenarbeit auf subregionaler Ebene erscheint es sinn­voll, eine variable, themenbezogene Strate­gie zur Bündnisbildung im Rahmen der UN zu intensivieren. Ein Bei­spiel dafür ist die Equal Rights Coalition (ERC), eine zwischen­staatliche Organisation, die 42 Mitglied­staa­ten hat und sich unter starker Beteili­gung der Zivil­gesellschaft für den Schutz der Rechte von LGBTI-Personen einsetzt. Der ERC-Vorsitz wird von zwei Mitglied­staaten gemeinsam geführt, im Zeitraum 2022–2024 sind dies Deutschland und Mexiko. Darüber hinaus gibt es eine inten­sive Zu­sammenarbeit mit anderen LAK-Staaten, die der Koalition an­gehören, vor allem mit Argentinien (weitere Mitglie­der sind Chile, Costa Rica, Ecuador und Uruguay).

Auch bestehen Ansatzpunkte, um im Kontext von Global Governance gemein­same Positionen zu entwickeln. Dazu ge­hört die jüngste Initiative Boliviens und Kolumbiens, das Kokablatt und seine orga­nischen Nebenprodukte von der Liste der gefährlichen Substanzen des internationa­len Einheitsabkommens über die Betäu­bungsmittel zu streichen, ebenso der Kurs der Bundesregierung in Richtung einer Legalisierung von Cannabis. Dass LAK sich als ein strategisches Zentrum politischen Denkens und Handelns positioniert, sollte ernst genommen werden, denn die Region versucht, eine grundsätzliche Revision der globalen Drogenpolitik auf die Tages­ordnung zu setzen.

Das Dreieck ausbalancieren

Es ist kein Zufall, dass sowohl Deutschland als auch die EU ihre auswärtigen Interessen verstärkt nach Westen ausrichten. Das Ge­waltszenario im Osten und damit ver­bun­den eine zunehmend kritische Lesart der Beziehungen zu China veranlassen beide, ihre Außenpolitik diplomatisch und mate­riell zu diversifizieren. In diesem Kontext soll die Kooperation mit LAK substantieller werden. In Zeiten der Konfrontation stehen politische Verbündete hoch im Kurs, eben­so Rohstoff- und Energiepartnerschaften für ökonomisch-ökologische Zukunftsprojekte.

Eine Reaktivierung der Beziehungen zu LAK wird aber nicht gelingen, ohne Ein­stel­lungen und Konzepte diesseits des Atlantiks zu ändern. Dies sollte weniger versprochen als gelebt werden. Dazu ge­hört, Differenzen offen zu diskutieren, etwa im Umgang mit dem Ukraine-Krieg. Es deutet indes eher auf einen Rückfall in euro­zentrische Haltun­gen, dass eine ver­urteilen­de Refe­renz auf die russische Inva­sion in die offi­ziellen Ver­einbarungen zur Entwick­lungs­zusammen­arbeit zwischen Deutsch­land und seinen Kooperations­ländern auf­genom­men wurde.

Solchen Ungleichgewichten gilt es entge­genzuwirken, während in der Koopera­tion zugleich eine Balance zwi­schen Demokra­tie, nachhaltiger Entwick­lung und Global Governance gefunden werden muss. Erfor­derlich ist eine systemi­sche Sichtweise, die die Spannungsverhält­nisse und Interdepen­denzen zwischen diesen Bereichen erkennt. Das wiederum setzt voraus, reduktionisti­sche Ressort­logiken zu überwinden, indem man sie in umfassende Regional- und Län­derstrategien integriert. Entwickelt werden sollten diese im Dialog mit den LAK-Staaten unter zivil­gesellschaftlicher Beteiligung.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika. Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts »Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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