Die Anbindung der Ukraine an das kontinentaleuropäische Stromnetz und den EU-Strommarkt steht auf der politischen Agenda. Die nötigen Stromverbindungen herzustellen ist jedoch technisch kompliziert und erfordert darüber hinaus tiefgreifende Reformen im ukrainischen Stromsektor. Aber nicht nur die Ukraine ist in der Bringschuld, auch die EU und ihre Mitgliedstaaten werden weitreichende geopolitische Entscheidungen von großer Tragweite treffen müssen. Für das Vorhaben bedarf es eines politisch abgestimmten Fahrplans, der klare Kriterien und Konditionen für ein gemeinsames Stromnetz definiert.
In der gemeinsam mit den USA abgegebenen Erklärung zur Unterstützung der Ukraine, der europäischen Energiesicherheit und der gemeinsamen Klimaziele vom 21. Juli 2021 verpflichtet sich Deutschland politisch, die Ukraine in Gasbelangen zu unterstützen, um die Folgen von Nord Stream 2 abzufedern. Darüber hinaus will Berlin auch längerfristig den Umbau des ukrainischen Energiesystems und dessen Integration in einen gemeinsamen Energieraum fördern und vorantreiben.
Die deutsch-amerikanische Erklärung setzt folglich die Anbindung der Ukraine an den europäischen Energiemarkt sehr hoch auf die politische Agenda Berlins, mittelbar aber auch Brüssels. Dass es energiepolitische Themen gibt, die über die alles dominierende Gasfrage hinausgehen, wird klar benannt.
Damit wird dem Strom in der Energie- ebenso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik eine immer größere Rolle zukommen. Die Energietransformation erfordert eine zunehmende Elektrifizierung. Daher wird der Anteil von Strom am Energiemix weltweit wachsen. Die EU-Nachfrage nach Strom könnte bis 2050 um 40 Prozent steigen. Das entspricht in absoluten Zahlen einem Zuwachs von ungefähr 1.100 Terawattstunden (TWh), also etwa das Zweifache des deutschen Stromverbrauchs. Außerdem ergibt sich aus dem von der EU-Kommission gesetzten Ziel, Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent zu machen, die logische Konsequenz, dass der Nachbarschaftsraum eingebunden werden muss. Mit der Umsetzung des Green Deal wird der massive Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien verbunden sein. In der EU mangelt es jedoch an günstigen Standorten und sozialer Akzeptanz für den Ausbau zum Beispiel von Onshore-Windenergieanlagen. Folglich wird die EU auf Importe von grünen und klimaneutralen Elektronen und/oder Molekülen angewiesen sein. In diesem Kontext ist auch die Stromanbindung der Ukraine an das synchrone kontinentaleuropäische Netz zu sehen.
Große politische Worte, kleine konkrete Schritte
Die Synchronisierung der Stromnetze steht schon länger auf der Agenda. Die Verhandlungen darüber begannen nach dem ersten Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der EU und der Ukraine über die Zusammenarbeit im Energiebereich, das 2005 unterzeichnet und 2016 erneut bestätigt wurde. Das MoU zielt auf eine »vollständige Integration« der Energiemärkte der EU und der Ukraine ab.
Außerdem ist die Ukraine seit 2011 Mitglied der europäischen Energiegemeinschaft. Als solches ist sie verpflichtet, die energierelevanten Teile des EU-Rechts sukzessive zu übernehmen. Dahinter steht auch das Vorhaben, die Energiemärkte zusammenwachsen zu lassen.
Der im Strombereich angestoßene Prozess hat Auswirkungen auf alle Nachbarländer: Zum einen würde eine Synchronisierung mit dem europäischen Kontinentalnetz Maßnahmen auf EU-Seite erfordern, zum anderen müsste sich die Ukraine vom postsowjetischen IPS/UPS (Integrated Power System/Unified Power System) abkoppeln, konkret von Russland und Belarus. Nicht zuletzt stünde damit auch für Moldau – mit Transnistrien – aufgrund seiner geographischen Lage fast zwangsläufig ein Wechsel vom IPS/UPS zum Kontinentalnetz an.
Im Juni 2017 unterzeichneten die Netzbetreiber der Ukraine (Ukrenergo) und Moldaus (Moldelectrica) mit dem Verband der europäischen Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) eine entsprechende Vereinbarung über die künftige Stromanbindung. Darin werden die technischen Schritte definiert, die erfolgen müssen, um die laut Ukrenergo für 2023 geplante Synchronisierung mit dem Kontinentalnetz operativ vollziehen zu können.
Auch wenn mit der Vereinbarung zunächst einmal auf technischer Ebene ein Prozess angestoßen wurde, sind damit nicht automatisch die Weichen für eine Synchronisierung und Marktintegration gestellt.
Beweggründe für die Anbindung an das europäische Netz
Der Anschluss des ukrainischen Netzes an das europäische Verbundsystem von ENTSO‑E ist auch Thema auf höchster politischer Ebene. So warb der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal bei Kanzlerin Merkels letztem Besuch in Kyjiw im August 2021 für die Synchronisierung des Ukraine-Netzes mit dem kontinentaleuropäischen Netz.
Die Synchronisierung ist die weitestgehende Form der Anbindung, da die Netze nicht nur miteinander verbunden, sondern als ein gemeinsames System mit gleichlaufender Phasenfolge betrieben werden. Das mehrt einerseits die Möglichkeiten, zur gegenseitigen Unterstützung einzuspringen, andererseits wächst aber auch das Ansteckungspotenzial bei Problemen.
Die Ukraine drängt auf eine Verbindung bis 2023 und will sich dafür schon im Winter 2021/22 vom russischen IPS lösen. Zunächst will man das ukrainische Stromnetz im Inselmodus betreiben, es also, von allen Nachbarn abgekapselt, selbst steuern und ausbalancieren. Erst nach einigen Testläufen soll es dann mit dem kontinentaleuropäischen Netz synchronisiert werden.
Die Synchronisierung wird seitens der Ukraine vor allem aus vier Gründen vorangetrieben: Erstens würde das die Energiesicherheit der Ukraine verbessern: Das ukrainische Stromnetz ist – selbst wenn kein Stromhandel zwischen beiden Ländern stattfindet – technisch von der Frequenzhaltung abhängig, die vom russischen Netzbetreiber organisiert wird. Kurzfristig erhöht diese Abhängigkeit die Kosten der Entkopplung vom russischen System, da die entsprechenden Fähigkeiten in der Ukraine erst aufgebaut werden müssten. Langfristig würde die Anbindung an das kontinentaleuropäische Netz Moskau die Möglichkeit entziehen, diese Abhängigkeit zu nutzen, um in der Ukraine politisch Einfluss zu nehmen.
Zweitens könnte die Ukraine von geringeren Stromgestehungskosten profitieren: Die Anbindung an Kontinentaleuropa würde ausländischen Stromanbietern Zugang zum ukrainischen Strommarkt ermöglichen. Der damit einhergehende Wettbewerbsdruck würde die Voraussetzungen schaffen für eine wettbewerbliche Preisbildung auf dem momentan stark konzentrierten und überregulierten ukrainischen Strommarkt. Ein liquider ostmitteleuropäischer Strommarkt würde nicht nur das System von Monopolpreisen aufbrechen, sondern auch längerfristig marktbasierte Investitionssignale senden. Außerdem würde die Anbindung Strompreiseffekte dämpfen, die mit dem ukrainischen Kohleausstieg verbunden wären. Wenn billigere Importe aus der EU zu bestimmten Zeiten Strom aus ukrainischen Kohlekraftwerken ersetzen, könnten die Strompreiseffekte dieser (auch von der EU gewünschten) Maßnahmen auf ein politisch akzeptables Maß reduziert werden, wie eine Studie von Low Carbon Ukraine ergeben hat. Allerdings würden die Strompreise in den Nachbarländern zu diesen Zeiten ebenfalls leicht steigen.
Drittens könnte die Anbindung auch direkt den Rückgang von Treibhausgasemissionen fördern – falls die Ukraine gleichzeitig eine nennenswerte CO2-Steuer einführt. Dann nämlich könnte die Synchronisierung die CO2-Emissionen aus Kohle- und Gaskraftwerken in Osteuropa (Polen, Rumänien, Slowakei, Ungarn und Ukraine) jährlich um fast ein Fünftel senken. Das entspricht etwa 14 Megatonnen CO2 oder rund 2 Prozent der jährlichen deutschen Emissionen. Die Einsparung entstünde unter anderem dadurch, dass die Länder überschüssigen Strom aus Erneuerbaren in ihre Nachbarländer verkaufen könnten, anstatt die Erneuerbaren abzuregeln.
Viertens wünscht sich die Ukraine allgemein eine engere Anbindung an die EU: Die Synchronisierung der Stromsysteme und die dadurch mögliche Integration der Strommärkte würden eine zusätzliche, schwer aufzulösende wirtschaftliche, aber auch institutionelle Verflechtung der EU und der Ukraine mit sich bringen. Das würde die regulatorische Anbindung im Rahmen der Energiegemeinschaft flankieren, welche die Ukraine verpflichtet, energiebezogene EU-Direktiven umzusetzen.
Der Anspruch der EU-Kommission, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, und die Umsetzung des Green Deal sind auch aus Sicht der EU ein starkes Argument für eine Synchronisierung und weitreichende Integration. Die Ukraine könnte eines der Schlüsselländer auch für die deutsche Wirtschaft werden, die von Energieimporten abhängig ist. Wind, Sonne, Biomasse, Wasser und ausgedehnte Flächen sind reichlich vorhanden, was die Ukraine zur attraktiven Quelle für grünen Strom und Wasserstoff macht.
Das theoretische Potenzial ist groß, das ukrainische Stromsystem momentan jedoch kaum in der Lage, genug Strom für den eigenen Bedarf zu generieren. Das Investitionsniveau ist niedrig, der Strommarkt von Oligopolen und politischer Einflussnahme geprägt. Das Land kommt folglich nur dann als Stromexporteur und Energielieferant für Deutschland in Frage, wenn es seine Erneuerbaren-Kapazität rasch ausbaut, der ukrainische Markt durch europäische Regulierung und Nachfrage an Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit gewinnt. Im Zuge dessen könnte die Ukraine auch selbst neue Energiequellen schneller erschließen.
Große Herausforderungen
Technische Hürden
Die technischen Hürden für eine Anbindung sind hoch, für die Vorbereitung des ukrainischen Netzes gilt ein komplexes Regelwerk. Die technischen Maßgaben und Anforderungen definiert die europäische Vereinigung der Netzbetreiber (ENTSO-E). Bevor die Ukraine sich mit Kontinentaleuropa synchronisieren kann, müssen alle 42 ENTSO-E-Mitglieder zustimmen, konkret sind das die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) der Mitgliedsländer. Die Vereinigung trifft ihre Entscheidung anhand technischer Parameter, wobei es im Kern darum geht, einen gesicherten Stromfluss durch gut gewartete und verwaltete Stromsysteme sicherzustellen. Zu den Entscheidern werden bekannte ÜNBs wie 50hertz aus Deutschland und Réseau de Transport d’Electricité (RTE) aus Frankreich gehören, aber auch kleinere wie Landsnet aus Island.
Eine besondere Rolle haben indes die direkten Nachbar-ÜNBs in der Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien, die entweder selbst noch Anpassungen in ihrem Netz vornehmen müssen und/oder Auswirkungen direkt in den Stromflüssen spüren werden. Schon jetzt mit diesen Ländern verbunden und synchronisiert ist die ukrainische Strominsel »Burschtyn« im Westen der Ukraine (siehe Karte 1, S. 6). Dank der dort schon bestehenden Verbindung mit ENTSO-E hat die Ukraine bereits etwas Erfahrung damit, was es heißt, sich mit einem anderen Netz zu synchronisieren. Für eine erfolgreiche Synchronisierung mit dem europäischen Stromnetz braucht die Ukraine ausreichende transnationale Leitungen.
Ein Projekt des ukrainischen Kernkraftwerkebetreibers Energoatom ist »Energomost«, eine Energiebrücke, die das Kernkraftwerk Chmelnyzkyj 2 mit Polen über eine nach Rzeszów führende 750 Kilovolt-Leitung verbinden soll. Das ist aber von der polnischen Regierung nicht erwünscht. Andere wichtige Leitungen sind noch im Bau (nach Rumänien) oder könnten über Burschtyn in die Nachbarländer verlängert werden. Zudem baut die Ukraine neue Leitungen im Land selbst mit dem Ziel, die Entkopplung von Russland und Belarus vorzubereiten.
Technisch muss die Ukraine nach dem Regelwerk der ENTSO-E eine Reihe von Maßnahmen umsetzen:
An erster Stelle steht die Netzstabilität: Eine der größten praktischen Herausforderungen ist die Fähigkeit, Stromnachfrage und ‑angebot aufeinander abzustimmen. Ist zu viel oder zu wenig Strom im Netz, läuft es Gefahr, zusammenzubrechen. Sind die Netze gekoppelt, kann ein Stromausfall etwa in der Ukraine auf andere Teile Europas übergreifen. Die Ukraine erneuert daher ihr Übertragungsnetz und dessen Steuerung. Langfristig können auch dezentralere Systeme für ein höheres Maß an Stromsicherheit sorgen – das Übertragungssystem wird aber essentiell bleiben, weil es in der Ukraine große Städte, eine hohe Industriedichte und viele Großkraftwerke gibt.
Bei allen Verbesserungen, die die Ukraine schon aus eigener Kraft erreicht hat, würde das Land sehr von internationaler Unterstützung profitieren. Insbesondere Deutschland hat Erfahrung mit der Anbindung neuer Netze (etwa der Verbindung von Ost- und Westdeutschland, aber auch der Anbindung der östlichen Nachbarn) und mit der Integration hoher Anteile volatiler Wind- und Solaranlagen in ein Stromsystem, das von alten Kohle- und Kernkraftwerken geprägt ist.
Theoretisch ließe sich die Ukraine auch über Gleichstrom-Kurzkopplung (back-to-back, B2B) an das kontinentaleuropäische Netz anbinden. So könnte Strom über die Grenzen fließen, ohne dass eine Synchronisierung notwendig wäre. Das würde auch das Risiko deutlich reduzieren, dass Probleme im ukrainischen Stromnetz Ausfälle in Mitteleuropa zur Folge haben. Eine »back-to-back«-Kopplung ließe sich auch besser steuern. Allerdings würde jede künftige Ausweitung der grenzüberschreitenden Kapazität wieder hohe Investitionen in Kurzkopplungen erfordern. Solche Kopplungen würden dabei die Netzstabilität in der Ukraine kaum verbessern. Sie wären außerdem eine Minimallösung und würden insofern ein schwaches Signal im Hinblick auf engere Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU setzen.
Regulierung und Markt
Der ukrainische Strommarkt ist noch nicht in der Lage, mit dem europäischen zu interagieren. Dem stehen als erste Hürde Preisbildung und Marktmonopole entgegen. Der Strommarkt ist hoch reguliert, da es Preis-Obergrenzen gibt. Außerdem sind die Netzbetreiber zu Stromlieferungen an öffentliche Einrichtungen und an private Haushalte verpflichtet. Die mit der Vergünstigung verbundenen Kosten tragen die staatlichen Strommarkt-, Stromnetz- und Kraftwerksbetreiber. Zum anderen dominieren einzelne Oligarchen den Markt. Einige wenige private Unternehmen verhindern infolgedessen Wettbewerb und erzielen hohe Gewinne. Öffentliche Unternehmen dagegen machen Schulden. Neben dem generellen Risiko-Aufschlag auf Kapitalkosten in der Ukraine erschweren die fixen Preise und die Marktkonzentration Investitionen in neue Energieträger. Zudem sind die Tarife des staatseigenen ukrainischen Netzbetreibers Ukrenergo für die Leitung von Strom zu niedrig, Ukrenergo wird nur durch Staatsgarantien vor dem Bankrott bewahrt. Das wiederum erschwert die Erneuerung der Leitungen und Trafo-Stationen.
Zweitens fehlt es an Institutionen und Rechtsrahmen. Auch wegen mangelnder Rechtssicherheit ist der ukrainische Stromsektor noch nicht gerüstet für einen automatischen, kurzfristigen grenzüberschreitenden Stromhandel (»Market Coupling«), wie er in der EU eingeführt wird, um die bestehenden Systeme optimal zu nutzen. Hier fehlt es an grundlegende Erfordernissen, wie einem vertrauenswürdigen Marktbetreiber, aber vor allem an institutioneller Stabilität und Rechtssicherheit. Würde eine rein physikalische Kopplung nur für bilateral ausgehandelte Lieferungen genutzt, wäre dies mit Blick auf die Systemdienlichkeit nicht effizient. Die nicht über einen transparenten Markt organisierten Lieferungen aus der Ukraine könnten überdies die Liquidität und Resilienz der vergleichsweise kleinen Strommärkte in Ostmitteleuropa auf eine harte Probe stellen. Durch eine Zusammenarbeit mit EU-Partnern wie EEX oder Nordpool könnte aber auch am Aufbau eines Marktplatzes gearbeitet werden. Die notwendigen regulatorischen Schritte werden von der Energiegemeinschaft und der Unterstützungsgruppe Ukraine der EU-Kommission ohnehin begleitet.
Die Ukraine braucht außerdem entweder ein eigenes CO2-Preissystem, das sich mittelfristig an das EU-ETS anschließen lässt, oder zumindest ein in der EU akzeptiertes System für die Zertifizierung grüner Energie. Um sicherzustellen, dass auch wirklich CO2-neutrale Energie in Deutschland ankommt, müssen Herkunftsnachweise sowie ein Monitoring-, Reporting- und Verifizierungsmechanismus eingeführt werden.
Das von Unsicherheit geprägte ukrainische Investitionsklima würde von der Anbindung an Kontinentaleuropa nur dann profitieren, wenn ausländische Akteure im Land sicher und rechtlich geschützt operieren können. Dafür braucht es klare, faire und langfristig geltende Regeln, die auch konsequent durchgesetzt werden. Die EU kann dazu beitragen, der mangelnden Selbstbindungsfähigkeit der ukrainischen Energiepolitik abzuhelfen, indem sie bestimmte Zugeständnisse (finanzieller und regulatorischer Art) daran knüpft, dass sich die Ukraine an die vereinbarten Strommarktregeln hält.
(Geo)politische Hürden
Die Liste der erläuterten Herausforderungen im technisch-operativen sowie im rechtlich-regulatorischen Bereich ist recht lang. Darüber hinaus müssen beide Seiten auch die Implikationen einer technischen Anbindung der Ukraine an das europäische Kontinentalnetz ab- und einschätzen. Denn eine synchrone Anbindung hätte nicht zu vernachlässigende Rückwirkungen auf die Nachbarstaaten und damit auch auf die Versorgungssicherheit und die Sicherheitslage in der EU.
Eine Abkopplung der Ukraine vom Integrated und vom Unified Power System (IPS/UPS) zwingt Russland und Belarus notwendigerweise zu technisch-operativen Anpassungsmaßnahmen und ist mit finanziellen Kosten verbunden. Zudem erweitert die synchrone Anbindung an das Kontinentalnetz von ENTSO‑E den Einflussraum der EU und verkleinert denjenigen Russlands. Moskau hat aber zuletzt im Streit um Gaslieferungen mit Moldau deutlich signalisiert, dass Bemühungen um eine stärkere Integration mit Europa russische Gegenmaßnahmen zur Folge haben können.
Hier ist die Ukraine aufgerufen, Konfliktpotenzial zumindest durch frühzeitige technische Abstimmung einzuhegen, indem sie über die Auswirkungen mit ihren Nachbarländern spricht und idealerweise über einen parallelen Abkopplungsfahrplan verhandelt. Angesichts der schwierigen und komplexen geopolitischen Lage, die nach der Annexion der Krim und der militärischen Destabilisierung der Ostukraine entstanden ist, scheint ein solch kooperatives Herangehen der Ukraine illusorisch. Andererseits müsste allen Parteien daran gelegen sein, die Abkopplung zu koordinieren, um nicht einen neuen Energiestreit auszulösen.
Eine Verschärfung des Konflikts würde für die Ukraine gerade im Winter problematisch werden. Die Strom- und Wärmeproduktion des Landes ist von russischen Nuklearbrennstäben ebenso abhängig wie von regelmäßigen Kohle- und Gaslieferungen aus Russland (siehe Karte 1).
Mitte November 2021 zeichnet sich eine besonders prekäre Situation ab: Knappe Kohle- und Gasspeicherstände könnten es Russland ermöglichen, die Energieversorgungssicherheit der Ukraine auf eine ernste Probe zu stellen, indem es nur geringe Mengen Gas liefert. Das hat in der Ukraine bereits zu Diskussionen über eine Wiederaufnahme von Stromimporten aus Belarus geführt.
Zu diesen aktuellen und unmittelbaren Energiesicherheitsfragen kommen harte Sicherheitsthemen hinzu. Die Ukraine war in den letzten Jahren wiederholt hybriden Angriffen auf Teile ihres Stromnetzes ausgesetzt. Es ist schwierig, die Cyber-Attacken einem staatlichen Verursacher zuzuordnen, In jedem Fall kann aber als gesichert gelten, dass russische Hacker über entsprechende Fähigkeiten verfügen und dass Russland genaue Kenntnisse von der Funktionsweise des ukrainischen Stromnetzes hat.
Gleiches gilt für Moldau. Hier war das Gaskraftwerk Kutschurgan in Transnistrien Gegenstand eines Streits mit Moskau. Diese Großanlage erzeugt 80 Prozent des Strombedarfs von Moldau. Würde diese Anlage ausfallen, oder auch das ukrainische Kernkraftwerk in Saporischschja mit einer Gesamtkapazität von sechs Gigawatt, bräche stabile Grundlast weg, mit hohem Ansteckungspotenzial für das gesamte synchrone Netz.
Dass Geopolitik und Energienetze zum strategischen Instrumentenkasten des Kremls gehören, zeigt die Tatsache, dass die Krim nach der Annexion zügig mittels neuer Stromleitungen über die Brücke von Kertsch versorgt wurde. Auch die besetzten Gebiete in der Ostukraine sind de facto Teil des russischen Stromnetzes und bereits vom ukrainischen Netz abgekoppelt.
Tragweite und Konsequenzen
Als Kompensation für die Zurückhaltung der USA, Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhängen, hat sich Deutschland gegenüber Washington bereit erklärt, die Ukraine zu unterstützen. Die USA und die Ukraine haben die Integration der Ukraine ins europäische Netz in ihrer Charta über strategische Partnerschaft erwähnt. Auch die EU sieht darin eine Priorität.
Selbst wenn ENTSO-E sich mit den noch verbleibenden technisch-operativen Herausforderungen beschäftigen muss, sollten sie wegen ihrer politischen Tragweite nicht allein einem solchen technischen Gremium überlassen werden. Synchrone Stromverbünde sind »Strom-Solidar- und Schicksalsgemeinschaften«, in denen sich alle Beteiligten Vorteile und Risiken teilen. Das setzt ein hohes Maß an Vertrauen sowohl in einen zuverlässigen technischen Betrieb als auch in Zukunft weitgehend verlässliche Kooperation voraus. Denn Stromnetze werden auf drei Ebenen gesteuert: a) auf technisch-operativer und infrastruktureller Ebene, b) auf politisch-regulatorischer Ebene sowie c) auf Handels- und Marktebene.
Anders als die Baltischen Staaten, mit denen derzeit ebenfalls ein Synchronisierungsprozess läuft, gehört die Ukraine ebenso wenig zur EU wie Moldau, und sie wird auch auf absehbare Zeit kein Mitglied werden. Dank der starken und wohldefinierten Institutionen der EU haben alle EU-Mitgliedstaaten weitgehend ebenbürtige Kontrolle über das Stromsystem. Als Nicht-EU-Mitglieder sind die Ukraine und Moldau davon größtenteils ausgeschlossen.
Im Fall einer Synchronisierung des Ukraine-Netzes mit dem Kontinentalnetz müsste das Land aber auch auf den nichttechnischen Governance-Ebenen mehr einbezogen werden. Strommarkintegration bedeutet, Interkonnektivität nicht nur physisch, sondern auch handelsseitig darzustellen. Das der Synchronisierung zugrundeliegende Regelwerk berücksichtigt zwar die Interoperabilität der Systeme und grenzüberschreitenden Leitungen sowie die technische Integrität und Sicherheit. Jenseits dieser technisch-operativen Ebene gibt es jedoch zwischen der EU und ihren Nachbarstaaten deutliche Abstufungen, was Vernetzung und Handelskontakte, Regelsetzung und Machtprojektion angeht. Die Energiegemeinschaft ist das Instrument gewesen, um die physische und marktseitige Integration voranzubringen. Doch der gemeinsame Rechtsbestand und die Netzwerkcodes, also die Regeln für den Netzbetrieb, sind immer ausgefeilter geworden. Damit werden auch die Hürden für die Integration höher. Für das technisch-operative Funktionieren des Stromsystems gilt die Devise »Rules before Joules«: Zuerst die Regeln umsetzen, dann die Leitungen in Betrieb nehmen. Für die Integration der Märkte gilt dies ebenso.
Schlussfolgerungen
Spätestens mit der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklärung hat Deutschland eine Schlüsselposition bei der Anbindung der Ukraine eingenommen. Wegen der Tragweite dieses Vorhabens wird die neue Bundesregierung aber im Einvernehmen mit Brüssel und den anderen Mitgliedsländern agieren und auf einen Konsens hinwirken müssen.
Theoretisch bestehen drei Handlungsoptionen für Berlin, Brüssel und Kyjiw:
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Einzig den technischen Prozess laufen lassen. Wenn es keine klare politische Führung gibt, wäre zu erwarten, dass dieser Prozess – obwohl sich niemand offen gegen die Synchronisierung positionieren muss – keinen Abschluss finden wird. Das würde die Ukraine in eine schwierige Lage mit Blick auf Investitionen in grüne Energien bringen. Das verstieße nicht nur gegen die deutsch-amerikanische Erklärung, sondern würde auch die EU dem geopolitischen Ziel nicht näherbringen, den Kontinent klimaneutral werden zu lassen.
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Sich auf eine Gleichstromkurzkupplung (B2B) beschränken. Das würde die Ukraine quasi im Inselmodus belassen und wäre langfristig wohl auch mit höheren Kosten verbunden.
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Einen klaren Fahrplan definieren, mit politischer Unterstützung für die technischen und politischen Prozesse. Konkret würde darin festgelegt, welche Regeln gelten, welche Leitungen gebaut und welche Investitionen getätigt werden sollten. Auf diese Weise ließen sich technische Risiken bearbeiten und politische Kosten kalkulieren. Das wäre Voraussetzung für eine nachhaltige Lösung.
Die EU muss eine politische Entscheidung treffen, welche weitergehenden Reform- und Integrationsschritte die Ukraine politisch-regulatorisch sowie handels- und marktseitig zu vollziehen hat. Den Entscheidungsprozess müsste Berlin moderieren und vorbereiten. Je nach Umsetzung wird die Ukraine entweder das Vertrauen schaffen, dass sie sich der EU nachhaltig anschließen will, oder künftige Verwerfungen und Desintegrationstendenzen erwarten lassen (z.B. bei Regierungswechseln in der Ukraine). Eine Synchronisierung lässt sich jedenfalls nicht einfach rückgängig machen.
Dabei gilt es zwei künftige Streitfragen im Blick zu behalten: Der CO2-Grenzausgleichsmechanismus der EU wird dem freien Handel von Strom Grenzen setzen und die Preise für Stromimporte erhöhen. Außerdem drohen Spannungen mit Belarus und Russland. Im schlimmsten Fall könnte sich die Strom-Integrationskonkurrenz zu einer Stromblock-Konfrontation auswachsen. Deswegen sollte Deutschland als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine fungieren.
Folgende Punkte bedürfen einer politischen Entscheidung:
Erstens ist zu entschieden, ob nur eine Kopplung über Gleichstromkurzkupplungen erfolgen soll oder ob die EU mit Wechselstromleitungen eine wirkliche Synchronisierung durchführen will.
Zweitens gilt es zu entschieden, wann – 2023, 2026 oder später – eine Kopplung oder Synchronisierung erfolgen soll. Dabei kann auch über ein Phasenmodell und eine Sequenzierung nachgedacht werden.
Drittens muss entschieden werden, welche Netzverbindungen konkret in Betrieb genommen werden sollen. So könnten Nachbarn der Ukraine mit einer Synchronisierung grundsätzlich einverstanden sein, aber keine direkte/starke Stromverbindung wünschen.
Viertens ist zu überlegen, welche Rolle der bestehende und der künftige Strommix für den grenzüberschreitenden Handel mit der EU spielen soll. Momentan dominieren Atom- und Kohlestrom, doch verfügt die Ukraine über große Potenziale für erneuerbare Energien.
In jedem Fall braucht es klare Entscheidungen, die einen transparenten politischen Prozess definieren. Eine eindeutige Sequenz würde es ermöglichen, Haltepunkte im Prozess zu identifizieren (zeitlich und qualitativ), an denen jeweils überprüft wird, ob die Bedingungen erfüllt worden sind.
Wird die Synchronisierung technisch, ökonomisch und politisch schlecht vorbereitet und übernimmt niemand politische Verantwortung, könnte das zu bösen Überraschungen für beide Seiten führen.
Lukas Feldhaus ist Analyst im »Low Carbon Ukraine«-Projekt, Berlin Economics. Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der SWP-Forschungsgruppe Globale Fragen. Georg Zachmann ist Senior Fellow Energy & Climate Policy bei Bruegel, Brüssel.
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doi: 10.18449/2021A72