Jump directly to page content

Der ungelöste Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU

Weitere Sanktionen und schwere Zeiten für Polens Beziehungen zur Union

SWP-Aktuell 2021/A 76, 03.12.2021, 8 Pages

doi:10.18449/2021A76

Research Areas

Die breite Solidarisierung mit Polen, die innerhalb der EU aufgrund der Krise an der Grenze zu Belarus aktuell zu beobachten ist, ändert nichts am Grundsatzkonflikt in der Frage der Rechtsstaatlichkeit. In den vergangenen Monaten hat Polen Rechts­prinzipien der Union offen in Zweifel gezogen. Es ist nicht zu erwarten, dass die amtierende polnische Regierung effektive Maßnahmen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz ergreifen wird. Wenn es dabei bleibt, wird die EU ihre Finanztransfers an Polen wie an Ungarn substantiell einschränken müssen. Auch die horizontale Anwendung von EU-Recht wird gegenüber Polen auf wachsende Vor­behalte stoßen. Zum Schutz des europäischen Gemeinwesens müssen politisch an­gespannte Beziehungen zu Polen indes in Kauf genommen werden. Die neue Bundesregierung hat das Ziel, die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu priorisieren, in ihrem Koalitionsvertrag niedergelegt. Sie sollte daran festhalten.

Die Gefahr eines Abbaus demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in einigen Mitgliedsländern belastet die Union seit mindestens zehn Jahren. Ende 2020 kam es zu einer ersten dramatischen Zuspitzung mit Auswirkungen für alle EU-Staaten (SWP-Aktuell 72/2020). Damals standen die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanz­rahmen und zu den außergewöhnlichen Corona-Hilfsgeldern kurz vor dem Scheitern, da Polen und Ungarn den zeitgleich verhandelten Mechanismus zur Einschränkung von EU-Zahlungen im Fall von rechts­staatlichen Defiziten grundsätzlich ablehn­ten. Der Kompromiss, die Anwendung die­ses Mechanismus auf Fälle zu reduzieren, in denen die »finanziellen Interessen der Union« Schaden nehmen könnten, und zugleich die vertragsrechtliche Zulässigkeit der Regelung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) prüfen zu lassen, hat lediglich dazu geführt, den Konflikt um einige Monate zu vertagen.

Das Europäische Parlament drängt die EU-Kommission seit Herbst 2021 mittels einer Untätigkeitsklage, den neuen Rechts­staatlichkeitsmechanismus zu aktivieren – ungeachtet der zuvor von Polen und Ungarn eingereichten Nichtigkeitsklage gegen die­sen Mechanismus. Angesichts der Positio­nierung des EuGH in zahlreichen anderen Streitfällen zur Rechtsstaatlichkeit ist an­zunehmen, dass mindestens letztere Klage im kommenden Frühjahr abgewiesen wird. Der Generalanwalt am EuGH hat jüngst am 2. Dezember seinen Schluss­antrag in die­sem Sinne vorlegt

Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kom­mission Polen und Ungarn zu einer schrift­lichen Stellungnahme aufgefordert, in der die beiden Staaten darlegen sollen, wie sie systematischen Risiken zulasten der finan­ziellen Interessen der Union begegnen wol­len. Damit hat sie de facto mit der Anwendung der Rechtsstaatlichkeitskonditionalität begonnen. Parallel segnet die EU-Kom­mission die »Aufbaupläne« Polens und Ungarns noch nicht ab und gibt damit die Auszahlung der gesonderten Corona-Hilfen (»NextGenerationEU«) nicht frei. Für beide Länder geht es dabei um sehr umfangreiche Zuwendungen und Kredite, die Wachstums­impulse von etwa 4 Prozent ihres jeweiligen nationalen Bruttoinlandsprodukts erzeugen könnten. Die Kommission verlangt zuvor Nachbesserungen mit Blick auf die Rechts­staatlichkeit. So hat sie Polen angeboten, einen Teil der Corona-Hilfen auszuzahlen, wenn die Regierung in Warschau einen Fahrplan zur Reform des Disziplinarwesens für polnische Richter vorlegt.

Spiel auf Zeit

Die europarechtliche Grundlage für dieses Vorgehen ist stark umstritten. Die regulären Fristen zur Bewertung der nationalen Aufbaupläne wurden bereits überschritten. Bei der Prüfung der Pläne soll sich die Kommission unter ande­rem an den Emp­fehlungen orientieren, die 2020 im Rahmen der wirt­schafts- und fiskalpolitischen Ko­ordinierung (Europäisches Semester) er­arbei­tet wurden. Themen der Rechtsstaatlichkeit können dabei eine Rolle spielen. Ein Bei­spiel dafür ist der bewilligte Aufbau­plan Maltas, mit dem unter anderem die Justiz modernisiert werden soll. Kern der länder­spezifischen Empfehlungen (LSE), die die Kommission im Zuge dieses Verfahrens zu­sammenstellt, bleiben jedoch die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung der Beschäftigung und eine nachhaltige Haushaltsführung. Zudem han­delt es sich lediglich um Empfehlungen, die von den Mitgliedstaaten erfahrungsgemäß häu­fig nur selek­tiv umgesetzt werden.

Im Fall Polens thematisieren die LSE den Bereich der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls nur nachrangig, während mit Blick auf Ungarn der pandemiebedingt besonders weitreichende Ausnahmezustand moniert wird. Eine klare Verpflichtung zur umfas­senden Reform des Justizwesens ist aus diesen Empfehlungen nicht abzuleiten.

Die Durchführungsverordnung zu den Corona-Hilfen verweist zusätzlich auf die Notwendigkeit, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, was insbesondere im Fall Ungarn als nicht gesichert gelten kann. Die Verpflichtung zum rechtsstaatskonformen Einsatz der Mittel betrifft je­doch den Verwendungsnachweis und nicht den Aufbauplan. Insofern ist davon aus­zugehen, dass die EU-Kommission die Corona-Hilfen für Polen und Ungarn aus rechtlichen Grün­den nicht dauerhaft zu­rückhalten kann.

Einige kri­tische Mitgliedstaaten wie die Niederlande könnten die Auszahlung aller­dings auch verzögern. Die neue Bundes­regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls ihre Unterstützung für das aktu­elle Vorgehen der Kommission bekundet. Grundsätzlich kann jeder Mitgliedstaat bei starken Vorbehalten eine Anrufung des Europäischen Rats erwirken mit dem Ziel, dass der nationale Aufbauplan eines ande­ren Mitgliedstaats erneut überprüft wird. Dabei gelten jedoch die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen wie bei den LSE: Prüf­gegenstand sind primär die ökonomische Effektivität und Effizienz des Plans.

Trotz dieser ungesicherten Handlungsgrundlage könnte so die Zeit bis zur Akti­vierung des neuen Rechtstaatlichkeits­mechanismus überbrückt werden. Danach könnten die Organe der Union Zahlungen aus dem EU-Budget an Polen und Ungarn auf einer europarechtlich gesicherten Basis einschränken. Es ist denkbar, dass der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auch bei den gesonderten Corona-Hilfen angewendet wird, selbst wenn weitere Anfechtungs­klagen zu erwarten wären. Mindestens würde es für die im April oder Mai 2022 anstehenden Wahlen in Ungarn nicht mehr möglich sein, dass die Fidesz-Regierung neue EU-Mittel dazu einsetzt, ihre Popularität zu erhöhen.

Konsequente Linie des EuGH

Der seit langem ausgetragene Streit über die Konditionierung von EU-Finanzmitteln wird mittlerweile durch noch grundsätzlichere Konflikte überschattet. Ab 2019 fällte der EuGH mehrere kritische Entscheidungen zu den Justizreformen, die die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit ihrer Regierungs­übernahme in Polen durchgeführt hatte. Die Neuerungen betrafen unter anderem Pensionsregelungen und weitere Verfahrensänderungen bei der Er­nennung von Richtern auf allen Ebenen. Im März 2021 urteilte der EuGH in einem Vorabentschei­dungsverfahren, das etablierte Richter am obersten polnischen Verwal­tungsgerichts­hof beantragt hatten, dass die richterliche Unabhängigkeit in Polen substantiell ge­fährdet sei. In seiner Begründung betonte der EuGH, dass alle Verfahren zur Ernennung von Richtern einen effekt­iven Rechts­behelf einschließen müssen und diesbezügliche Vorlagen zur Vorab­entscheidung durch den EuGH nicht durch nationale Ge­setzgebung eingeschränkt werden dürfen.

Im Juli dieses Jahres gab der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission umfänglich Recht und forderte eine Abwicklung der neu eingeführten Dis­ziplinarordnung für polnische Richter. Denn diese erlaube eine zu weitreichende politi­sche Einflussnahme. Eine entsprechende einstweilige Verfügung, die der EuGH be­reits im April 2020 aus­gesprochen hatte, wurde von der polnischen Regierung igno­riert. Diese kündigte jedoch an, die erst 2017 geschaffene und besonders umstrit­tene Disziplinarkammer am obersten Gerichts­hof abzuschaffen.

Dieser Schritt, sofern er tatsächlich um­gesetzt wird, reicht allerdings nicht aus. Gemäß dem EuGH sind vielmehr alle Diszi­plinarmaßnahmen, die auf rein inhaltliche Aspekte von richterlichen Entscheidungen abstellen, einzustellen und alle diesbezüglich suspendierten Richter wieder einzusetzen. Das strukturelle Problem – die mit den Justizreformen verknüpfte politische Einschüchterung polnischer Richter – ver­anlasste die EU-Kommission denn auch zu einem weiteren Vertragsverletzungsverfahren. Dabei ging es um das sogenannte »Maulkorbgesetz«, das polnischen Richtern untersagt, in Vorabentscheidungs­verfahren zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit den EuGH einzuschalten. Auch hier erließ der Gerichts­hof im Sommer noch vor seiner Haupt­entscheidung eine einstweilige Verfügung und verhängte zur Durchsetzung Ende Ok­to­ber ein tägliches Zwangsgeld von 1 Mil­lion Euro pro Tag.

Eskalation seitens der polnischen Regierung

Die Festsetzung dieser Rekordsumme wurde unter anderem dadurch motiviert, dass die polnische Regierung den Konflikt in Sachen Rechtsstaatlichkeit in der Zwischenzeit weiter massiv verschärft hatte. Ver­treter der PiS warfen der EU wiederholt vor, sie wolle Polen erpressen oder gar unterwerfen, mut­maßlich von Deutschland angetrieben. Der nationale Widerstand gegen ein vermeint­liches Diktat aus Brüssel wird – vergleichbar zum Vorgehen Victor Orbans – auf identitätspolitischen Themenfeldern weiter­befeuert, sei es in der Frage des Umgangs mit sexuellen Minderheiten, mit Abtreibun­gen oder mit irregu­lären Zuwanderern.

Die aktuelle Krise an der Grenze zu Bela­rus zeigt zwar, dass gemeinsame Sicherheits­interessen aller Mitgliedstaaten derartige Differenzen rasch in den Hintergrund tre­ten las­sen. Die Strategie Polens, den Vor­rang des EU-Rechts grundsätzlich anzufechten, kann jedoch seitens der EU nicht un­beantwortet bleiben. So folgte das polnische Verfassungstribunal Anfang Oktober einer Beschwerde von Premierminister Mora­wiecki, die dieser als Reaktion auf das kri­tische EuGH-Urteil beim obersten polnischen Gerichtshof eingebracht hatte. Dieses konstruierte in seinem Beschluss eine Un­vereinbarkeit zwischen zentralen Bestimmungen der europäischen Verträge und der polnischen Souveränität und wies eine Ein­mischung des EuGH kategorisch zurück. Wenn das Leitbild einer »immer engeren Union« (Art. 1 EU-Vertrag, EUV), der Rechts­staatlichkeit (Art. 2 EUV) und die Garantie eines Rechtsbehelfs in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen (Art. 19 EUV) von supranationalen EU-Organen dahingehend interpretiert würden, die EU-rechtliche Kon­formität der polnischen Justizreformen an­zuzweifeln, stelle dies eine so weitreichende Verletzung der polnischen Verfassung und Demokratie dar, dass schlicht alle wei­teren EU-Entscheide hierzu nichtig seien.

Entgegen ihrer Rhetorik kann die polnische Regierung das kontroverse Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Mai 2020 nicht als ähnlich gelagerten Prä­ze­denzfall geltend machen. Die Argumentation des BVerfG zielte vielmehr auf eine Schärfung der Aufsichtsrolle, die der EuGH gegenüber der Europäischen Zentralbank ausübt.

Vorrang des EU-Rechts

Die ungarische Regierung unterstützt die radikale Linie Polens und hat ihrerseits die Rechtmäßigkeit eines kritischen EuGH-Urteils zu ihrer Asylpolitik vor dem ungari­schen Verfassungsgericht in Frage gestellt. Populistische, aber auch traditionelle kon­servative Kräfte in Frankreich signalisieren Interesse an einer vergleichbaren Neu­bestim­mung der nationalen Souveränität. Wenn also der Ansatz Polens Schule machen sollte, dass nationale Regierungen und Verfas­sungs­gerichte die Grenzen des EU-Rechts einseitig neu ziehen könnten, ohne dabei den Ausgleich mit den bestehenden Ver­trägen und dem EuGH zu suchen, droht eine schwerwiegende Erosion der Union.

Der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts geht zwar auf die Rechtsprechung des EuGH selbst zurück und ist erst nachträglich in einer angehängten Erklärung (Punkt 17) zum Lissabonner Vertrag offiziell abgesegnet worden. Mit wenigen Ausnahmen, die essentielle Bestimmungen nationaler Ver­fassungen betreffen – und nicht Fragen der einfachen Gesetzgebung, wie im Fall der polnischen Justizreformen –, gilt die­ser Vorrang aber als unerlässlicher Bestand­teil einer funktionierenden Rechtsgemein­schaft. Eine scharfe Abgrenzung der natio­­nalen gegenüber der europäischen Rechts­ordnung ist angesichts des erreichten Grads der Integration weder sinnvoll noch mög­lich.

Reichweite des EU-Rechts

Gleichwohl kann man die Frage stellen, ob der EuGH mit seinen Urteilen zu natio­nalen Justizreformen seine Kompetenzen über­schreitet. Der vom Europäischen Gerichts­hof hierfür bemühte Artikel 19 EUV ist im Wortlaut nur für die »in den vom Unionsrecht erfassten Bereiche« gültig. Die nach­vollziehbare Argumentation des EuGH besteht hingegen darin, dass nationale Gerichte auf allen Ebenen regelmäßig für die Auslegung von EU-rechtlichen Bestimmungen zuständig sind. Insofern ist es hin­fällig, auf struktureller Ebene für die Ge­währleistung eines effektiven Rechtsbehelfs zwischen nationalem und europäischem Recht zu unterscheiden. Alle nationalen Gerichte sind also zugleich Gerichte für EU‑Recht und fallen somit teil­weise unter die Aufsicht des EuGH. Diese Aufsicht be­schränkt sich auf die Garantie der Unabhän­gigkeit und die rechtsstaatliche Arbeits­weise der Justiz, nicht auf die genaue Ausprägung ihrer nationalen Organisation. Zwar kann der Anlass für eine entsprechende Be­fas­sung des EuGH kleinteiliger erscheinen, wie die erste wegweisende Entscheidung zu Ein­schränkungen der Bezüge portugiesischer Richter gezeigt hat. In einer beträchtlichen Zahl von Beschlüssen beschränkt sich der EuGH aber letztlich darauf, dass keine be­gründeten Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter bestehen dürfen. Die Mitgliedstaaten gestalten dann die Reform der je­weils umstrittenen Regelungen in Eigenverantwortung.

Die Spaltung der polnischen Justiz

Diese EU-rechtlichen Fragestellungen treffen ohnehin nicht den eigentlichen Kern des aktuellen Konflikts zur Rechtsstaatlichkeit. Dieser besteht seit Machtübernahme der PiS darin, dass bei der Besetzung von Richterpositionen verstärkt parteipolitische Über­legungen angelegt und geltendes polnisches Recht zur Organisation der Justiz verletzt oder systematisch geändert wurden. Diese Tendenzen zeigen sich insbesondere in der regelwidrigen Benennung mehrerer Mitglie­der des polnischen Verfassungstribunals und in der Neukonstituierung des für Richter­ernennungen zuständigen Landesjustizrats, dessen personelle Besetzung seither mut­maßlich zu stark durch die Mehrheits­verhältnisse im polnischen Parlament ge­prägt wird. Durch diese Maßnahmen ist eine tiefgreifende Spaltung in der polnischen Richterschaft entstanden, nämlich zwischen Richtern, die bereits vor 2016 im Amt waren, und seither ernannten Amts­trägern, die mutmaßlich von der PiS-Regie­rung abhängen. Dieser strukturelle und klar innerstaatliche Konflikt hat zu zahl­reichen Klagen beim EuGH geführt, mit denen die Legalität verschiedener polnischer Kammern oder richterliche Ernen­nungsprozesse angefochten werden. Polni­sche Richter mobilisieren im Übrigen alle weiteren noch verfügbaren Rechtsmittel gegen die Justiz­reformen der eigenen Re­gie­rung, insbesondere vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Wie die Parlamentarische Versammlung und die Venedig-Kommission des Europarats übt auch der EGMR scharfe Kritik an Polen. Das Gericht konstatiert systematische Verletzungen des Rechts auf ein faires Ver­fahren gemäß Artikel 6 der Euro­päischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Im jüngsten Urteil von Anfang November 2021 spricht das Gericht von einer »offenen Miss­achtung der Rechts­staatlichkeit« durch den polnischen Präsi­denten, da dieser die Be­rufung unrecht­mäßig bestellter Rich­ter bestätigt habe.

Ungeachtet dessen, dass sich Polen 1993 an die EMRK gebunden hat, reagierten das polnische Justizministerium und das Ver­fassungstribunal ebenso hart wie gegenüber dem EuGH. Als der EGMR im Mai 2021 die aktuelle Zusammensetzung des polnischen Verfassungstribunals für unrechtmäßig be­fand mit der Folge, dass dieses nicht mehr als ein »auf Gesetz beruhende(s) Gericht« gelten könne, erklärte selbiges Verfassungstribunal diese Entscheidung für schlicht nicht existent. In einem weiteren Beschluss von Ende November, der auf eine Vorlage des polnischen Justizministers zurückgeht, sprach das Verfassungstribunal dem EGMR grundsätzlich die Kompetenz ab, das Recht auf ein faires Verfahren als Prüfmaßstab für seine Arbeit anzuwenden. Die Option, eine Große Kammer des EGMR zur Über­prüfung umstrittener Entscheidungen an­zurufen, wurde hingegen bewusst nicht genutzt. Selbst wenn die Ein­haltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und Umsetzung von Urteilen des EGMR in vielen anderen EU-Staaten defizitär ist, stellt dieses Vorgehen Polens eine besonders radikale Gangart dar und provoziert damit Vergleiche mit der Posi­tion Russlands im Europarat.

Kein Kompromiss in Sicht

Ein klarer Kurswechsel, um sowohl den Urtei­len des EuGH als auch des EGMR gerecht zu werden, ist von der amtierenden PiS und ihrem Koalitionspartner Solidarna Polska, die rhetorisch vielfach noch un­nachgiebiger auftritt, kaum zu erwarten. So müssten substantielle Teile der Richterschaft wegen der kompromittierten Ernen­nungsverfahren neu besetzt werden. Dabei wäre zwar nicht auszuschließen, dass nach einer unabhängigen fach­lichen Prü­fung einige der in den letzten Jahren berufenen Amtsinhaber validiert werden. Mindestens im Fall des Verfassungstribunals wäre je­doch damit zu rechnen, dass nicht alle der zuletzt ernannten und der PiS nahestehen­den Mitglieder bestätigt würden. Der Vor­sitzende der PiS Jarosław Kaczyński verfolgt den Plan einer nationalkonservativen Revo­lution, die aus seiner Sicht eine »Säuberung« der Justiz einschließen muss, und will dieses Ziel gegen alle etwaigen Hinder­nisse absichern.

Bereits die von der EU geforderte Rück­abwick­lung des aktuellen polnischen Diszi­pli­narregimes wird von der polnischen Regierung nicht eingeleitet. Justizminister Ziobro arbeitet vielmehr auf eine weitere Reform des gesamten Justizwesens hin, die seine politischen Zugriffsmöglichkeiten noch ausweiten würde. Zwar ist es denkbar, dass in diesem Zug die umstrittene Diszipli­narkammer am obersten Gerichtshof ab­geschafft oder grundlegend umstrukturiert wird. Gleichzeitig sollen aber unter dem Etikett der Effizienzsteigerung einige regu­läre Gerichte aufgelöst und Instanzenwege verkürzt werden und zahlreiche Richter neue Funktionen zugewiesen bekommen. Schließlich wird unbestätigten Berichten zufolge erwogen, das gesamte polnische Oberste Gericht neu aufzustellen. Alle dort seit langen Jahren arbeitenden Richter sol­len sich einem Bewertungsverfahren durch den parteipolitisch kontrollierten Landesjustizrat unterziehen und anschließend in den meis­ten Fällen versetzt oder früh­verrentet werden. Sofern diese Pläne tat­säch­lich vorangetrieben würden, gäbe es weiteren Anlass zu EU-Vertrags­verletzungs­verfahren.

Eiszeit der EU-Mitgliedschaft

Die EU muss sich zwangsläufig darauf ein­stellen, einen anhaltenden und sehr harten Konflikt mit Polen auszufechten. Sofern Victor Orban im Frühjahr 2022 wie­der­gewählt wird, gilt dies ebenso für Ungarn. Ein EU-Austritt wird von allen Beteiligten nicht ernsthaft erwogen und kann auch nicht durch nationale Verfassungsgerichte ausgelöst werden. Ein poli­tischer Entschluss gemäß dem Verfahren nach Artikel 50 EUV bliebe dafür zwingend Voraussetzung. Des­gleichen ist eine Suspendierung der Stimm­rechte eines Mitgliedstaats gemäß der zwei­ten Stufe des Artikel-7-Verfahrens wegen der dafür erforderlichen Einstimmig­keit außer Reichweite.

Unterhalb dieser Schwellen gibt es aber Spielräume und Szenarien, die aus­geleuch­tet werden müssen. Mindestens zwei weite­re Dimensionen des Konflikts sind in den Blick zu nehmen: erstens eine mögliche europa­politische Blockade durch Polen und zweitens die Suspendierung der horizontalen justiziellen Zusammenarbeit aufgrund einer weiteren Erosion des gegenseitigen Vertrauens. Zusammengenommen könnte, was Polens EU-Mitgliedschaft betrifft, eine politische und rechtliche Eiszeit anbrechen.

Politische Isolierung

Vertreter der polnischen Regierung haben angedeutet, dass sie im Fall eines fortgesetzten Zurückhaltens der Corona-Hilfen dazu übergehen könnten, im Rat und innerhalb der Kommission systematisch Wider­stand zu leisten. Ebenso steht die Befürchtung im Raum, dass Polen seine Anstrengungen für den Grenzschutz einstellen und irreguläre Zuwanderer systematisch nach Deutschland weiterleiten könnte.

Beides wäre jedoch für die polnische Regierung mit sehr hohen Kosten und nur geringen Erfolgsaussichten verbunden. So hängt die innenpolitische Legitimität der polnischen und der ungarischen Regierung mehr denn je an dem Narrativ einer kon­sequenten Abwehr irregulärer Zuwanderer. Eine Instrumentalisierung der sekun­dären Migration als Druckmittel in der Rechts­staat­lichkeitskrise könnte Polen im euro­päischen Diskurs in die Nähe des belarussischen Regimes rücken.

Derweil bietet sich im weiteren Verlauf der EU-Legislaturperiode für Polen und Ungarn kein entscheidender Hebel, um einzelstaatliche Interessen mit aller Härte zu vertreten. Die Verhandlungen zum Mehr­jährigen Finanzrahmen und zum Rechtsstaat­lichkeitsmechanismus Ende 2020 haben gezeigt, dass Warschau und Buda­pest letztlich ihr Veto nicht aufrechterhalten konnten. Zudem verlieren Polen und Ungarn an potenziellen Unterstützern im Rat, wie etwa durch den Regierungswechsel in Tschechien (SWP-Aktuell 68/2021).

Es wäre zwar möglich, dass Polen die EU beim Verfolgen ihrer klimapolitischen Ziele bremst. Es ist aber nur im Fall einer hart rechtskonservativen Wende in Frankreich denkbar, dass die EU-Ebene ihr Vorgehen gegen den Abbau von Rechtsstaatlichkeit wegen einer grundsätzlichen Verschiebung der Machtverhältnisse stoppen muss.

Wahrscheinlicher ist, dass angesichts einer Blockadehaltung einzelner Mitgliedstaaten die immer schwerer gewordene Kon­senssuche bei der Entscheidungsfindung im Rat aufgegeben wird. Dies könnte sich bei­spiels­weise darin niederschlagen, dass in der EU-Asyl- und Migrationspolitik zu Mehr­heitsentscheidungen übergegangen wird.

Alternativ bleibt die Option der flexiblen und differenzierten Integration. Sie eröffnet die Möglichkeit, jenseits von informellen »Koalitionen der Willigen« durch Initiativen zur verstärkten Zusammenarbeit (unter min­destens neun EU-Mitgliedern) die institutio­nelle und rechtliche Entwicklung der Union voranzutreiben. So sind Polen und Ungarn nicht Teil der Europäischen Staatsanwalt­schaft, die aktuell das wichtigste Beispiel einer verstärkten Zusammenarbeit unter 22 EU-Mitgliedern darstellt. Weitere Felder, auf denen nur unter den teilnehmenden Mitgliedstaaten einstimmig entschieden werden müsste, könnten eine gemeinsame Besteuerungs- oder die europäische Außen­politik sein. Falls wider Erwarten hier eine neue Integrationsdynamik entsteht, sollte sich die EU nicht durch eine Blockade Polens oder Ungarns aufhalten lassen.

Erosion des gegenseitigen Vertrauens

Das grenzüberschreitende Vertrauen zwi­schen europäischen Gerichten kann ins­besondere in grundrechtssensiblen Berei­chen nicht mehr vorausgesetzt werden. Bisher vertritt der EuGH die Linie, dass eine grenzüberschreitende Ausführung eines Europäischen Haftbefehls (oder eine damit verbundene Auslieferung) nur aufgrund einer zweistufigen Prüfung verweigert wer­den kann: Erstens müssen begründete Zwei­fel an der rechtsstaatlichen Arbeitsweise oder am Grundrechtsschutz im anfordernden Mitgliedstaat vorliegen. Zweitens müs­sen diese systemischen Defizite auf den vor­lie­genden Fall übertragen werden. Beispiels­weise muss das Recht der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren konkret und substantiell gefährdet sein.

Angesichts der Schwierigkeit, diesen Nach­weis zu erbringen, wurden Europäische Haftbefehle aus Polen bislang weit­gehend vollstreckt. In Norwegen – das auf­grund seiner Schengen-Mitgliedschaft auf separater Rechtsbasis beteiligt ist – hat ein Gericht hingegen jüngst entschieden, eine Aus­lieferung an Polen mit Blick auf all­gemeine Defizite der Rechtsstaatlichkeit zu verweigern. Der EuGH wird in den kom­men­den Monaten zu weiteren vergleichbaren Vorabentscheidungsverfahren zum Euro­päi­schen Haftbefehl Stellung nehmen. Im Fall einer weiteren Eskalation mit Polen könnte der EuGH dem Beispiel Norwegens folgen.

Wenn das gegenseitige Vertrauen in der justiziellen Zusammenarbeit auf systematischer Basis wegfallen sollte, sind die Folgen für das EU-Recht nur schwer abzuschätzen. Zwar lebt die EU bereits seit vielen Jahren damit, dass Überstellungen von Asylsuchen­den an die nach dem Dubliner Übereinkom­men zuständigen Mitgliedstaaten nicht regel­mäßig ausgeführt werden, da in eini­gen Fällen eine unmenschliche Behandlung der Personen nicht ausgeschlossen wer­den kann. Diese Suspendierung von EU-Recht ist aber inhaltlich klar um­rissen. Eine sol­che Be­grenzbarkeit ist bei struk­turellen Defiziten der Rechtsstaatlichkeit nicht gegeben.

Der EGRM hat im Fall einer wirtschaft­lichen Schadensersatzklage seine Grundsatzentscheidung gefällt, dass das Recht auf ein faires Verfahren und das Legalitätsprinzip durch das polnische Verfassungstribunal verletzt wurden. Die sich hier andeutende allgemeine Erosion des gegenseitigen Vertrauens könnte also über die EU-Innen- und Justizpolitik hinaus bis zum Binnenmarkt ausstrahlen.

Strategische Prioritäten und Durchhaltevermögen der EU

Die EU steht vor einer schweren, aber hand­habbaren Belastungsprobe. Diejenigen Staaten, die eine europäische Einmischung in Fra­gen der nationalen Rechtsstaatlichkeit grund­sätzlich ablehnen, können nicht mehr auf den Faktor Zeit setzen. Die neue Bundesregierung stellt im Koalitionsvertrag in Aussicht, dass die Rechtsstaatlichkeit ein zentraler Bestandteil der deutschen Euro­pa­politik – wie auch einiger nationaler Refor­men – sein soll. Die Krise mit Belarus und die französischen Präsidentschaftswahlen sollten keine weitere bedeutende Verzögerung oder Neubewertung der Lage zur Folge haben. Wenn sich bis Mitte des kom­men­den Jahres kein politischer Wandel in Polen und Ungarn abzeichnet, ist eine Abstim­mung zur ersten Stufe des Artikel-7-Verfah­rens überfällig – und sei es nur, damit deutlich wird, dass der Europäische Rat Verantwortung für die Einhaltung der euro­päischen Grundwerte übernimmt. Die roten Linien im Europarecht sind schon jetzt mehr als deutlich gezogen. Der EuGH kann allein kaum mehr Druck aus­üben. Wenn Grundsatzfragen nur über den EuGH ge­spielt werden, nimmt die Legitimität der gesamten EU nachhaltig Schaden.

Auf Seiten der Kommission wird das aktuelle Spiel auf Zeit jedenfalls zu Ende gehen. Einschnitte bei den Zahlungen an Polen und Ungarn werden aller Voraussicht nach im Frühjahr verstetigt und schmerzhaft werden. Die Kritik des Europäischen Parlaments am vorsichtigen Vorgehen der Kommission wird sich damit weitestgehend erübrigen.

In der Gesamtschau ist der EU zu raten, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, auch gegen harte politische Widerstände. Dies bedeutet nicht, dass neue Dialog­angebote und Kompromissvorschläge an Polen von vornherein zum Scheitern ver­urteilt sind. Es sollte jede Rhetorik und Argumentation zurückgewiesen werden, dass es unter dem Deckmantel der Rechts­staatlichkeit um eine exemplarische Bestra­fung abweichender politischer Meinungen gehe. Deutschland trägt nach wie vor eine besondere Verantwortung dafür, sowohl eine europäische Führungsrolle wahr­zunehmen als auch die Positionen seiner Nach­barn mit erhöhter Sensibilität zu behandeln. Die neue Bundesregierung muss zunächst diplomatische Kontakte aufbauen und eingefahrene Handlungspfade über­prüfen, etwa im Bereich der Ener­giepolitik. Grundsätzlich ist es ratsam, nicht jede iden­titäts- und gesell­schaftspolitisch begründete Divergenz als Angriff auf die europäische Wertegemeinschaft darzustellen.

Die EU muss aber nicht nur ihre finan­ziel­len Interessen, sondern auch ihre tiefer­liegenden vertraglichen Grundlagen schüt­zen. Politisch geht es um die Erhaltung eines handlungsfähigen und glaubwürdigen Ge­meinwesens. Ebenso muss der Respekt für die Europäische Menschenrechtskonvention unter allen EU-Mitgliedstaaten unbedingt erhalten und nachdrücklich eingefordert werden. Eine politische Eiszeit in den Bezie­hungen zu Polen – und womög­lich zu Ungarn – sollte zur Verteidigung dieser Prioritäten in Kauf genommen werden.

Das bedeutet konkret, die Rechtsstaatlichkeit aktuellen sicherheits- und geo­poli­tischen Interessen nicht unterzuordnen und im Rat, soweit nötig, zur Wahrung der europäischen Handlungsfähigkeit auf Mehr­heits­entscheide zu setzen. Flexible Formate der Integration können flankierend hinzu­treten. Bei einer weiteren Ver­schlechterung des Vertrauens in die horizontale justizielle Kooperation müssen Akteure aus Politik und Exekutive den Richtungsentscheidungen der Justiz folgen. Die EU als Ganzes kann aus dieser Position heraus auf innen­politische Veränderungsprozesse und bes­sere Beziehungen zwischen einigen ihrer Mitgliedstaaten warten.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018