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Der neue US-Kongress und die europäische Sicherheit

Auch für die Nato bedeutet der Führungsstreit bei den Republikanern nichts Gutes

SWP-Aktuell 2023/A 01, 09.01.2023, 6 Pages

doi:10.18449/2023A01

Research Areas

Die Hängepartie bei der Wahl Kevin McCarthys zum neuen Sprecher des US-Repräsen­tantenhauses ist auch für Washingtons Sicherheits- und Verteidigungspolitik von Bedeutung. Sie verdeutlicht den Einfluss einer kleinen, aber doch zunehmend rele­vanten Gruppe republikanischer Politikerinnen und Politiker. Viele von ihnen lehnen nicht nur die Ukraine-Hilfen der USA ab, sondern blicken generell skeptisch auf das sicherheitspolitische und militärische Engagement Amerikas in Europa. Diese Vor­behalte zeigten sich bereits bei mehreren Abstimmungen in Senat und Repräsentantenhaus, als es nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 um Unterstützung für Kiew, um die Nato und um Sanktionen gegen Moskau ging. Lange Zeit konnten sich Amerikas Verbündete in der Allianz darauf verlassen, dass beide Häuser des US-Kongresses mit großen, überparteilichen Mehrheiten die sicherheitspolitische Führungsrolle Washingtons in Europa unterstützen. Doch an dieser ein­helligen Position zum Bündnis sind zuletzt Zweifel aufgekommen.

Am 3. Januar trat in Washington D. C. der neue US-Kongress zusammen. Bei den vor­angegangenen Wahlen am 8. November 2022 konnten die Demokraten ihre knappe Mehrheit im Senat verteidigen – und nach den Stichwahlen in Georgia am 6. Dezem­ber sogar um eine Stimme erweitern. Wäh­rend die Republikaner im Repräsentantenhaus eine ebenfalls knappe Mehrheit zurückerlangten, schnitten die »Trumpisten« dort – ebenso wie bei wichtigen Wah­len auf Ebene der Bundesstaaten – deut­lich schlechter ab als erwartet. Die Gründe dafür sind vielschichtig und hängen nicht mit außenpolitischen Positionen zusammen. Letztere haben im (Vor-)Wahlkampf nämlich keine nennenswerte Rolle gespielt. Dass Ex-Präsident Donald Trump auf das Kandidatenfeld der Republikaner starken Einfluss nahm, befeuerte innerhalb und außerhalb der USA dennoch die Sorge, im amerikanischen Kongress könnte ein Neo­isolationismus erstarken. Auch wenn America First am Ende weniger Wählerin­nen und Wähler mobilisierte, als sich die Republikaner erhofft hatten, wurde doch ein harter Kern an »Allianz-Skeptikern« wiedergewählt, die ganz überwiegend dem republikanischen Freedom Caucus angehören. Diese Gruppe dürfte angesichts knap­per Mehrheitsverhältnisse im neuen Kon­gress deutlich an (Veto-)Macht und Mit­sprache gewinnen. Darauf deutet die län­gere Blockade bei der Wahl McCarthys hin, der zahlreiche Zugeständnisse an seine innerparteilichen Gegner machen musste, um Sprecher des Repräsentantenhauses werden zu können.

Bedeutung des US-Kongresses für die europäische Sicherheit

Die Möglichkeiten des Kongresses zur Mit­wirkung in der Außen- und Sicherheits­politik sind begrenzt und haben sich im Laufe der letzten Dekaden weiter in Rich­tung der Exekutive verschoben. Bestimmte formale Kompetenzen der Legislative, wie das alleinige Recht, Streitkräfte aufzustellen und zu unterhalten oder Kriege zu erklä­ren, haben in der Praxis weitgehend an Be­deu­tung verloren. Auf das operative Manage­ment amerikanischer Bündnisse – etwa mit Blick auf die Größe und Anzahl von Militärübungen, die Stationierung bzw. den Abzug von US-Truppen und die Umsetzung von Bündnisverträgen – hat der Kongress nur eingeschränkt Einfluss.

Dennoch sollte seine Relevanz für die amerikanische Sicherheitspolitik im Allge­meinen und für die europäische Sicherheit im Besonderen nicht unterschätzt werden. Mit der Haushaltsgesetzgebung besitzt der Kongress einen langen Hebel, über den er auch bündnispolitische Maßnahmen oder etwa die militärische Unterstützung von Partnern wie der Ukraine forcieren oder blockieren kann – zumindest dann, wenn es dafür jeweils eine breite, überparteiliche Mehrheit gibt. Zudem nutzt der Kongress auch das Instrument von Wirtschaftssanktionen ausgiebig, um außen- und sicherheitspolitische Positionen zu untermauern. Während der Amtszeit Donald Trumps blickten die europäischen Verbündeten schließlich auch aufmerksam in Richtung Kapitol, weil sie von dort Schützenhilfe gegen Versuche des Präsidenten erhofften, die Allianz zu schwächen oder gar grund­legend in Frage zu stellen.

Nach der russischen Krim-Annexion 2014 leisteten die USA im Rahmen der Euro­pean Deterrence Initiative (EDI) militärische Beiträge zur Rückversicherung der Nato (vgl. SWP-Studie 15/2019). Diese erschienen den europäischen Verbündeten auch des­halb glaubwürdig, weil große Mehrheiten im Kongress die finanzielle Unterfütterung der Initiative unter Präsident Barack Obama wie unter seinem Nachfolger Donald Trump sicherstellten. Außerdem griff der Kongress auf das Instrument von (rechtlich nicht bindenden) Resolutionen zurück, um der Nato politisch den Rücken zu stärken.

Dies alles bedeutet nicht, dass die Allianz in Senat und Repräsentantenhaus gänzlich unkritisch gesehen wurde – insbesondere die aus amerikanischer Sicht unzureichende transatlantische Lastenteilung wurde immer wieder thematisiert. Dabei gab es aber nur vereinzelt Stimmen, die Washing­tons Bündnisse bzw. den bündnispolitischen Kurs des Landes grundsätzlich in Zweifel zogen.

Zu diesen Ausnahmen zählten die republikanischen Senatoren Mike Lee und Rand Paul. Sie wandten sich offen dagegen, weitere Staaten in das Bündnis aufzunehmen. Solange die USA den Löwenanteil der Verteidigungslasten in der Nato trügen, äußerte etwa Lee, »können und sollten wir keine Ausweitung unserer Verpflichtungen« ins Auge fassen. Die USA dürften sich nicht im Vorhinein darauf festlegen, die »Kriege der anderen« zu führen.

Der Kongress und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine

Mit Joe Biden zog im Januar 2021 ein Mann ins Weiße Haus, dessen atlantische Orien­tierung – zumindest in der Sicherheits­politik – und dessen Unterstützung für Amerikas Militärbündnisse kaum in Frage stehen. Damit änderte sich auch der externe Blick auf die Rolle von Repräsentantenhaus und Senat. Nunmehr lautete die zentrale Frage aus Sicht von Alliierten, ob der Kongress den europa- und bündnis­politischen Kurs des Präsidenten vollumfänglich unterstützen würde. Dies galt zu­mal, nachdem die Republikaner bei den Zwischenwahlen von 2022 wieder die Mehr­heit im Repräsentantenhaus errungen hatten.

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine steht dabei vor allem die huma­nitäre, wirtschaftliche und militärische Hilfe der USA für das angegriffene Land im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Darüber hinaus geht es direkt oder indirekt aber häufig auch generell um die sicherheitspolitische Rolle Amerikas in Europa. Tatsächlich hat das Abstimmungsverhalten insbesondere in den Reihen der Republikaner seit der russischen Invasion im Februar 2022 Fragen aufgeworfen.

Der Kongress bewilligte seither insgesamt vier Hilfspakete für die Ukraine. Die beiden Pakete von März und September waren jeweils an ein umfassendes Ausgabengesetz für die US-Regierung gekoppelt. Das Paket von Mai dagegen wurde als einzelnes Ge­setz speziell zur Ukraine beschlossen, weshalb das Abstimmungsverhalten hier aussagekräftiger ist. Damals votierten im Repräsentantenhaus 57 republikanische Abgeordnete bei 368 Ja-Stimmen gegen das 40 Milliarden US-Dollar schwere Paket, im Senat stimmten 11 republikanische Sena­toren dagegen. Alle Gegenstimmen kamen dabei jeweils aus der Republikanischen Partei. Ende Dezember schließlich ver­ab­schiedete der Kongress das vierte Ukraine-Hilfspaket. Es hatte ein Volumen von 45 Milliarden US-Dollar und war Teil eines 1,7 Billionen US-Dollar umfassenden Ausgabengesetzes. Dabei fielen die Hilfen für Kiew sogar höher aus, als die Biden-Administration ursprünglich beantragt hatte. Während im Senat zahlreiche Repub­likaner für das Gesetz stimmten, votierte die republikanische Fraktion im Repräsentantenhaus fast geschlossen dagegen. Be­reits im Vorfeld hatten einige Republikaner Vorbehalte gegenüber der Unterstützung für Kiew angemeldet.

Besonders erhellend sind jedoch die Abstimmungen im Kongress, bei denen es nicht um die Ukraine im engeren Sinne, sondern um darüber hinausgehende Fragen europäischer Sicherheit ging. Im April 2022 stimmten 63 Abgeordnete – allesamt von republikanischer Seite – gegen eine Reso­lution zur politischen Unterstützung der Atlantischen Allianz. Im Juli des Jahres votierten 18 Republikaner im Repräsentantenhaus gegen eine Resolution, mit der die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finn­lands begrüßt wurde. Bei der entscheidenden Abstimmung im Senat waren im August dann allerdings nahezu alle Sena­torinnen und Senatoren für den Beitritt der beiden nordeuropäischen Länder. Die ein­zige Gegenstimme kam von dem Republikaner Josh Hawley aus Missouri.

Dabei variieren die Motive derjenigen, die gegen eine Unterstützung der Ukraine oder die Nato-Politik von Bidens Adminis­tration gestimmt haben. Solche Voten sind nicht automatisch gleichzusetzen mit einer isolationistischen Grundhaltung bzw. mit der Ablehnung von Amerikas Führungs­rolle in der Allianz. Selbst bei der relativ homogenen Gruppe jener Republikanerinnen und Republikaner, die sich selbst zum America First-Flügel der Partei zählen, ist nicht immer klar, wofür sie außen- und sicherheitspolitisch stehen – zumal dann, wenn sie im November 2022 neu in den Kongress gewählt wurden.

Einig sind sie sich in erster Linie bei innen-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen. Sie sind gegen »Big Govern­ment«, »Big Tech« und das Recht auf Ab­treibung; unterstützt werden »Energie­unabhängigkeit« und das Recht, Waffen zu tragen. Die Forderung, tough on China zu sein, gehört mittlerweile zum Mainstream beider Parteien im Kongress. Viele America First-Republikaner plädieren zudem für ein starkes US-Militär. Einige dieser Politiker treten auch explizit für Bündnisse der Vereinigten Staaten ein, wobei dann eher auf Israel als auf die Nato verwiesen wird.

Dessen ungeachtet hat sich im Kongress ein harter Kern republikanischer Politikerinnen und Politiker herausgebildet, deren Abstimmungsverhalten seit Beginn des Ukraine-Krieges darauf schließen lässt, dass sie die sicherheitspolitische Rolle der USA in Europa und der Nato grundsätzlich ablehnen. Diese Gruppe umfasst im Reprä­sentantenhaus etwa 25 bis 30 Abgeordnete und deckt sich weitgehend, wenn auch nicht vollständig, mit dem rechtskonservativen Freedom Caucus der Republikaner. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Mit­glieder der Gruppe im Vorwahlkampf von Donald Trump unterstützt. Die wohl pro­minenteste und umstrittenste Vertreterin ist Marjorie Taylor Greene, die seit 2021 für ihren Wahlkreis in Georgia im Repräsentantenhaus sitzt. Der Abgeordnete Thomas Massie aus Kentucky sticht mit der Klarheit hervor, in der er die Nato ablehnt. So äußerte er plakativ, Amerika könne es sich nicht leisten, »die Verteidigung eines sozia­lis­­­tischen Europas zu subventionieren«.

Etwas weniger kontrovers und damit anschlussfähiger für gedankliche Strömungen jenseits von America First ist beispielsweise der Abgeordnete Tom McClintock aus Kalifornien. Er betrachtet die einstigen Nato-Osterweiterungen als Fehler, weil sie destabilisierend auf die europäische Sicher­heit gewirkt hätten. Daher lehnt er auch einen Beitritt Schwedens und Finnlands zu dem Bündnis ab. Zwar ist eine Ablehnung der Erweiterungspolitik nicht automatisch gleichzusetzen mit einer Ablehnung der Nato per se. Die »Politik der offenen Tür« ist jedoch ein konstitutives Element sowohl der bisherigen amerikanischen Sicherheitspolitik als auch des Selbstverständnisses der Allianz.

Die allermeisten aus dem Kreis der repub­likanischen Bündnisskeptiker wurden bei den Midterms am 8. November 2022 wie­der­gewählt, so dass dieser harte Kern auch im neuen Kongress vertreten ist. Eine Gruppe von 25 bis 30 Abgeordneten mag in einem Gremium mit 435 Sitzen als klein und un­bedeutend erscheinen. Angesichts der knap­pen Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus – 222 Sitze für die Republikaner, 213 Sitze für die Demokraten – kommt einer ideologisch homogenen Gruppe je­doch ein überproportional großes Gewicht zu. Das spiegelte sich nicht zuletzt in dem rhetorischen Balanceakt wider, den Kevin McCarthy im Bestreben, Sprecher des Reprä­sentantenhauses zu werden, mit seinen Äußerungen zur Ukraine vollzog. Einerseits wandte er sich gegen einen »Blankoscheck« für das Land, andererseits plädierte er für die Fortführung der Hilfen.

Ob sich auch im Senat eine Gruppe von Bündnisskeptikern etablieren kann, ist bis­lang nicht klar ersichtlich. Dies wird auch davon abhängen, wie sich neu gewählte Senatorinnen und Senatoren außen- und sicherheitspolitisch positionieren werden. So übernimmt beispielsweise der Republikaner Markwayne Mullin im neuen Kon­gress den Senatssitz von James Inhofe für den Bundesstaat Oklahoma. Inhofe gehörte dem Senat bereits seit 1994 an und war zuletzt der ranghöchste Republikaner im Streitkräfteausschuss. Mullin, der seinen Bundesstaat zuvor schon im Repräsentantenhaus vertreten hatte, warb im Wahlkampf damit, die »liberale Agenda Bidens« zu bekämpfen, und verortete sich klar als Make America Great Again-Republikaner. Ein außen- und sicherheitspolitisches Profil hat er bislang nicht.

Parteipolitische Polarisierung kommt der Nato zugute

Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums, nämlich beim progressiven (also linken) Flügel der Demokraten, gibt es Kritik am sicherheitspolitischen Kurs der Biden-Administration. Sie rührt allerdings nicht aus einer grundsätzlichen Ablehnung der amerikanischen Bündnispolitik, son­dern eher aus der Opposition gegen eine als solche empfundene »Militarisierung« der US-Außenpolitik. In der Vergangenheit ent­zündete sich der Widerspruch der »Progressiven« dementsprechend vor allem an der Höhe des Verteidigungsetats oder an kon­kreten Rüstungsentscheidungen etwa im Bereich des nuklearen Arsenals.

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg lancierten 30 demokratische Abgeord­nete des progressiven Flügels im Oktober 2022 einen offenen Brief, in dem sie einen Kurswechsel der Biden-Administration ver­langten. Das Schreiben löste in den eigenen Reihen derartige Empörung aus, dass die Unterzeichner es umgehend zurückzogen und sich teils davon distanzierten. Dabei spiegelte der Brief wohl ein tieferes Un­behagen der Parteilinken wider. Im Kern forderten sie einen direkten Austausch mit Russland, um zu einem Waffenstillstand in der Ukraine zu gelangen. Es ging ihnen um einen politischen Ansatz, der die Dip­lomatie stärker in den Vordergrund rückt und sich nicht auf Waffenlieferungen be­schränkt. Die Kritik richtete sich nicht gegen Waffenlieferungen per se, noch weniger gegen die militärische Rückversicherung der Nato in Osteuropa oder die Aufnahme neuer Staaten in die Allianz. Doch je länger der Ukraine-Krieg dauert und je mehr menschliches Leid und mate­rielle Schäden er verursacht, desto lauter könnten Zweifel an den Rüstungslieferungen und desto expliziter könnten Forde­rungen nach Gesprächen der US-Adminis­tra­tion mit Moskau werden.

Die Aussichten für weitere Ukraine-Hilfs­pakete und eine Unterstützung der Nato im neuen Kongress dürften davon ab­hängig sein, dass die »Militarisierungs­kritiker« vom linken Flügel der Demokraten keine gemeinsame Agenda mit den America First-Vertretern der Republikaner verfolgen. Überparteiliche Abstimmungen gegen die Allianz und den Beistand für Kiew sind auf­grund der ideologischen Gräben allerdings so gut wie ausgeschlossen. Es mag paradox klingen, doch sowohl die Ukraine als auch die Nato profitieren in dieser Hinsicht von der parteipolitischen Polarisierung in Washington.

Zum einen spielt die Größe bestimmter Gruppen, wie des Freedom Caucus bei den Republikanern oder des Progressive Caucus bei den Demokraten, eine wichtige Rolle für die politischen Kräfteverhältnisse im Kongress. Bedeutsam ist zum anderen aber auch, mit wem die Führungspositionen in den beiden Parteien sowie in den für Außen- und Sicherheitspolitik relevanten Ausschüssen von Senat und Repräsentantenhaus besetzt werden. Im parlamentarischen Betrieb nehmen die Fachausschüsse eine zentrale Stellung ein. Von ihnen hängt ab, welche der zahlreichen Gesetzesvorhaben und Resolutionsentwürfe überhaupt zur Abstimmung gelangen. Entsprechend einflussreich sind die von der jeweiligen Mehrheitspartei gestellten Vorsitzenden der Ausschüsse sowie die ranghöchsten Vertre­terinnen und Vertreter der Minderheits­partei, die sogenannten Ranking Members.

Bei der Personalauswahl für diese Posi­tionen spielt das Senioritätsprinzip, also die bisherige Dienstzeit im Kongress, zwar keine allein ausschlaggebende, aber doch nach wie vor wichtige Rolle. Dieser Um­stand trug maßgeblich dazu bei, dass Ver­treterinnen und Vertreter der extremen Parteiflügel bislang kaum Führungsposi­tionen im US-Kongress erlangt haben. So nimmt beispielsweise der besagte Markwayne Mullin künftig zwar den Senatssitz von Inhofe ein, keineswegs jedoch auch dessen Führungsrolle im Streitkräfteausschuss. Dafür ist aufgrund des Senioritätsprinzips vielmehr der Republikaner Roger Wicker vorgesehen, der den Bundesstaat Mississippi bereits seit 2007 im Senat vertritt. Auch der Führungswechsel im mächtigen Bewilligungsausschuss (Appropriations Committee) folgt dem Kriterium der Dienstzeit.

Im Repräsentantenhaus, wo nunmehr die Republikaner statt wie bisher die Demokraten die Mehrheitsfraktion stellen, erfolgt der Führungswechsel im Wesent­lichen durch einen Rollentausch: In den Fachausschüssen für Auswärtiges, Streitkräfte sowie Bewilligung rücken die Ranking Members in die jeweiligen Vorsitze auf, während die bisherigen Vorsitzenden zu Ranking Members werden. Anders als im Repräsentantenhaus verlief die Wahl der Führung im Senat nach Plan. Dort wurden der Demokrat Chuck Schumer als Mehrheitsführer und der Republikaner Mitch McConnell als Minderheitsführer wiedergewählt.

Den Blick auf 2024 gerichtet

Echte Isolationisten, welche die sicherheitspolitischen Bündnisse der USA in Europa oder anderen Weltregionen grundlegend in Frage stellen, sind auch im neuen Kongress zahlenmäßig eine kleine Minderheit. Die kritischen Stimmen insbesondere bei den Republikanern werden jedoch vernehm­barer. Bei einigen wiederum, die den Wert der US-Bündnisse durchaus anerkennen, stehen eher der indopazifische Raum und damit die Eindämmung Chinas im Fokus. Im Repräsentantenhaus wurde der harte Kern republikanischer Politikerinnen und Poli­tiker wiedergewählt, die das sicherheits­politische Engagement der USA in Europa generell skeptisch betrachten. Vor allem mit Blick auf die parlamentarischen Neu­zugänge aus dem America First-Flügel bleibt abzuwarten, ob diese Sichtweise weiteren Zulauf finden wird.

Im Laufe der Zeit ist zudem mit einem »Marsch durch die Institutionen« zu rech­nen, der entsprechende Protagonisten von der Basis in Spitzenämter des Kongresses führen wird. Bereits jetzt versuchten Ver­treterinnen und Vertreter des republikanischen Rechtsaußen-Flügels wie Marjorie Taylor Greene, die Wahl des neuen Spre­chers im Repräsentantenhaus zu nutzen, um sich als Mehrheitsbeschaffer einflussreiche Posten zu sichern. Unabhängig davon dürfte der Widerstand gegen ameri­kanische Unterstützung für die Ukraine sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten künftig eher zu- als abnehmen – und das umso mehr, je länger der Krieg andauert. Gut möglich ist, dass es in Zu­kunft zwar weiterhin entsprechende Hilfs­pakete gibt, diese dann jedoch deutlich kleiner ausfallen als bisher.

Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht deutscher und europäischer Politik wichtig, eigene Zusagen einzuhalten, was die wirt­schaftliche, humanitäre und militärische Unterstützung der Ukraine und die Vertei­digungsanstrengungen der Nato betrifft. Solche Beiträge gilt es gegenüber der amerikanischen Seite auch immer wieder herauszustellen. Darüber hinaus ist ebenso wichtig, gerade mit schwierigen Kontaktpartnern aus dem Freedom Caucus bzw. der America First-Fraktion der Republikaner ins Gespräch zu kommen – etwa im Rahmen des Parlamentarieraustauschs zwischen Bundestag und US-Kongress sowie der Aktivitäten des Transatlantikkoordinators im Auswärtigen Amt. Denn nicht alle, die sich bei den letzten Vorwahlen von Donald Trump haben unterstützen lassen, teilen auch dessen Verachtung für EU und Nato.

So oder so wird der Einfluss des America First-Flügels im Kongress tendenziell wach­sen. Dies wäre aus deutscher und europäischer Sicht umso folgenschwerer, wenn 2024 erneut ein Präsident ins Weiße Haus gewählt wird, der deutlich weniger klar für Amerikas Bündnisse einsteht als Joe Biden. Dies könnte wieder Donald Trump sein oder – was derzeit als wahrscheinlicher gilt – ein anderer Kandidat aus dem rech­ten Spektrum der Republikaner. In diesem Fall hätte die America First-Fraktion nicht nur einen Fürsprecher im Weißen Haus. Darüber hinaus wäre der Kongress auch ein weniger kraftvolles Korrektiv gegen sicher­heitspolitische Entscheidungen der künf­tigen US-Administration, die den Interessen von EU und europäischen Nato-Partnern zuwiderliefen.

Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.

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