Auf dem 12. Ministertreffen am 20. Mai 2021 in Reykjavik übernahm Russland den Vorsitz des Arktischen Rates, den bis dahin Island innehatte. Am Tag zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow eine erste Zusammenkunft mit US-Außenminister Antony Blinken als konstruktiv bezeichnet. Allerdings hatte Lawrow den Westen im Vorfeld pauschal vor »Besitzansprüchen in der Arktis« gewarnt; für jeden sei »seit langem vollkommen klar, dass dies unser Territorium ist«. Aber was ist damit gemeint: der Nordpolarraum entsprechend dem neuen Antrag, den Russland im März 2021 an die Festlandsockelgrenzkommission gerichtet hat? Oder spielte Lawrow auf den andauernden Dissens um die Nördliche Seeroute an? Moskau will offenbar durch aggressive Rhetorik und gleichzeitige Dialogbereitschaft eine für sich vorteilhafte Lage in der Arktis schaffen.
Die vier Prioritäten des isländischen Vorsitzes (2019–21) galten der arktischen Meeresumwelt, dem Klimawandel inklusive praktischen, sich mit grüner Energie bietenden Lösungsansätzen, den Menschen und Gemeinschaften der Arktis sowie der Stärkung des Arktischen Rates. Island sei stolz auf das, was es erreicht habe, erklärte Außenminister Gudlaugur Thor Thordarson: Covid-19 habe den Vorsitz beeinträchtigt, aber trotz Verzögerungen seien die meisten Pläne verwirklicht worden, darunter eine Initiative gegen die Meeresverschmutzung durch Mikroplastik. Außerdem wurde erstmals eine langfristige Strategie für die Arbeit des Arktischen Rates verabschiedet. Sie umfasst einen Aktionsplan zu Klima, Ökosystem, Meeres- und Küstenräumen, soziale Entwicklung, nachhaltige Wirtschaft, Wissen und Kommunikation sowie die weitere Stärkung des Rates in seiner Arbeit.
Welche Themen sind Russland wichtig? Die vom Sicherheitsrat der Russischen Föderation eingesetzte Arktis-Kommission tagte im Oktober 2020 zur Vorbereitung auf den Vorsitz. Dabei machte Dmitri Medwedew als stellvertretender Ratsvorsitzender wenig überraschend deutlich, dass die nationale Sicherheit im Vordergrund der russischen Agenda stehe; denn Russland werde von seinen Nato-Nachbarstaaten bedroht.
Allerdings folgten die späteren Ausführungen des russischen Beauftragten für die Arktis Nikolai Kortschunow der traditionellen, auf Kooperation angelegten Agenda des Arktischen Rates. Ähnlich wie zuvor für den isländischen Vorsitz wurden vier Prioritäten gesetzt: die Verbesserung der Lebensbedingungen der arktischen Bevölkerung – auch der indigenen Volksgruppen; der Schutz der arktischen Umwelt, einschließlich der Bewältigung der Folgen des Klimawandels (mit besonderem Fokus auf Permafrostgebiete); die sozioökonomische Entwicklung der Region (in Russland mit Schwerpunkt auf Städten in den nördlichen Regionen und entlang der Nördlichen Seeroute) und die Stärkung der Rolle des Arktischen Rates als Basis für multilaterale Zusammenarbeit.
So wichtig diese Themen sind: Geopolitische und sicherheitsrelevante Aspekte der russischen Arktisagenda bleiben brisant.
Das Verhältnis USA–Russland
Die Arktis sei eines der wenigen Felder, in dem Russland und die USA noch erfolgreich einen Dialog führen können, verlautete aus dem russischen Sicherheitsrat. Auf der Arktisagenda stünden »praktische Fragen«, wie die Koordination der Küstenwachen, Fischereimanagement und Schiffsverkehr. Dies sei ein »gutes Modell« auch für andere Bereiche: mit konkreten Fragen zu beginnen und danach allgemeinere Themen zu erörtern.
Während sich Kortschunow bemühte, ein positives Klima für das Ratstreffen in Reykjavik zu schaffen, warnte Außenminister Lawrow zugleich »den Westen vor Besitzansprüchen in der Arktis«. Außerdem kritisierte er Norwegen, weil es das Vordringen der Nato in die Arktis rechtfertige. Fast zur selben Zeit drohte Präsident Putin, jedem die Zähne einzuschlagen, der sich an russischem Territorium vergreife. Jeder wolle ein Stück Russlands abbeißen, klagte Putin bei einer Konferenz zur Förderung patriotischer Gesinnung. Adressat beider Warnungen waren die USA, aber auch deren nordische Verbündete.
Das russische Verhältnis zu den USA steht unter dem Eindruck des neuen Tonfalls in Washington: Ex-Präsident Obama nannte Putin in seinen Memoiren den Leiter eines »kriminellen Syndikats«, Biden bezeichnete Putin als »Killer«. Unmissverständliche Signale an Russland sind auch die Stationierung einer Staffel von vier B‑1B-Bombern auf der Orland Air Base an der norwegischen Westküste und die Ausweitung der Verteidigungskooperation mit Norwegen. Seither stehen Flughäfen und eine Marinebasis für bilaterale Einsätze zur Verfügung. Diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf die anhaltende militärische Aufrüstung in der Arktis und die damit einhergehende Verunsicherung nordischer Nato-Verbündeter und von Partnern wie Schweden. Deshalb fügten die USA der traditionellen Balancepolitik Oslos gegenüber Moskau neue Abschreckungselemente hinzu.
Dabei ist Washington nicht an einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen gelegen, und jenseits von Verhandlungen über strategische Stabilität (und ein Nachfolgeabkommen zu »New START«) gibt es wenige Felder für konstruktive Kooperation. In der Arktis ist Zusammenarbeit nötig und möglich, und dies sogar zur beiderseitigen Zufriedenheit.
Nicht zuletzt die Spannungen, die Russland mit dem Truppenaufmarsch nahe der Grenze zur Ukraine im April ausgelöst hat, lassen die Prioritäten des russischen Vorsitzes jedoch als höchst ambivalent erscheinen. Die Kopplung von aktuellen Drohgebärden mit dem ungeklärten Besitzanspruch auf Gebiete rund um den Nordpol ergibt eine brisante Mischung. Schließlich wurde erst 2007 bei einer spektakulären Aktion eine russische Flagge in über 4 000 Metern Tiefe auf den Meeresboden unter dem Nordpol gesetzt, um russische Ansprüche symbolisch geltend zu machen. Der russische Polarforscher und ehemalige Abgeordnete Artur Chilingarow hatte vor dem Tauchgang die Mission klar definiert: Es solle bewiesen werden, »die Arktis ist russisch«.
Der Kampf um den Nordpol
Nach den Daten, die Russland 2015 und 2019 der VN-Kommission als Grundlage für seine Anträge übermittelt hat, beansprucht Moskau in der Arktis ein Gebiet von 1,2 Millionen Quadratkilometern, den Nordpol inklusive. 500 000 km2 überschneiden sich fast zur Hälfte mit denen, auf die Dänemark Anspruch erhebt.
Von August bis Oktober 2020 haben zwei russische Eisbrecher zusätzliche Daten erhoben. Auf deren Basis erweiterte Russland seinen Antrag auf ein Gebiet, das vom Nordpol bis an die Grenzen der Ausschließlichen Wirtschaftszonen Kanadas und Grönlands reicht. Moskau hat im März 2021 eine entsprechende Forderung erhoben, die das bisherige Gebiet um weitere 705 000 km2 vergrößert. Dies sei ein »maximalistischer Antrag«, man könne nicht mehr verlangen, kommentierte der kanadische Politikwissenschaftler Robert Huebert. Russland erkläre damit »praktisch den gesamten Arktischen Ozean zu ihrem Kontinentalschelf«, während es Dänemark und Kanada ignoriere.
Kopenhagen beansprucht anhand der von Grönland aus bestimmten Basislinien mit 895 000 km2 ein Gebiet, das etwa zwanzigmal so groß ist wie Dänemark und ebenfalls den Nordpol umfasst. Der Anspruch auf dieses Gebiet wurde schon in der Arktisstrategie des Königreichs 2011 geltend gemacht. Zunächst war eine mit Kanada abgestimmte Fläche von 150 000 km2 ins Auge gefasst worden. Diese Verhandlungslinie hatte Kanadas damaliger Premierminister Stephen Harper jedoch 2013 aufgekündigt; Harper wollte auf keinen Fall einen Antrag stellen, der den Nordpol ausklammert. Daraufhin einigten sich Kopenhagen und Nuuk auf einen neuen Antrag, der im Dezember 2014 eingereicht wurde und die erwähnte maximale Gebietsausdehnung beinhaltet.
Die Gebiete überlappen sich mit den von Russland beanspruchten, worin Moskau zunächst kein Problem sah. Vielmehr wurde es als eine Chance erkannt, wenn die drei Staaten untereinander einen Konsens hätten erzielen können. Doch auch nach einem Treffen im Mai 2019 in Ottawa konnte offenbar kein Ergebnis herbeigeführt werden. Anstelle einer Beilegung der Differenzen wählte Moskau im Kampf um den Nordpol eine andere Taktik und weitete seine Forderungen aus.
Vor Gericht und auf offener See…
In der Ilulissat-Erklärung von Mai 2008 lehnten es die fünf arktischen Küstenstaaten ab, ein ähnliches Rechtsregime zu entwickeln, wie es der Antarktis-Vertrag von 1959 begründet hatte. Stattdessen bekräftigten sie die Absicht, ihre souveränen Rechte und Pflichten gemäß dem Seerecht zu klären.
Der dänische Geheimdienst publizierte jedoch schon wenige Jahre nach der Ilulissat-Erklärung eine Risikoeinschätzung mit Blick auf Entwicklungen, die für die nationale Sicherheit relevant sind. Danach könnte Russland im Falle eines Votums, das seinen Antrag ablehnt, die Kompetenz und die Unparteilichkeit der VN-Kommission anzweifeln und eine eigene Bewertung vornehmen. Diese Einschätzung hat die dänische Seite 2017 wiederholt, und im November 2020 empfahlen Juristen einer russischen Stiftung tatsächlich eine Vorgehensweise, die der dänischen Einschätzung ähnelt: Moskau benötige keine Zustimmung der Vereinten Nationen, sondern könne einfach erklären, dass das Schelf zur Russischen Föderation gehöre, und in der Folge Fakten schaffen. Dies wäre ein Vorgehen ähnlich dem Chinas im Südchinesischen Meer, das die Entscheidung des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag 2016 ignorierte und sich Gebiete aneignete.
Im Unterschied zu Peking kann Moskau aber in jedem Fall erheblich an Meeresgebiet gewinnen, solange es im Einklang mit dem Seerecht handelt. Es gibt – theoretisch – keinen Grund für einen Kampf um den Nordpol. Auch Dänemark hofft auf eine gemeinsame und einvernehmliche Lösung der Arktisstaaten, obwohl es nach wie vor eine Situation nicht ausschließt, in der Russland »einen anderen Ansatz zu einem späteren Zeitpunkt wählen könnte, sollte der VN-Prozess kein Ergebnis zeitigen, das für Russland akzeptabel ist«.
Ganz auszuschließen ist also nicht, dass Putin langfristig in der Arktis einen günstigen Moment ausnutzen könnte, um Fakten zu schaffen, zumal die USA nicht auf eine Eskalation im Nordpolargebiet vorbereitet sind und ihre Aufmerksamkeit auf den indo-pazifischen Raum gerichtet ist. Daher kann der von Moskau unterstützte Dialog über Fragen militärischer Sicherheit in der Arktis auch im Interesse Washingtons dazu beitragen, das Risiko einer Eskalation im arktisch-nordatlantischen Raum einzuhegen. Einerseits bietet fortgesetztes Aufrechterhalten von Drohkulissen Russland die Möglichkeit, in der Großmachtrivalität nicht an Bedeutung zu verlieren. Dass der Kreml diesen Zusammenhang sieht, darauf weisen die russischen Aktivitäten in Europa ebenso hin wie die von Putin propagierten »Wunderwaffen« der russischen Nordflotte, darunter die nuklear angetriebene Unterwasserdrohne Poseidon. Wo Moskau die militärische Eskalationsdynamik weitgehend kontrolliert – wie etwa im Fall der Ostukraine –, kann eine Zuspitzung der russischen Politik als Instrument dienen. Andererseits ist Russland an einer stabilen und friedlichen Lage interessiert, um die milliardenschweren Investitionsprojekte in der arktischen Zone vorantreiben zu können.
Auf dünnem Eis
Außenminister Lawrow befürwortete bei dem Treffen in Reykjavik explizit die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen den militärischen Befehlshabern der Arktisstaaten. Dass er dies als designierter Ratsvorsitzender in der Sitzung äußerte (obwohl sich der Arktische Rat nicht mit Belangen militärischer Sicherheit befasst), unterstreicht, wie wichtig es Moskau ist, wieder in einen Dialog einzutreten. Fast hat es den Anschein, als wolle der Kreml einen Puffer für die eigene aggressive Rhetorik schaffen.
Doch die Erwartungen an die in Reykjavik beschworene konstruktive Kooperation sollten realistisch bleiben. Im Zweifelsfall nutzt Russland bilaterale Gespräche, um seinen Großmachtstatus zu bestätigen. Im eigenen Interesse müsste Moskau auch missverständliche Äußerungen und Legendenbildung unterlassen; allerdings ist das beste Mittel gegen Desinformation, wenn sich solche Legenden als lächerlich erweisen.
So spielt die erwähnte Drohung Putins auf die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright an, über deren »Appetit auf Sibirien« sich Moskau entrüstet. Dabei hat die vor zwanzig Jahren aus der Regierung ausgeschiedene Albright nie etwas Derartiges geäußert (nach Angabe eines früheren russischen Geheimdienstgenerals sei es denn auch einer auf übersinnliche Fähigkeiten spezialisierten Sondereinheit gelungen, Albrights Gedanken zu lesen).
In seiner Warnung hat Lawrow auch nicht die russischen Ansprüche auf das Kontinentalschelf, sondern die Meeresgebiete entlang der Nördlichen Seeroute gemeint. Diese sieht Russland im Gegensatz zu den USA nicht als internationale Wasserstraße an.
Russland braucht Frieden und Stabilität in der Arktis, um ungehindert Kohle, Öl und Gas fördern und über die Nördliche Seeroute verschiffen zu können, deren Modernisierung beträchtliche Investitionen erfordert. Insofern genießt in der Regel die nationale Sicherheit – hier konkret die Energiewirtschaft und zu ihrem Schutz das Militär – den Vorrang, während traditionelle Themen des Arktischen Rates Russland nachrangig erscheinen. Dennoch hat sich der russische Vorsitz für die nächsten zwei Jahre ein umfangreiches Programm vorgenommen. Es lässt hoffen, dass Bevölkerung, Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften in der Politik des Kremls an Bedeutung gewinnen werden. Schließlich könnte die Arktis idealiter wieder als Ort der Zusammenarbeit und damit als stabilisierender Faktor in der internationalen Politik fungieren.
Es bleibt eine geopolitisch brisante Frage, ob am Nordpol in Zukunft eine russische, kanadische oder dänische bzw. grönländische Flagge hängen wird. Momentan praktiziert Putin eine Mischung aus aggressiver Rhetorik und vorgeblicher Dialogbereitschaft, die Gesprächspartner zu fortwährender Anpassung zwingt, während der Kreml konkrete Zugeständnisse vermeidet. Das macht den Dialog der Arktisstaaten nicht einfacher, zumal das Eis, auf dem sie balancieren, immer dünner wird.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2021A47