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Der INF-Vertrag vor dem Aus

Ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf könnte dennoch verhindert werden

SWP-Aktuell 2018/A 63, 14.11.2018, 8 Pages Research Areas

Präsident Trump will den Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstrecken­systeme (INF) von 1987 kündigen. Dessen Ziel war es, den nuklearen Stationierungswettlauf der USA und der damaligen Sowjetunion in Europa zu beenden. Trump begründet seine Absicht damit, dass Russland den Vertrag verletzt habe. Moskau bestreitet dies und wirft seinerseits Washington Vertragsbruch vor. Laut Trump gefährde auch Chinas INF-Potential die strategische Stellung der USA. Washingtons uni­laterales Handeln widerspricht jüngsten Positionen der Nato. Sollten die Vereinigten Staaten den INF-Vertrag verlassen, würde ein weiterer Eck­pfeiler der europäischen Sicherheitsordnung und der globalen nuklearen Ordnung kollabieren. Unberechenbarkeit und Destabilisierung würden zunehmen. Europa muss der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens entschieden entgegentreten. Es sollte darauf bestehen, gegen­seitige Anschuldigungen transparent und kooperativ zu verifizieren und, wenn nötig, zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen zu verein­baren, um den Vertrag zu erhalten oder die Folgen der Aufkündigung zu begrenzen.

Der Vertrag über die Beseitigung nuklearer Mittel­­streckensysteme (INF-Vertrag, Inter­mediate Range Nuclear Forces Treaty) verpflichtet die USA und die Nach­folgestaaten der Sowjetunion, landgestützte ballistische Rake­ten und Marschflugkörper (GLCM) mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km sowie ihre Abschussvorrichtungen und Infrastruktur zu zerstören. Er verbietet ihre Wiedereinführung und Produk­tion sowie Flugerprobung und Depotlagerung.

Mit dem INF-Vertrag beendeten Washing­ton und Moskau die »Raketenkrise«, die von 1978 bis 1985 gedauert hatte. Deutschland und andere westeuropäische Staaten hatten befürchtet, dass die UdSSR mit der mas­si­ven Stationierung weitreichender Mittel­streckenraketen des Typs SS-20 Europa erpressen könnte, weil das atomare Gleich­gewicht die USA von einer strategischen Eskalation abschreckte. Daher entschied die Nato 1979 im Konsens, 572 Mittelstrecken­waffen in Westeuropa zu stationieren und den Dialog mit der UdSSR zu suchen. Die »Nach­rüstung« führte zu Massenprotesten, vor allem in Deutschland.

Der INF-Vertrag trat 1988 in Kraft. Im Mai 1991 war die Zerstörung der 846 ameri­kanischen und 1846 sowjetischen INF-Systeme vollständig abgeschlossen. Da der Vertrag eine ganze Kategorie nuklearer Trägerwaffen eliminierte, gilt er als wich­ti­ger Wendepunkt auf dem Weg zur Beendi­gung des Kalten Krieges und als Schlüssel­element der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Am 20. Oktober 2018 erklärte Präsident Trump am Rande eines Wahlkampf­auftritts, die USA würden den INF-Vertrag kündigen, da Russ­land ihn seit vier Jah­ren verletze. Auch das INF-Arsenal Chinas, seinerseits nicht Vertrags­partei, habe zur strategischen Benachteiligung der USA beigetragen. Einem künf­tigen trilateralen Ab­kommen solle daher auch China an­gehören. Solange dies nicht erreicht sei, würden die USA aufrüsten, um eine Lösung zu erzwin­gen.

Trump stellte die Entscheidung in den Kontext der machtpolitischen Rivalität zwischen den USA, Russland und China. Moskau wolle seine globale Position zu Lasten der USA ausbauen. Von der stra­te­gischen Lage Europas oder einer konkreten Bedrohung der Bündnispartner war hin­gegen nicht die Rede.

Vorwürfe der Vertragsverletzung

Seit 2014 beschuldigen die USA Russland öffentlich, landgestützte Marschflugkörper (GLCM) der Iskander-Variante 9M729 (im Nato-Sprachgebrauch als SSC-8 bezeichnet) mit einer maximalen Reichweite von 2600 km getestet und in die Streitkräfte ein­ge­führt zu haben. SSC-8 seien auf mobi­len Startgeräten in zwei Raketenverbänden disloziert worden, nämlich in Jekaterinburg (Gebiet Swerdlowsk) öst­lich des Ural und im Testgelände Kapustin Jar am Kaspischen Meer. Entwickelt worden seien diese GLCM seit 2008.

Nach langem Zögern räumte Moskau zwar die Existenz des neuen Systems ein, bestreitet aber seine angebliche Reich­weite und weist den Vorwurf des Vertragsbruchs zurück. Die USA hätten keine Beweise vor­gelegt. Der stellvertretende rus­sische Außen­minister Sergei Rjabkow erklärte, Russland halte den INF-Vertrag ein. Mit ihrem Vor­stoß, so Rjabkow, wollten die USA Russ­land nur zu neuen Zugeständnissen zwingen.

Moskau wirft seinerseits den USA vor, den INF-Vertrag verletzt zu haben. So hätten sie ballistische Mittelstreckenraketen eingesetzt, um die Raketenabwehr zu testen. Zudem stimmten die technischen Merk­male der US-Langstreckendrohnen mit denen der verbotenen GLCM überein.

Vor allem hätten die USA Abschussgeräte des Typs Mk-41, die auch für den senkrechten Start seegestützter Marschflugkörper (SLCM Tomahawk) auf amerikanischen Schif­fen verwendet werden, im rumänischen Deveselu an Land stationiert (Aegis Ashore) und ihre Aufstellung auch in Polen geplant. Von dort aus könnten die USA künftig GLCM gegen Ziele in Russland starten. Diese Option wird ausdrücklich auch in der Nu­clear Posture Review der USA vom Februar 2018 erwähnt.

Washington weist die russischen Anschuldigungen zurück. Eine Kampfdrohne sei kein Marschflugkörper, weil sie an den Startort zurückkehren könne. Die Raketen, die für den Test der Raketenabwehr ver­wendet wurden, unterlägen nicht den Ver­botsnormen des INF-Vertrags. Wegen ihrer modifizierten Software und Verkabelung seien die Aegis-Ashore-Systeme nur für den Start von Abwehrraketen geeignet. Fer­ner sei im bilateralen Stationierungsabkom­men mit Rumänien rechtsverbindlich ver­einbart worden, dass die Systeme nur zur Raketenabwehr dienen sollen.

Verifikationslücke

Die gegenseitigen Bezichtigungen unter­scheiden sich darin, inwieweit sie sich zu­verlässig überprüfen lassen. Bei den russi­schen Vorwürfen an die USA geht es um Fragen der Vertragsinterpretation; die zu­grundeliegenden Sachverhalte als solche sind unstrittig. Die USA wiederum unter­stellen Russland heimlichen Vertragsbruch. Dessen faktische Grundlage ist indes schwer einzuschätzen, denn die USA teilen die Quellen ihrer Erkenntnisse nur selektiv mit. Auch die Solidaritätsbekundungen der Ver­bündeten lassen nicht darauf schließen, dass sie über wesentliche eigene Erkenntnisse verfügen.

Besäßen die Verbündeten Informationen, die sie mit technischen Mitteln gewonnen hätten – etwa Satellitenbilder oder Kom­munikationsüberwachung –, könnten sie ebenfalls substantiell zur Klä­rung beitragen. Zweifel­los sind auch Spionageerkenntnisse durch menschliche Quellen ernst zu neh­men, schaffen aber keine endgültige Gewiss­heit. So hat der frühere US-Außen­minister Colin Powell den Entschluss zum Beginn des Irak­-Krieges 2003 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einer Falschinformation begründet, die auf eine unzuverlässige menschliche Quelle zurückging.

Andererseits hat Russland bisher wenig dafür getan, den Ver­dacht des Vertrags­bruchs auszuräumen. Am besten ließen sich die Vorwürfe mit den Mitteln der kooperativen Verifikation untersuchen, die sich seit vielen Jah­ren in der Rüstungskontrolle bewährt haben.

Das INF-Verifikationsregime sieht vor, mit gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen zu überprüfen, ob die im Vertrag gelisteten ballistischen Raketen und Marschflug­körper sowie ihre Abschusseinrichtungen und Infrastruktur wie vereinbart zerstört wurden. Mit Kameras an den Werktoren ließ sich beobachten, ob die Produktion beendet wurde. Auch frühere Abschuss­einrichtungen in Deutschland wurden regel­mäßig verifiziert. Das Regime endete im Mai 2001.

Die Special Verification Commission (SVC) sollte Fragen der Vertragsumsetzung im Dialog klären. Seit Auflösung der Sowjet­union gehören dem Konsultations­forum auch die postsowjetischen Staaten Ukraine, Weißrussland und Kasachstan an.

Allerdings enthält der INF-Vertrag keine Mechanismen, mit denen sich vermutete Vertragsumgehungen beweisen ließen, etwa kurz­fristig angekündigte Inspektionen nicht erklärter Einrichtungen. Um dies zu ermög­lichen, müssten sich die USA und Russland bilateral oder im SVC darauf verständigen, das INF-Verifikationsregime zu modifizieren und wiederzubeleben.

Verifikationsoptionen

Zunächst müssten in der SVC Daten und Fakten ausgetauscht werden, um die Vor­würfe zu konkretisieren und technische Fragen zu klären. Tatsächlich ist die SVC 2017 zusammengetreten, doch weder dort noch im bilateralen Dialog konnte Einver­nehmen in der Sache erzielt werden. Die USA beklagen, Russland habe nicht die Transparenz gezeigt, die notwendig gewesen wäre, um auf die Vorwürfe konstruktiv einzugehen.

Ein bilaterales Expertentreffen, das in der SVC im Dezember 2017 verabredet worden war, hat bisher offenbar nicht stattgefunden. Dort hätten Fachleute die gegenseitigen Vorwürfe im Detail erörtern sollen. Dabei ließe sich testen, wie ernst es der russische nationale Sicher­heits­berater Nikolai Patruschew mit seiner Bekundung mein­te, Russ­land wolle in aller Offenheit zur Klä­rung der Sachlage beitragen. Er hatte dies bei Gesprächen mit dem US-Sicher­heits­berater John Bolton am 22. Oktober 2018 in Mos­kau geäußert, der Präsident Trumps Absicht erläuterte, den Vertrag zu kündigen.

Die Möglichkeiten zu einer kooperativen Lösung der Streitfragen sind also keineswegs erschöpft. In einem Expertentreffen könnte erörtert werden, ob technisch bedingte Interpretationsunterschiede mit Hilfe klar­stellender Protokolle aus der Welt geschafft werden könnten. Unerlässlich wäre eine Vereinbarung über einen Daten­austausch und gegenseitige Verifikation. Sie sollte Satelliten- und Luftbeobachtungen sowie Vor-Ort-Inspektionen umfassen.

Denn um ein verbotenes INF-System in Feldverbände einzuführen, sind nicht nur Blaupausen erforderlich, sondern eine grö­ßere Anzahl an Flugkörpern, Trägern und Abschussgeräten sowie die dazugehörige Infrastruktur. Sie umfasst Unterkünfte, Park­plätze, Lagerhallen, Versorgungs- und Reparaturanlagen sowie Übungsplätze. Die Existenz solchen militärischen Geräts samt Infrastruktur lässt sich mit nationaler Satel­litenaufklärung und koope­rativen Beobachtungsflügen im Rahmen des Vertrags über den Offenen Himmel (OH) feststellen.

OH-Beobachtungsflüge können multi­lateral unter Beteiligung anderer Vertragsstaaten stattfinden. Solche Flüge dienten regel­mäßig dazu, auch die Infrastruktur von Nuklearwaffen zu beobachten. Bild­aufnahmen während der Flüge kommen einvernehmlich zustande, bilden somit eine solide Faktengrundlage für einen substan­tiellen Dialog und können mit Drittparteien ausgetauscht werden. Zwar lassen sich mit Luft­aufnahmen keine exakten Reichweiten von GLCM bestimmen. Doch sie kön­nen die Existenz neuer Waffensyste­me bestätigen und Daten über ihre Abmessungen sowie die dazugehörige Infra­struktur liefern.

Die operativen Reichweiten von ballis­tischen Raketen und von Marschflugkörpern hängen von mehreren Variablen ab. Am wichtigsten sind die Massen der Hülle, der Steuereinrichtungen und Motoren, der Betriebsstoffmenge und des Gefechtskopfes, aber auch die Motorenschubkraft und die aerodynamischen Eigenschaften. Daher lassen die äußeren Abmessungen nur Nähe­rungswerte hinsichtlich der wahrschein­lichen Reichweite zu, sofern die Annahmen über die Variablen zutreffen. Im INF-Ver­trag ist deshalb von der Maximalentfernung die Rede, die der Flugkörper in seiner Standardausführung zurücklegen kann, bis der Treibstoff vollständig ver­braucht ist.

Klarheit lässt sich am besten durch den Austausch telemetrischer Daten, die Vor­führung der Systeme vor Ort und Beobachtungen von Flugtests herstellen. Dabei wäre auch festzustellen, ob es sich um den Test von Systemen handelt, die zwar im INF-Reichweitenspektrum liegen, aber gleichwohl nicht vom INF-Vertrag erfasst sind.

So erlaubt es der Vertrag, Flugkörper oder Raketenstufen von festen Starteinrichtungen aus über INF-Reichweiten zu erpro­ben, sofern sie nicht für boden­gestützte INF-Systeme verwendet werden. Demnach wäre es durchaus vertragskonform, see­gestütz­te Marschflugkörper (SLCM) oder Raketen­stufen für Interkontinental­raketen mit Hilfe fester Startgeräte zu testen, etwa auf dem Test­gelände Kapustin Jar.

Im Gegenzug müssten die USA in Abstimmung mit Rumänien und künftig mit Polen russische Vor-Ort-Inspektionen in Aegis-Ashore-Stellungen zulassen. Moskau könnte sich so davon überzeugen, dass die dort verwendeten Mk-41-Launcher tech­nisch nur für den Start von Abwehrraketen vorgesehen sind und dass für sie keine SLCM oder GLCM verfügbar sind.

In einem technischen Protokoll könnte diese Konfiguration der landgestützten Mk‑41-Startsysteme festgeschrieben werden. Dass sie nicht irreversibel ist, wäre kein grundsätzliches Hindernis. Auch der New-Start-Vertrag sieht technische Maßnahmen vor, die rückgängig gemacht werden können, aber durch regelmäßige Vor-Ort-Inspektionen überwacht werden.

Damit solche Inspektionen langfristig wirksam bleiben, müssten sie nach kurzen Ankündigungsfristen und häufiger statt­finden. Verdachtsinspektionen in nicht gelisteten Einrichtungen müssten an plau­sible Begründungen und Quotenbegren­zungen geknüpft werden. Dies soll verhin­dern, dass Inspektionen zur Verifikation von Einrichtungen und Systemen missbraucht wer­den, die nicht dem INF-Vertrag unterliegen.

Eine multilaterale Gestaltung der Veri­fikation würde die Fakten­feststellung trans­parenter machen und vorzugsweise die früheren und potentiellen Stationierungsländer von INF-Systemen einbinden. Poli­tische Folgeentscheidungen könnten sich dann auf eine breite Informationsbasis stützen. Eine Modifikation des INF-Veri­fikationsregimes wäre möglich, wenn beide Seiten den politischen Willen zeigten, den Vertrag zu erhalten, kooperative Lösungen zu suchen und von irreversiblen Schritten abzusehen.

Militärstrategischer Kontext

Die USA versuchen ihren Vorwurf des Vertragsbruchs an Moskaus Adresse mit dem Argument zu untermauern, der INF-Vertrag könne nicht mehr im geostrategischen Interesse Russlands sein. Staa­ten an seiner südlichen und östlichen Peri­pherie verfügen über INF-Systeme, während Russ­land deren Besitz verboten ist. Andererseits hat es diesen Nachteil wett­gemacht, indem es seine Flottille im Kaspi­schen Meer mit seegestützten Marschflugkörpern (SLCM) ausrüstete. Als Russland im Sep­tember 2015 im Syrienkrieg intervenierte, griff es vom Kaspischen Meer aus mit konventio­nellen SLCM Ziele an, die 1600 km ent­fernt liegen. Seine Flotten im Atlantik, im Pazifik und in euro­päischen Rand­meeren verfügen ebenfalls über SLCM. Auch rus­si­sche Bom­benflugzeuge sind mit weit­reichen­den Marschflugkörpern (ALCM) ausgestattet.

Seit Ende der 1990er Jahre haben die USA konventionell ausgerüstete SLCM viel­fach im Nahen Osten, in Afghanistan und in Nord­afrika eingesetzt. Im April 2017 und April 2018 zerstörten amerikanische Aegis-Kriegsschiffe vom Mittelmeer aus Landziele in Syrien. Auch Frankreich und Groß­britannien haben in Libyen und Syrien ihre SLCM/ALCM-Fähigkeiten demonstriert.

Da amerika­nische, russische und andere Streitkräfte mit immer mehr SLCM und ALCM ausgestattet werden, hat sich die stra­tegische Kalkulation verändert. Sie unter­liegen nämlich weder den Begrenzungen des New-Start-Vertrags noch denen des INF-Vertrags, auch wenn ihre Reichweiten weit oberhalb von 500 km liegen. Dies hat den strategischen Wert des Verbots landgestütz­ter INF-Systeme relativiert. SLCM und ALCM kön­nen Europa, den Nahen Osten und weite Teile Asiens abdecken.

Der militärische Mehrwert einer land­gestützten INF-Variante wäre schwer zu begründen. Bisweilen wird unterstellt, russi­sche Planer sähen in ihr eine zusätz­liche und billigere Option, um weitere US-Raketenabwehr­stellungen in Europa oder Asien zuverlässig und reaktionsschnell ausschalten zu kön­nen. Doch dies ist eine spekulative Annahme, die voraussetzt, dass neue GLCM geographisch günstig disloziert sind.

Eine operativ wirksame Stationierung russischer INF-Systeme könnte jedoch nicht im Verborgenen stattfinden. Auch zeichnet sich bislang keine Ver­dichtung der US-Raketenabwehr in Europa ab. Möglicherweise hat Russland Prototypen entwickelt, um bei Bedarf reagieren zu können.

Die russische Führung fürchtet, dass der Ausbau der amerikanischen Raketenabwehr lang­fristig Russlands nukleare Zweitschlagfähigkeit unter­minieren und es damit er­pressbar machen könnte. Andererseits hat Präsident Putin mit eben dieser Begründung im Feb­ruar 2018 moderne Nuklearwaffen vor­gestellt, die angeblich jeden Abwehrgürtel durchdringen oder umgehen können.

Angesichts der vielfachen konventio­nellen Verwendung von Marschflugkörpern in militärischen Konflikten wirkt sich die ato­mare Bewaffnung von SLCM negativ auf die Krisenstabilität aus. Sie vergrößert nicht nur das Arsenal »substrategischer« atomarer Einsatzoptionen, sondern auch die Grau­zone zwischen nuklearen und konventionellen Einsatzprofilen. Wird ein SLCM-Start fälschlich als Nuklear­angriff interpretiert, könnte das verheerende Folgen haben. Denn atomare SLCM können eine strate­gische Wirkung entfalten, da mit ihnen von den euro­päischen oder asiatischen Rand­meeren aus Luft- und Raketenabwehr­stellungen, Führungszentren, Infrastruktur oder Kern­waffen des Gegners angegriffen werden können.

Trotz dieser Bedenken wird die Ent­scheidung der Trump-Administration vom Feb­ruar 2018, SLCM wieder atomar zu bewaff­nen, das »substrategische« Nuklear­arsenal der USA vergrößern, das keinen Rüstungskontrollverträgen unterliegt. Damit revi­dierte Trump den Entschluss des frühe­ren Präsidenten Obama von 2010, nukleare SLCM aufzugeben, die für Angriffe gegen Landziele vorgesehen waren (TLAM/N). Auch Russland hat seine nuklearfähigen SLCM modernisiert, vor allem jene des Typs Kalibr.

Die USA begründen die Atombewaffnung von SLCM mit zwei Argumentationslinien. Zum einen könne die »erweiterte Abschreckung« zum Schutz von Verbündeten in Ostasien von See aus erfolgen, da die Landstationierung nuklearer Schwerkraftbomben in Japan und Südkorea um­stritten ist. Bisher beruhte die »erweiterte Abschreckung« allerdings auf dem stra­tegischen Nuklearpotential der USA. Zum anderen stellt die Trump-Administration einen Zu­sammenhang mit der Verletzung des INF-Vertrags durch Russland her und deutet an, die SLCM-Option überdenken zu wollen, sollte Moskau zur Vertragstreue zurück­kehren. Ein völliger Verzicht auf nukleare SLCM wäre aber unvereinbar mit dem Argu­ment, dass sie für die »erweiterte Abschreckung« von See aus benötigt werden.

Trilateraler INF-Vertrag mit China?

Nicht von der Hand zu weisen ist das geo­strategische Argument, dass nach 1987 in Süd- und Ostasien neue Nuklearmächte mit INF-Fähigkeiten entstanden sind und dass das INF-Arsenal der Volksrepublik China angewachsen ist. Freilich soll dieses Arsenal nicht nur Russland, sondern vor allem die USA vor einer regionalen Intervention abschrecken.

Daher deutete Präsident Trump an, dass China sich an einem künftigen INF-Vertrag beteiligen müsse. Unklar bleibt, ob und unter welchen Bedingungen dieser An­satz mit Russland abgestimmt werden kann und ob China zu Verhandlungen bereit wäre. Ein gemeinsamer russisch-amerika­nischer Versuch, den INF-Vertrag zu multilateralisieren, ist 2007 in den Vereinten Nationen gescheitert. Weder China noch Frankreich oder Großbritannien zeigten Interesse an dem Vorschlag.

Ob es seither Konsultationen zwischen Peking und Washington zum INF-Dossier gegeben hat, ist öffentlich nicht bekannt geworden, aber wenig wahrscheinlich. Vielmehr hat die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Hua Chunying, un­gehalten auf die öffentliche Einlassung Trumps reagiert: Es sei »nicht zu rechtfertigen und unvernünftig«, anderen die Schuld für den unilateralen Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag zuzuschieben. China werde eine Erpressung nicht akzep­tieren. Schon seit den 1990er Jahren hat die Volks­republik die Position vertreten, dass zu­nächst die großen Nuklearmächte auf das Niveau der kleineren abrüsten müssten, bevor man eine Beteiligung an multilate­ralen Verträgen zur nuklea­ren Abrüstung erwägen könne.

Tatsächlich verfügen die USA und Russland über mehr als 90% aller Nuklear­waffen weltweit. China besitzt ungefähr 280 bis 300 Nuklearsprengköpfe, etwa 60 land­gestützte ballistische Raketen mit inter­kontinentaler Reichweite und circa 1600 landbewegliche Kurz- und Mittel­streckenraketen und Marschflugkörper, die weit überwiegend mit konventionellen Sprengköpfen eingesetzt werden. Etwa 90% davon liegen im INF-Reichweitenspektrum.

Sollte ein trilateraler Vertrag auf ein Verbot landgestützter INF-Systeme abzielen, verlöre China fast seine gesamte Fähig­keit zur regionalen Machtprojektion mit weit­reichenden Abstandswaffen. Ohne sie könnte China seine Regionalstrategie der weiträumigen Abriegelung des Ost- und Südchinesischen Meeres gegen eine US-Intervention nicht aufrechterhalten. Die USA hingegen müssten nichts aufgeben, da sie über keine landgestützten INF-Träger in der Region verfügen und sich weiter­hin auf ihre globale Raketen-, Luft- und See­überlegenheit verlassen könnten.

Es ist also kaum anzunehmen, dass sich China auf einen solchen »Deal« einlassen würde. Inakzeptabel für China wäre auch die Alternative, ein regionales »INF-Gleich­gewicht« anzustreben. Das hieße nämlich, Obergrenzen fest­zusetzen und damit die Stationierung amerikanischer INF-Systeme in Japan oder Südkorea zu­zulassen. Für Europa wäre diese Lösung hoch gefähr­lich, da sie eine INF-Statio­nierung auch westlich des Ural erlauben würde.

Der Trump-Administration muss klar gewesen sein, dass Peking das geforderte trilaterale Abkommen nur ablehnen kann. Deshalb liegt es nahe, dass Trump mit den vagen Hinweisen auf China lediglich seine Absicht rechtfertigen wollte, den INF-Ver­trag zu kündigen.

Stationierung und Bündnispolitik

Ein neuer INF-Rüstungswettlauf würde die Sicherheit Europas und Asiens, nicht aber des amerikanischen Kontinents bedrohen. Sollten die USA eine regionale INF-Statio­nierung anstreben, wären sie mit Ausnahme Guams auf die Zustimmung potentieller Stationierungsländer angewiesen,

Indes ist schwer vorstellbar, dass Japan, Südkorea, die Philippinen oder Australien mit einer Stationierung landgestützter Mittel­streckensysteme einverstanden sind. Gerade mit dem tradi­tionellen Widerstand der west­pazifischen Verbündeten gegen eine Land­stationierung von Nuklearwaffen hat die Trump-Administration ja die Not­wendigkeit begrün­det, seegestützte Marsch­flugkörper (SLCM) nuklear zu bewaffnen.

Aber selbst wenn etwaige amerikanische GLCM (zunächst) nur konventionell bewaff­net werden sollten, dürfte es nicht im Inter­esse Südkoreas liegen, die gerade erst be­gon­nene Annäherung auf der koreanischen Halbinsel durch eine neue Rüstungsspirale zu zerstören. Ebenso wenig dürfte Japan daran interessiert sein, eine neue Eiszeit mit China herbeizuführen und weitere innen­politische Auseinandersetzungen über Sta­tionierungsfragen zu riskieren. Auch Aus­tralien und die Philippinen würden wohl nicht wünschen, dass sich ihre Beziehungen zu China eintrüben.

Was Europa betrifft, steht das unilaterale Vorgehen der USA im Widerspruch zu jüngsten Bündnispositionen. Verteidigungs­minister James Mattis hatte seine Nato-Kollegen am 7. November 2017 über die amerikanische Lagebewertung unterrichtet und erklärt, die USA strebten eine Rückkehr Russlands zur Vertragstreue an. Dies hat das amerikanische Außenministerium noch im April 2018 bestätigt. Angesichts der Vorwürfe Washingtons an Moskau hatte der Nato-Rat in einer Erklärung vom 15. Dezember 2017 Besorgnis geäußert, sich aber zur Erhaltung des INF-Vertrags bekannt und Russland aufgefordert, die bestehenden Zweifel in einem technischen Dialog trans­parent und nachvollziehbar auszuräumen.

Noch im Juli 2018 haben die Nato-Staaten einmütig erklärt, der INF-Vertrag sei für die europäische Sicherheit von grundlegender Bedeutung und müsse er­halten werden. Anfang Oktober 2018 legte Mattis den Nato-Verteidigungs­ministern neue Erkenntnisse vor. Daraufhin forderten die Minister Russ­land erneut auf, den Ver­trag einzuhalten und offene Fragen trans­parent zu klären.

Die Ankündigung Präsident Trumps, den INF-Vertrag aufzuheben, kam daher über­raschend. Offenbar wurden die Verbündeten vorab nur kurzfristig informiert, jedoch nicht konsultiert. Sollten die USA beabsichtigen, neue GLCM in Europa ein­zuführen, müssten sich die Verbündeten entweder für einen Stationierungswettlauf mit Russland entscheiden oder die Spaltung der Allianz in Kauf nehmen. Eine »Koalition von Statio­nierungswilligen« kann nicht ausgeschlossen werden.

Schlussfolgerungen

Der Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) und dem Iranabkommen (JCPOA) sowie die Erosion des Vertrags über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (KSE-Vertrag) haben die internationale Sicherheitsarchitektur bereits schwer belastet. Ein Kollaps des INF-Vertrags würde einen weite­ren Eck­pfeiler der europäischen Sicherheitsordnung und der globalen nu­klearen Ordnung zerstören. Einem regio­na­len nuklearen Rüstungswettlauf in Europa und Ostasien ständen dann keine recht­lichen Beschränkungen entgegen. Dies birgt die Gefahr zusätzlicher Destabilisierung in einer Sicher­heitskrise, in der das gegenseiti­ge Vertrauen auf den tiefsten Stand seit den 1960er Jahren gesunken ist.

Die Ausgangslage für die bald notwendige Verlängerung des New-Start-Vertrags wäre dann denkbar ungünstig. Sollte sie misslingen, wären ab 2021 die strategischen Atomwaffen der USA und Russlands erst­mals seit 1968 keinen rechtsverbind­lichen Begrenzungen unterworfen. Die ohnehin geringe Glaubwürdigkeit der Groß­mächte in puncto Erfüllung der Abrüstungsverpflich­tungen des Vertrags über die Nicht­verbreitung von Kernwaffen (NVV) würde weiteren erheblichen Schaden nehmen. Damit wüchse auch der Druck auf den NVV. Europa wäre mit einer neuen »Nach­rüstungsdebatte« konfrontiert, die in die gegenseitige nukleare Bedrohung durch eine Neustationierung von INF münden könnte. Keines dieser Szenarien ist im Inter­esse Deutschlands und Europas.

Allerdings sind keineswegs schon alle Optionen ausgeschöpft, die INF-Krise kooperativ zu bewältigen. So ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich bei den wechselseitigen Vorwürfen der Vertrags­verletzung um Fehleinschätzungen der Quellenlage oder um unterschiedliche Ver­tragsinterpretationen handelt, die durch technische Zusatzprotokolle oder gemeinsame Erklärungen einvernehmlich ent­schärft werden könnten. Nur eine zweifelsfrei nachgewiesene beabsichtigte Bedrohung Europas, etwa durch die operative Stationierung landgestützter INF, ließe sich nicht mehr auf kooperative Weise beseitigen, es sei denn, diese Entscheidung würde poli­tisch revidiert.

Zunächst wären daher substantielle gemeinsame Schritte zu vereinbaren, um den Vertrag zu erhalten und, falls erforder­lich, zu modifizieren. So könnten sich die USA und Russland in einer politischen Erklä­rung zum grundlegenden Wert des INF-Vertrags bekennen und ihren Willen bekunden, seine Bestimmungen einzuhalten und offene Fragen kooperativ zu klären.

Zweckdienlich wäre es dann, die relevanten technischen Daten auszutauschen, zu erörtern und durch eine Kombination von Satellitenüberwachung, kooperativen OH-Beobachtungsflügen und Vor-Ort-Inspektio­nen zu verifizieren. Verbündete sollten in multilaterale Verifikationsmaßnahmen eingebunden werden, um politische Folge­entscheidungen auf einer umfassenden gemeinsamen Faktengrundlage treffen zu können.

Die Bundesregierung sollte sich in der Nato für diesen Ansatz stark machen und dazu eine breite Koalition gleichgesinnter Staa­ten bilden. Sie sollten sich auf das Ziel verständigen, keine europäische Zustimmung für eine neue Stationierung von INF-Systemen in Europa zu geben, solange Russland keine solchen Systeme disloziert.

Moskau ist daran interessiert, dass Deutschland und Frankreich im Normandie-Format, beim Wiederaufbau Syriens, beim Energietransfer und beim Eintreten für den Fortbestand der Nato-Russland-Grund­akte mit Russland zusammenarbeiten. Diese ge­wünschte Kooperation, so sollte der russi­schen Seite klargemacht werden, hängt auch davon ab, dass Russ­land seine Ver­pflich­tungen aus dem INF-Vertrag trans­parent einhält und Europa nicht mit INF-Systemen bedroht.

Ferner sollte die Krise zum Anlass genommen werden, im Bündnis eine Dis­kus­sion über die Rolle von Nuklearwaffen in der Abschreckungsstrategie anzustoßen. Es dürfen keine Grauzonen nuklearer Ambi­guität entstehen. Diese könnten nämlich eine atomare Kriegs­führungsfähigkeit mit vermeintlich »tak­tischen« Nuklearwaffen nahelegen und verhängnisvolle Fehleinschätzungen in der Krise verursachen.

Die Zahl der Einsätze konventionell aus­gestatteter Marschflug­körper wächst und ihre atomare Bewaffnung kann destabilisierend wirken. Hier könnte eine Modifizierung des INF-Vertrags oder ein multilateraler Nachfolgevertrag ansetzen.

Zudem sollte Deutschland sich dafür einsetzen, den Haager Verhaltenskodex über ballistische Raketen (HCoC) zu stärken, ihn um Marschflugkörper zu erweitern und seine Transparenzregeln zu verbessern. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sollte Deutschland eine Diskussion über die Stärkung der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung anregen, um die strategische Stabilität und die Glaub­würdigkeit des Nichtverbreitungs­regimes zu erhalten.

Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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