Die Stärkung des Außengrenzschutzes bleibt in der Migrationspolitik der kleinste gemeinsame Nenner der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Der Ausbau der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ist Anfang November formell verabschiedet worden. Er wird jedoch nur wenig dazu beitragen können, die drängenden Herausforderungen in der europäischen Migrationspolitik zu meistern. Das Ziel, Frontex 10 000 Grenzschutzkräfte zu unterstellen, kann nur mittelfristig eingelöst werden. Während einige Außengrenzstaaten der EU zum Teil rechtswidrige Praktiken bei der nationalen Grenzsicherung anwenden, wird Frontex zunehmend rechtlich kontrolliert; operative Missionen sind nur mit einer Einladung der jeweiligen Einsatzstaaten möglich. Ohne rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen, werden sich durch Frontex allein die Rückführungen ausreisepflichtiger Personen nicht beschleunigen lassen. Dennoch bietet die kommende Frontex-Reform einen technischen Mehrwert für die Sicherung der EU-Außengrenzen. Unter geänderten politischen Umständen kann sie Vorreiter sein für eine echte operative Sicherheitszusammenarbeit in der EU.
Die Migrationskrise in Europa kann jederzeit wieder aufflammen. Die im September auf Malta begründete freiwillige Koalition von EU-Mitgliedstaaten zur Verteilung irregulärer Zuwanderer, die über das zentrale Mittelmeer kommen, ist zu klein und umfasst nicht alle Staaten, die von der gegenwärtig kritischen Lage in der Ägäis betroffen sind. Die EU bleibt politisch gespalten und abhängig von Drittstaaten wie der Türkei, die zunehmend gegensätzliche Interessen verfolgt. Entgegen den programmatischen Versprechen der neuen Europäischen Kommission besteht derzeit keine Aussicht auf einen »Neustart« in der gemeinsamen Asylpolitik.
Allerdings konnte sich die EU darauf verständigen, den Schutz der Außengrenzen und die europäische Grenzschutzagentur Frontex weiter zu stärken. Diese Reform, eingebracht im Sommer 2018 von der EU-Kommission, haben bereits gegen Ende der letzten Legislaturperiode alle EU-Institutionen miteinander vereinbart; am 8. November 2019 hat der Rat sie endgültig angenommen. Im Europawahlkampf 2019 wurde die damit verbundene Zielsetzung einer Einsatztruppe von 10 000 EU-Grenzschützern offensiv kommuniziert, um den Bürgerinnen und Bürgern die potentielle sicherheitspolitische Rolle der Union zu verdeutlichen.
Grundsätzlich ist vorstellbar, dass EU-Grenzpolizisten und -polizistinnen in Krisenländern wie Griechenland die Zuwanderung möglichst lückenlos erfassen und Schleusernetzwerke effektiv bekämpfen. Von großen Frontex-Einsätzen könnte zudem ein politisches Signal ausgehen: Staaten an der EU-Außengrenze werden im Umgang mit irregulärer Migration nicht mehr alleingelassen, andere Mitgliedstaaten können der Sicherheit der Schengenzone wieder vertrauen.
Bereits 2016 wurde ein Ausbau von Frontex für ähnliche Zwecke beschlossen. Viele der damals vorgesehenen Maßnahmen sind noch nicht gänzlich umgesetzt, beispielsweise die Schaffung einer europäischen Einsatzreserve von 1500 Grenzschützern, die Entsendung von Frontex-Verbindungsbeamten in Mitgliedstaaten oder der Aufbau eines EU-eigenen Fahrzeugpools.
Offensichtlich klafft eine Lücke zwischen der anhaltenden, akuten Krise in der Migrationspolitik und der schrittweisen Weiterentwicklung von Frontex. Zu beobachten ist, dass Schleuser sich stetig professionalisieren und Flüchtlinge alternative Routen nutzen. Die neue Frontex-Einsatztruppe von 10 000 EU-Grenzschutzkräften soll indes erst bis 2027 vollständig aufgebaut werden. Selbst mit dieser vollen Personalstärke könnte Frontex nur ausgewählte Abschnitte der Außengrenzen operativ unterstützen. Hauptverantwortlich für die Migrationskontrolle und Grenzsicherung bleiben die einzelnen EU-Mitgliedstaaten mit ihren jeweils unterschiedlichen Kapazitäten und Strukturen.
Die Forderung, Frontex sollte völlig eigenständig Kontrollen an EU-Außengrenzen durchführen können, ist 2016 wie 2019 aus Gründen der nationalen Souveränität abgelehnt worden. Ebenso wenig konnte in der jüngsten Reform erreicht werden, dass Frontex gezielt für die operative Seenotrettung auf dem Mittelmeer gestärkt wird. Aus Sicht vieler liberaler Kritiker ist Frontex deshalb mehr denn je ein Symbol für die illegitime und menschenrechtswidrige Abschottung der EU, der man mit dem Ausbau legaler Zugangswege und fairer Schutzverfahren entgegentreten sollte.
Echte Fortschritte jenseits der öffentlichen Migrationsdebatte
Von außen betrachtet wird sich der Schutz der EU-Außengrenzen kaum sichtbar verändern und die europäische Bevölkerung schwerlich erleben, wie, wo und warum Frontex operativ zum Einsatz kommt. Die Agentur wird primär spezifische Schwachstellen und technische Reformen in nationalen Grenzschutzsystemen angehen, also weiterhin eher im Hintergrund agieren.
Auf dieser fachlichen Ebene hingegen kann der beschlossene Frontex-Ausbau einen sicherheitspolitischen wie rechtsstaatlichen Mehrwert leisten. Dafür lohnt sich ein genauerer Blick auf vier Stoßrichtungen der verabschiedeten Reform:
Erstens soll Frontex deutlich mehr Ressourcen erhalten und diese eigenständiger verwalten. Die erwähnte Einsatztruppe von 10 000 Grenzschutzkräften soll zu etwa einem Drittel aus EU-eigenen Grenzschützern bestehen. Diese teilweise Entkoppelung von national abgeordneten Grenzpolizisten könnte die Planung und Durchführung von Frontex-Einsätzen verlässlicher machen. Um den Personalaufwuchs zu unterfüttern, soll der Frontex-Haushalt im kommenden mehrjährigen EU-Finanzrahmen (2021–2027) steigen auf etwa 9,4 Milliarden Euro insgesamt bzw. auf über 1,3 Milliarden Euro pro Jahr – mehr als eine Verdreifachung des aktuellen Budgets. Darüber hinaus kann Frontex damit die Anschaffung hochwertiger Einsatzmittel (z. B. Schiffe, Hubschrauber) und neuer Grenztechnik (z. B. Drohnen) finanzieren. Vor allem für die Staaten an der EU-Außengrenze wird die europäische Kooperation dadurch (auch) materiell interessant.
Zweitens erweitert die beschlossene Reform der Frontex-Verordnung die Aufgabenbereiche und Kompetenzen der Agentur. Die EU-Mitgliedstaaten werden stärker in die Pflicht genommen, in regelmäßiger Abstimmung mit Frontex das Konzept des »integrierten Grenzmanagements« umzusetzen. Dabei geht es darum, die Kapazitäten aller Mitgliedstaaten kontinuierlich zu entwickeln, um möglichst zielgerichtete und effektive Kontrollmaßnahmen durchzuführen, sowohl vor als auch hinter der räumlichen Grenze. Zusätzlich übernimmt Frontex die Funktion einer Zentralstelle für die Grenzraum- und Vorfeldüberwachung (im Rahmen des EUROSUR-Systems) und für den Betrieb neuer datengestützter Personenkontrollen, wie bei der Auswertung von Fluggastdaten (PNR) und der kommenden elektronischen Einreiseerlaubnis für visabefreite Reisende (ETIAS). Nicht zuletzt soll Frontex zukünftig eigenständig Rückführungen organisieren und realisieren können.
Drittens schärft die Reform Frontex’ internationales Profil. Aktuell kann Frontex Verwaltungsabkommen mit Drittstaaten abschließen, Verbindungsbeamte abordnen und Missionen zur Grenzkontrolle in Staaten entsenden, die an die EU grenzen. Albanien ist ein Präzedenzfall: Dort nimmt eine kleine Frontex-Mission seit dem Frühjahr 2019 operative Aufgaben zur Grenzsicherung wahr. Mit der neuen Verordnung sollten vergleichbare Einsätze in weiter entfernten Staaten möglich sein.
Viertens wird Frontex rechtsstaatlich stärker verpflichtet und umfassender beaufsichtigt. Das neue Datenschutzrecht der EU wird angewandt, da Frontex immer mehr personenbezogene Daten verarbeitet. Der Beschwerdemechanismus für Personen, die sich durch Handlungen der Agentur geschädigt sehen, wird mehr Gewicht bekommen. Einzelfallentscheidungen des Frontex-Direktors hierzu unterliegen fortan einer Rechenschaftspflicht. Ferner wird eine kollektive rechtliche Haftbarkeit von Frontex eingeführt. Diese ist notwendig in Anbetracht der Schaffung EU-eigener Grenzschutzkräfte mit zum Teil hoheitlichen Aufgaben. Das Frontex-interne Büro der Menschenrechtsbeauftragen soll besser ausgestattet werden und in Zukunft Bewertungen zu Einsatzplänen und Kooperationsvorhaben mit Drittstaaten verfassen, außerdem einen öffentlichen Jahresbericht. Schließlich sollen unabhängige Beobachter und Beobachterinnen in alle Frontex-Grenzschutzmissionen und ‑Rückführungsoperationen entsandt werden, um die Beachtung der Menschenrechte und des Flüchtlingsrechts sicherzustellen.
Insgesamt gesehen wird Frontex zum Garant und Motor dafür, dass technische Personenkontrollen, Daten- und Risikoanalysen im europäischen Grenzmanagement und die Vernetzung mit Drittstaaten zunehmen. Dies wird die Zahl irregulärer Zuwanderungen vermutlich nicht wesentlich reduzieren, aber bewirken, dass Entscheidungsträger und -trägerinnen besser über derartige Entwicklungen informiert sind und folglich frühzeitig reagieren können. Schon jetzt ist Frontex in personeller wie finanzieller Hinsicht die größte Agentur für die innere Sicherheit der EU. Sie wird noch größer werden und ihre politische Bedeutung steigen. Andere EU-Agenturen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts müssen dagegen umso mehr darum kämpfen, genügend Ressourcen und Unterstützung für ihre stetig wachsenden Aufgaben zu erhalten, zum Beispiel die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) oder das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO).
Positiv gewendet könnte es, ähnlich wie beim Europäischen Verteidigungsfonds, langfristig der europäischen Integration dienen, wenn die finanziellen Mittel schwerpunktmäßig Frontex zugutekommen und für Frontex europäische Grenztechnik beschafft oder entwickelt wird. Zusammen mit dem Aufbau eigenständiger EU-Grenzschutzkräfte könnte Frontex Vorreiter sein auf dem Weg zu einer europäischen Sicherheitsunion.
Diese langfristige Perspektive – und weniger der aktuelle Stand der europäischen Migrationsdebatte – erfordert es, sich mit weiteren Details der beschlossenen Frontex-Reform auseinanderzusetzen und ihre Umsetzung nachhaltig zu begleiten.
Rückführungen und die Verantwortlichkeit von Frontex
Die Debatte verschiebt sich zunehmend vom Thema Grenzkontrolle durch Frontex hin zu der Frage, ob Frontex irreguläre Zuwanderer rückführen können soll. Frontex wird ihr vergrößertes finanzielles Budget hierzu als Hebel einsetzen: Im Gegenzug für mehr Sachleistungen oder Trainings wird die Agentur die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten in der europäischen Nachbarschaft vertiefen, was die Rücknahme von Personen angeht. Drittstaaten wie beispielsweise Tunesien sind oft primär an technischer Ausrüstungshilfe und an Ertüchtigung für den Grenzschutz interessiert.
Im Laufe der politischen Verhandlungen verhinderte das Europäische Parlament (EP), dass Frontex Rückführungen aus außereuropäischen Transit- in Herkunftsstaaten unterstützen kann, also etwa aus Marokko nach Nigeria. In einer solchen Konstellation sei es kaum möglich zu gewährleisten, dass bei der Rückführung europäische Menschenrechtsstandards eingehalten werden.
Einige Mitgliedstaaten wie Polen heben dennoch hervor, eine derartige Zusammenarbeit mit Drittstaaten sei unbedingt erforderlich. Zum Beispiel sollten irreguläre Zuwanderer schon auf dem westlichen Balkan (also etwa in Bosnien und Herzegowina) mit Hilfe von Frontex-Kräften aufgehalten und direkt rückgeführt werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, hat das EP die Effektivität der kommenden Frontex-Reform entscheidend geschwächt. Voraussichtlich wird es weitere informelle oder bilaterale Absprachen mit außereuropäischen Transitstaaten geben, um mehr Menschen rückführen zu können.
Organisationen, die sich für den Schutz von Flüchtlingen einsetzen, argumentieren dagegen, die Stärkung der Aufsichtsmechanismen über Frontex reiche nicht aus. Nach wie vor besteht kein glaubwürdiger Sanktionsmechanismus für Menschenrechtsverletzungen durch Frontex-Operationen oder mit Blick auf die Lage von Geflüchteten in Frontex-Einsatzländern. Unabhängige Beobachter für den Flüchtlingsschutz zu entsenden – wie in der neuen Frontex-Verordnung vorgesehen – hilft hierbei nur wenig weiter. Letztlich kann nur Frontex selbst ihre eigenen Operationen abbrechen, wenn entsprechende kritische Berichte und Vorwürfe vorliegen. Bisher gibt es keinen Präzedenzfall für eine solche Entscheidung, was die Glaubwürdigkeit der Agentur schmälert. Ohnehin ist die Einstellung einer Frontex-Mission kein effektives Druckmittel gegenüber Mitglied- oder Drittstaaten, die systematisch Grundrechte verletzen. Deshalb darf aus Sicht von Flüchtlingsorganisationen Frontex seine Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten bei der Rückführung nicht noch ausbauen.
Die EU muss in Bezug auf Frontex in den nächsten Jahren einen Ausgleich zwischen diesen Positionen suchen. Die Mitgliedstaaten drängen darauf, irreguläre Zuwanderung messbar zu reduzieren bzw. mehr Personen auszuweisen. Demgegenüber wird das EP auch in der neuen Zusammensetzung betonen, dass die EU-Grundrechtecharta und das bestehende EU-Asylrecht beachtet werden müssen.
Rekrutierung und Ausbildung von EU-Grenzschützern
Die andere große Herausforderung bei der Umsetzung der kommenden Frontex-Reform liegt darin, neues Personal aufzubauen und auszubilden. Im Oktober 2019 hat die Agentur einen ersten Bewerbungsaufruf für 700 europäische Grenzschutzkräfte veröffentlicht. Diese Kräfte sollen nicht mehr, wie bisher, aus den Mitgliedstaaten abgeordnet, sondern direkt durch Frontex rekrutiert werden. Die gesamte stehende Frontex-Einsatztruppe soll sich indes weiterhin primär aus nationalen Grenzbeamten und ‑beamtinnen zusammensetzen. Die aktuelle Zielsetzung lautet, 1500 nationale Grenzpolizisten abrufbereit zu haben; bereits 2021 sollen es rund 5000 sein. Parallel zu diesem Aufwuchs verschiebt sich das Gewicht von kurz- zu langfristigen Abordnungen zu Frontex. Die Mitgliedstaaten sind beim Einsatz ihrer Personalkapazitäten also immer weniger flexibel.
Die Beschlusslage sieht außerdem vor, dass nach einer Evaluierung 2024 die Zahl EU-eigener Grenzschützer von 1500 auf 3000 verdoppelt werden soll. Erst 2027 würde schließlich zusammen mit Kräften der Mitgliedstaaten die volle Einsatzstärke von 10 000 Personen erreicht werden. Deutsche Politikerinnen und Politiker haben wiederholt argumentiert, dieser Prozess müsse beschleunigt werden. Diese Aufrufe finden in der Praxis nur wenig Nachhall. Mehrere Mitgliedstaaten sehen sich allein durch die Planung bis 2027 stark unter Druck gesetzt, weil sie nicht über die notwendigen personellen Ressourcen verfügen. Auf nationaler Ebene besteht ebenso eine erhebliche politische Nachfrage nach einem Ausbau der Sicherheitsbehörden. In Deutschland gilt dies etwa hinsichtlich einer möglichen Intensivierung der sogenannten Schleierfahndung in Grenzräumen.
Auf EU-Ebene besteht die Sorge, dass die neuen Stellenausschreibungen bei Frontex auf zu wenig Resonanz stoßen werden. Unter Umständen könnten Bewerberinnen und Bewerber nicht hinreichend qualifiziert und / oder nicht alle Mitgliedstaaten gleichermaßen vertreten sein, nicht zuletzt da Angestellte in Warschau (Sitz der Agentur) im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich bezahlt werden. Gehälter für EU-Angestellte werden mit einem Korrekturkoeffizienten je nach Lebenshaltungskosten im Vergleich zu Belgien und Luxemburg verrechnet; im Fall Polens liegt er etwa 30 Prozent niedriger.
Die Schaffung einer neuen Kategorie von EU-eigenen Grenzschützern und -schützerinnen wirft weitere Fragen auf. Beispielsweise muss geklärt werden, nach welchen Standards sie ausgebildet werden sollen. Nationale Grenzbeamte, die zu Frontex abgeordnet sind, greifen auf Kenntnisse und Rechtsrahmen ihrer jeweiligen Heimatländer zurück. In ihrem jüngsten Bewerbungsaufruf spricht Frontex von einer sechsmonatigen Ausbildung zum europäischen Grenzschützer. Um dies praktisch zu ermöglichen, richtet sich der Aufruf zunächst an ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nationaler Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, die in der Ausübung hoheitlicher Aufgaben erfahren sind. Dies schließt ehemalige Angehörige des Militärs mit ein. Wenn man so pragmatisch vorgeht, um Personal zu gewinnen, muss bedacht werden, dass für EU-eigene Grenzschutzkräfte hohe Standards angelegt werden müssen. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) und die EU-Grundrechtecharta sind zwingend einzuhalten.
Frontex-Kräfte und die Rechte des Einsatzlandes
Umgekehrt ist offen, ob der Pool an neuen Frontex-Kräften umfänglich genutzt werden wird. Die Mitgliedstaaten sollen Empfehlungen der Agentur in ihren jeweiligen Grenzschutzsystemen umsetzen. Die jüngste Reform bekräftigt das Recht des Frontex-Direktors, einzelnen Staaten diesbezüglich Vorschläge zu machen. Sollte ein Mitgliedstaat trotz darauf aufbauender gemeinsamer Beschlüsse der Kommission und des Rats der Innenminister keine entsprechenden Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen, kann der Rat beschließen, diesen Staat zeitweise als Vollmitglied der Schengenzone zu suspendieren. Dennoch kann ein Einsatz einer operativen Frontex-Mission nur in Kooperation mit dem jeweiligen Außengrenzstaat realisiert werden. Der einladende Staat führt zudem das Kommando über die Frontex-Kräfte vor Ort. Somit bleibt die nationale Verantwortung für die öffentliche Sicherheit gemäß Artikel 4 (2) des EU-Vertrags gewahrt. Auch aus praktischer Sicht ist es geboten, dass Frontex-Kräfte eng mit dem Einsatzland zusammenarbeiten. Zum Beispiel müssen irreguläre Einwanderer oder verdächtige Personen den lokalen Behörden übergeben werden zur Einleitung eines Asyl- oder eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens. Eine einseitige supranationale Übernahme von Abschnitten der EU-Außengrenzen durch Frontex-Kräfte ist also weder kompetenzrechtlich möglich noch realistisch.
Nationale wie europäische Grenzschutzkräfte sind derweil verpflichtet, allen ankommenden Personen auf Verlangen ein faires Asylverfahren zuzugestehen, einschließlich irregulärer Migrantinnen und Migranten. Bis zum Abschluss des Verfahrens muss ihnen ein sicherer Aufenthalt auf europäischem Territorium gewährt werden. Nur in Ausnahmefällen sollte die Überwachung im Vorfeld europäischer Außengrenzen dazu führen, dass Nachbarstaaten irreguläre Zuwanderer frühzeitig abfangen. Eine indirekte europäische Migrationskontrolle durch Datenübermittlung an Dritte ist illegal, wenn kein verlässlicher humanitärer Schutz für die betroffenen Menschen jenseits der EU gegeben ist.
Somit darf man eine verstärkte Frontex-Präsenz an europäischen Außengrenzen nicht gleichsetzen mit einer Reduzierung der irregulären Zuwanderung. Frontex-Einsätze sollten primär Migrationsbewegungen besser erfassen, was wiederum eine rechtliche Verantwortlichkeit für schutzsuchende Personen nach sich ziehen kann. Solange kein gemeinschaftlicher Mechanismus für die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU eingerichtet wird, werden einzelne Mitgliedstaaten versucht bleiben, Maßnahmen zu verfolgen, die dem europäischen Migrations- und Flüchtlingsrecht widersprechen. Beispiele hierfür sind das »Durchwinken« irregulärer Zuwanderer, die Zurückweisung ohne Rechtsbehelfe, der Einsatz von systematischer Polizeigewalt in Grenzregionen, das Aufrechterhalten menschenunwürdiger Unterkünfte. Überdies ist nicht davon auszugehen, dass Staaten an der EU-Außengrenze freiwillig große Frontex-Missionen einladen, wenn diese mit einer höheren Transparenz und schärferen Kontrolle der nationalen Grenzsicherungspraktik einhergehen. Diese Vermutung stützt sich auf die Tatsache, dass mehrere Außengrenzstaaten in Süd- und Osteuropa sich offiziell gegen die kommende Frontex-Reform ausgesprochen haben.
Frontex für Grenzverfahren
Alternativ zur Grenzsicherung könnten die neuen Frontex-Kräfte dabei helfen, Asylverfahren in Grenznähe zu beschleunigen. Einige weitere Mitgliedstaaten könnten Einrichtungen schaffen – vergleichbar den deutschen Ankerzentren –, die über die bisherigen und vielfach dysfunktionalen Hotspots in Italien und Griechenland hinausweisen. Irreguläre Einwanderer, Einwanderinnen und Asylsuchende sollten dort nicht nur registriert und identifiziert werden, sondern zeitnah eine Entscheidung über ihren Schutzstatus erhalten. Wie die Bundespolizei im sogenannten Flughafenverfahren könnte Frontex die Sicherung solcher Zentren unterstützen und die zügige Rückführung abgelehnter Antragsteller organisieren.
Die Konzeption »geschlossener Zentren«, die der Europäische Rat im Sommer 2018 in Erwägung zog, ging noch einen Schritt weiter. Hierbei sollten in diesen Zentren möglichst gleichwertige Asylverfahren stattfinden, in deren Anschluss die Schutzsuchenden innerhalb der Union verteilt oder in die Heimat rückgeführt werden sollten. Dazu müsste das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) entscheidungsbefugt, also zu einer echten EU-Asylagentur aufgewertet werden. Europol müsste sich umfassender als bisher der Sicherheitsüberprüfung irregulärer Einwanderer und der Schleuserbekämpfung widmen. Diese EU-Agenturen könnten somit in gemeinsamen »Europäischen Unterstützungsteams für das Migrationsmanagement« agieren.
Auf Initiative Deutschlands und als Vorgriff auf seine Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 wird in den kommenden Monaten eine etwas abgeschwächte Version dieser Konzeption debattiert werden. Demnach sollte es in den geschlossenen Zentren in Grenznähe eine zeitnahe Vorabprüfung der Asylsuchenden geben. Erst wenn keine offensichtlichen Gründe für eine Ablehnung vorliegen, könnten die Antragsteller auf andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden, wo ein vollständiges Asylverfahren durchgeführt würde. Frontex wäre auch in dieser Version für die Rückführung unmittelbar abgelehnter Asylbewerber zuständig.
Solange sich die Situation in Griechenland nicht entspannt, wo in Hotspots und auf Basis der EU-Türkei-Übereinkunft seit längerem in diese Richtung experimentiert wird, ist kein substantieller Fortschritt zu erwarten. Die neue konservative griechische Regierung hat entschieden, die bestehenden Lager auf mehreren griechischen Inseln aufzulösen und auf dem Festland neue, geschlossene Einrichtungen für Asylsuchende zu schaffen. Ob es gelingen wird, dort für schnellere Verfahren und menschenwürdige Standards zu sorgen, ist zurzeit vollkommen offen. Außerdem ist die Rückführung irregulärer Migrantinnen und Migranten in die Türkei unter den aktuellen politischen Verhältnissen fraglicher und problematischer denn je.
Unabhängig von der kritischen Lage in Griechenland sprechen allgemeine rechtliche Gründe dagegen, geschlossene Zentren für europäische Asyl- und Rückführungsverfahren zu etablieren: Selbst wenn EU-Agenturen diese Zentren und Verfahren direkt übernehmen sollten – und sei es nur im Rahmen einer Vorabprüfung von Asylsuchenden –, bleiben die dazugehörigen Rechtsmittel auf nationaler Ebene. Bei so grundrechtssensiblen Maßnahmen wie zwangsweisen Rückführungen darf das Recht auf ein faires Verfahren allenfalls zeitlich gestrafft, aber keineswegs effektiv ausgehebelt werden. Sogar in einigen nordeuropäischen Mitgliedstaaten ist es schwierig, bei hohen Zugangszahlen zentrale rechtsstaatliche Garantien einzuhalten und einen unverhältnismäßig langen Freiheitsentzug von Asylbewerbern zu vermeiden. Die einzelnen Nationen müssen ihren Kapazitätsaufbau für rechtsstaatliche und zügige Asylverfahren intensivieren, bevor Frontex sinnvoll in größerem Umfang zu Asylverfahren in Grenznähe beitragen kann.
Frontex für Auslandsmissionen
Eine letzte Option, die wachsende Frontex-Grenzschutztruppe operativ einzusetzen, sind internationale Missionen für die Grenzsicherung. Dabei nehmen Frontex-Kräfte unmittelbare Aufgaben der Grenzkontrolle in Drittstaaten wahr, was über eine Koordinierung von Operationen zur Rückführung hinausreicht. Eine erste derartige Frontex-Mission mit 50 Beamten hat im Frühjahr 2019 in Albanien begonnen. Dieser Einsatz gilt als erfolgreiches Pilotprojekt, da die albanischen Behörden über fast keine Grenzschutzkräfte und ‑mittel verfügen und für jegliche Unterstützung dankbar sind. Ähnliche Missionen zur operativen Verstärkung der Grenzkontrolle können in Montenegro und anderen Staaten des westlichen Balkans – mit Ausnahme des Kosovo – folgen. Die dafür nötigen Statusabkommen sind bereits unterzeichnet oder nähern sich dem Abschluss. Demgegenüber steht die humanitäre Situation irregulärer Migrantinnen und Migranten, die in der Region zum Teil seit Jahren festsitzen. Weitere Fluchtbewegungen aus der Türkei nach Griechenland werden die Lage noch verschärfen. Künftige Frontex-Grenzschutzmissionen auf dem westlichen Balkan werden deshalb in einem deutlich spannungsreicheren Umfeld agieren. Die Zurückweisung Nordmazedoniens und Albaniens als EU-Beitrittskandidaten schwächt die politischen Einflussmöglichkeiten der EU zusätzlich.
Vor diesem Hintergrund erweitert die beschlossene Frontex-Reform das Einsatzgebiet von Grenzschutzmissionen über die unmittelbar an die EU angrenzenden Staaten hinaus. Rein rechtlich werden damit Einsätze in Nordafrika oder anderen Transit- und Herkunftsländern der Migration nach Europa möglich. Frontex ist schon heute in vielen dieser Staaten in beratender Funktion und mit technischer Ausrüstungshilfe präsent.
Darüber hinausgehende Frontex-Grenzschutzmissionen mit operativen Aufgaben hängen – wie diejenigen innerhalb der EU – ab von einer Einladung durch den jeweiligen Einsatzstaat. Derzeit ist unklar, welche Drittstaaten eine solche Einladung würden aussprechen wollen und wie sich dies mit Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Union überschneiden würde. Insbesondere in Ländern des Sahels sind EU-GSVP-Einsätze auf den Grenzschutz ausgeweitet oder neu zu diesem Zweck aufgesetzt worden. Vergleichbare Frontex-Missionen würden noch stärker dem EU-Interesse dienen, irreguläre Migranten in den jeweiligen Transitstaaten festzusetzen. Als »Maximallösung« wäre Folgendes denkbar: Frontex-Einsätze helfen beim Betreiben humanitärer Auffanglager in Drittstaaten, in die Personen nach einer Seenotrettung auf hoher See verbracht werden könnten und / oder in denen sie extraterritorial einen Asylantrag für Europa stellen könnten. Gegen letzteres Modell sprechen die bisherigen Pilotprojekte in Niger, bei denen nur eine sehr kleine Anzahl besonders schutzbedürftiger Personen geregelt von EU-Staaten aufgenommen wurde. Unter anderem deshalb hat die Afrikanische Union solchen Ansätzen eine klare Absage erteilt: sogenannten »Ausschiffungsplattformen« oder neuen Zentren, in denen Asylanträge für Europa gestellt werden können.
Viel konkreter stellt sich deshalb die Frage, ob schon der rein formal vorgesehene Aufbau von 10 000 Frontex-Grenzschutzkräften die Kapazitätsentwicklung des zivilen Krisenmanagements der GSVP untergräbt. Für Letzteres verfolgt die EU zurzeit einen neuen Anlauf mit dem »Civilian Compact«. Sowohl kurz- als auch längerfristig abgeordnete nationale Polizeibeamte kommen für Einsätze im Rahmen der GSVP und von Frontex in Betracht. Die Union hat bislang kein übergreifendes Konzept zur Aufgabenteilung präsentiert. Vorstellbar wäre, dass GSVP-Operationen sich nach wie vor auf allgemeine Themen der Reform des Sicherheitssektors konzentrieren, während Frontex nur eng definierte Aufgaben des Grenzmanagements in Drittstaaten übernimmt. Unter anderen politischen Mehrheitsverhältnissen könnte Frontex zusätzlich jenseits europäischer Küstengewässer in der Seenotrettung aktiver werden. Dabei wäre Frontex eindeutig an EU-rechtliche Vorgaben zum Flüchtlingsschutz gebunden.
Empfehlungen
Die deutsche Ratspräsidentschaft 2020 sollte einen nachhaltigen Ausbau von Frontex priorisieren. Wenn der Fokus allein auf die beschleunigte Rekrutierung bei Frontex gelegt wird, sind die Risiken größer als der Nutzen – das ist weitgehend Symbolpolitik mit Blick auf eine beunruhigte Öffentlichkeit. Frontex kann nicht den fehlenden Konsens der Mitgliedstaaten im Umgang mit irregulärer Migration überdecken. Nicht eine verstärkte europäische Präsenz im Außengrenzschutz ist maßgeblich, sondern die sogenannte Lastenteilung, die Entwicklung der Kapazitäten in nationalen Asylsystemen und die politische Bereitschaft, »sichere, geordnete und reguläre« Migration zu fördern.
Deutschland sollte überdies betonen, dass ursprünglich nicht nur Frontex ausgebaut, sondern damit einhergehend eine europäische Asylbehörde geschaffen werden sollte. Insofern sind die jüngsten Vorschläge für den Ausbau von Grenzzentren und -verfahren sinnvoll, wenn dies gleichzeitig eine Akzentverschiebung auf faire und zügige Asylverfahren bedeutet. Eine EU-Asylagentur mit umfangreichen Kompetenzen, Asylverfahren durchzuführen, wäre hierzu ein wichtiger Baustein. Weitere Reformen müssen zweierlei gewährleisten: Rechtsstaatlichkeit und den Zugang zu Rechtsmitteln in zentralen Erstankunftsstaaten. Der Frontex-Ausbau darf demgegenüber nicht zu einseitig dazu genutzt werden, Rückführungen zu beschleunigen und ihre Zahl zu erhöhen.
Frontex sollte vielmehr im Kern dazu beitragen, professionelle Standards und neue technische Mittel bei der Grenzkontrolle zu verbinden mit einem möglichst hohen Maß an Transparenz und an Verantwortlichkeit für irreguläre Zuwanderer und Schutzsuchende. Dies gilt sowohl für die EU-eigenen Grenzschutzkräfte als auch für die Zusammenarbeit mit nationalen Grenzpolizisten, innerhalb wie außerhalb der EU. In Zeiten eines anhaltend hohen Migrationsdrucks ist das kein unrealistischer Maßstab, sondern die notwendige Grundlage für eine tragfähige und operative Integration europäischer Sicherheitsbehörden.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A66