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Das Europäische Parlament und die Corona-Pandemie

In der Krise ist das EP meist Zuschauer

SWP-Aktuell 2020/A 77, 23.09.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A77

Research Areas

Seit Anfang 2020 haben die EU-Institutionen mit einer Reihe von Sondermaßnahmen auf die Corona-Pandemie reagiert, um die Eindämmungsbestrebungen der Mitgliedstaaten zu koordinieren und europäische Mittel für einen gemeinsamen Wieder­aufbau zur Verfügung zu stellen. Mit dem EU-Wiederaufbaufonds werden Weichen gestellt, welche die europäische Integration prägen werden. Dennoch ist das Euro­päische Parlament trotz seiner Haushaltsrechte bei den meisten dieser Entscheidungen Zuschauer geblieben, wie bei Euro- und Flüchtlingskrise. Um die demokratische Legitimation und die europäische Perspektive zu stärken, sollte das EP kurz­fristig intensiver in den EU-Wiederaufbaufonds eingebunden werden und langfristig eine Mitentscheidungsrolle bei EU-Kriseninstrumenten bekommen.

Im europäischen »Krisenjahrzehnt«, das sich von der Eurokrise seit 2010 über die Flüchtlingskrise bis zum Brexit und zum Auf­stieg EU-skeptischer Parteien erstreckt, ist die Stellung des Europäischen Parlaments von tiefen Wider­sprüchen geprägt.

Auf der einen Seite wurde das EP durch den Ende 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon deutlich aufgewertet. Das Mit­entscheidungsverfahren, in dem das Parla­ment dem Rat gleichgestellt ist, wurde zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren um­gewandelt und auf viele weitere Politik­bereiche ausgedehnt. Auch das Haushaltsrecht des EP wurde gestärkt, unter anderem mit einem formellen Vetorecht bei der Ent­scheidung über den Mehr­jährigen Finanzrahmen (MFR) der EU.

Diese Stärkung bei der Gesetzgebung hat sich auch in der Praxis ausgewirkt. So hat das Parlament beispielsweise 2008 nur bei 39,7 Prozent der verabschiedeten EU-Richt­linien und Verordnungen mitentschieden, während es 2019 bei 78,8 Prozent voll beteiligt war (eigene Erhebung). Zwar gibt es weiterhin (gewichtige) Ausnahmen, in denen das EP nur angehört wird oder der Rat sogar allein über EU-Gesetzgebung ent­scheiden kann. Dennoch gilt die volle Mit­bestimmung des EP mittlerweile als Regel­fall. Das Parlament tritt dementsprechend auch mit dem Selbstverständnis als gleich­berechtigter Gesetzgeber auf. Die großen Regulierungsinitiativen der EU, etwa die Datenschutzgrundverordnung, hat das EP maßgeblich mitgestaltet.

Wenig Beteiligung an der Krisenpolitik

Die Kehrseite der gestärkten Mitentscheidung des EP in der EU-Gesetzgebung ist allerdings, dass in den Krisenmomenten der EU intergouvernementale Verfahren domi­nieren und das Parlament weitgehend auf eine Zuschauerrolle beschränkt war. Ob Eurokrise oder Flüchtlingskrise: Es waren die Staats- und Regierungschefs im Euro­päischen Rat, welche die entscheidenden Verhandlungen führten und die wegweisenden Beschlüsse gefasst haben.

In der Eurokrise etwa wurden die entscheidenden Beschlüsse über die Programme für Griechenland, Irland, Portugal und Zypern in der Eurogruppe sowie im Euro­päischen Rat gefasst, ohne das EP einzubeziehen. So stützte sich das erste Griechenlandprogramm in Gestalt des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) auf Art. 122 (2) AEUV, dem gemäß der Rat allein entscheidet und das Parlament nur informiert wird. Die späteren Mutationen des Euro-Rettungsschirms in Form der Euro­päi­schen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und des auf Dauer angelegten Euro­päischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) lagen außerhalb des institutionellen Rahmens der EU. Auch weil die Beiträge ausschließlich aus nationalen Haushalten stammten, war das EP weder an der Grün­dung von EFSF und ESM beteiligt noch an den einzelnen Beschlüssen über die Pro­gramme. Daher hat das EP im gesamteuropäischen Interesse wiederholt mehr Trans­parenz und eine de­mokratische Kontrolle der Troika gefordert. Einzige nennenswerte Ausnahme mit Parlamentsbeteiligung war die Reform des Stabilitäts- und Wachstums­pakts 2010/11. Als Gesetz­gebung konnte sie nur durch Mitentscheidung des EP beschlos­sen werden.

Ein ähnliches Bild bot sich in der Flüchtlingskrise. Obgleich die Asyl- und Migra­tionspolitik der EU mit dem Vertrag von Lissabon vergemeinschaftet wurde, war es der Europäische Rat, in dem die ausschlaggebenden politischen Ver­handlungen zum Um­gang mit den Geflüch­teten stattfanden. Auch bei der kontroversen Entscheidung über die Verteilungsquote hatte das EP keine Mit­sprache, denn die Rechtsgrund­lage dafür bilde­te Art. 78 (3) AEUV, dem gemäß das EP nur an­gehört wird. Der wich­tigste außenpoli­tische Bau­stein, der EU-Türkei-Flüchtlings­pakt, war eine politische Ab­machung zwischen den Staats- und Regie­rungschefs der EU und der Türkei, wobei das Europäische Parla­ment nicht eingebunden war. Forderungen des EP, dieMenschen­rechte auch bei Stärkung der EU-Außengrenzen einzuhalten, sind weit­gehend verhallt. Mitgestaltend beteiligt war das EP hingegen an der Gesetz­gebung zum Ausbau der europäischen Grenzschutz­agentur Frontex.

Am stärksten involviert in die Krisen des letzten Jahrzehnts war das Parlament noch beim Brexit. Grund dafür ist, dass das heftig umstrittene Austrittsabkommen zwischen Vereinigtem Königreich und EU formell der Zustimmung des EP bedurfte. Auch das Ab­kommen über die zukünftigen Beziehungen, besonders im Handelsbereich, muss vom EP abgesegnet werden. Doch während das britische Unterhaus – vor allem wegen der unsicheren Mehrheitsverhältnisse – zum Schauplatz großer politischer Dramen wurde, hat das EP eine unterstützende Rolle gespielt. In enger Abstimmung mit der EU-Kommission hat es in einer Serie von Reso­lutionen EU-Verhandlungsführer Michel Barnier den Rücken gestärkt und als eine Art »bad cop« damit gedroht, das Abkommen nicht zu akzeptieren, wenn Kernforderungen der EU nicht erfüllt werden. Hierzu gehörten etwa die Sicherung der Rechte der EU-Bürgerin­nen und -Bürger, die Einhaltung der Haus­haltsverpflichtungen des Vereinigten König­reichs und die offene Grenze zum EU-Mit­glied Irland. An den politisch folgen­reich­sten Entscheidungen hat das Euro­päische Parlament jedoch nicht mitgewirkt, näm­lich der Festlegung des EU-Mandats und den Beschlüssen über die Verlängerungen der Verhandlungen nach Art. 50 EUV.

So bleibt noch nachdrücklicher als für die nationale Ebene zu konstatieren, dass Krisenmomente in der EU die Stunde der Exekutive sind. Auch weil Vertragsänderun­gen zum Tabu geworden sind, nutzen die Institutionen und Mitgliedstaaten der EU für Kriseninstrumente größtenteils Flexibi­litätsklauseln, die in den EU-Verträgen ver­ankert sind, aber keine Beteiligung des Europäischen Parla­ments vorsehen – oder die EU- bzw. Euro-Staaten weichen gänzlich auf Instrumente außerhalb des EU-Rahmens aus. Gleichzeitig rückt der Europäische Rat, in dem Krisen zur »Chef­sache« gemacht werden, noch mehr in den Vordergrund.

Parlamentarische Handlungs­fähigkeit in der Pandemie

Wie nationale Parlamente hat auch das EP in Reaktion auf die Corona-Pan­demie seine Arbeitsweise geändert. Als eines der ersten Parla­mente in Europa beschränkte es im März 2020 seine Tätigkeiten und sagte bis auf Weiteres seine Straß­burger Plenar­sitzungen ab. Seitdem ist auch die parlamentarische Arbeit in Brüssel nur begrenzt möglich. Das EP gilt als »Arbeits­parlament«, dessen Funktionsweise auf einer Vielzahl von Plenar-, Ausschuss- und Fraktionssitzun­gen beruht, die unter Corona-Bedingungen nicht auf die übliche Weise stattfinden kön­nen. Was das EP betrifft, kommt die trans­europäische Kom­ponente hinzu, denn für gewöhnlich reisen EP-Ab­geordnete und ihre Teams laufend zwischen Brüssel, Straßburg und ihrem Wahlkreis. Eine solche Reise- und Austauschtätigkeit war und ist aufgrund der unterschiedlichen nationalen Einschrän­kungen zurzeit kaum aufrechtzuerhalten.

Diese logistischen Herausforderungen hat das EP relativ schnell bewältigt. So hat es zunächst den monatlichen Umzug nach Straßburg ausgesetzt und einen Ausnahme­zustand erklärt, für den neben Videokonferenzen auch Fernabstim­mungen für alle Abgeordneten möglich gemacht wurden. Derzeit wird im EP über eine langfristige Anpassung der Geschäftsordnung verhandelt. Trotz vereinzelter technischer Schwie­rigkeiten konnten auf diese Weise alle Ab­geordnete an der parla­mentarischen Arbeit teilnehmen, sogar wenn sie in ihren jeweili­gen EU-Staaten stark vom Lockdown betrof­fen waren. Wäh­rend im März 2020 noch sämtliche Ausschuss­sitzungen aus­fallen mussten, fanden zwi­schen April und Juli 2020 wieder 140 von ihnen statt, und zwar per Video mit Simultanübersetzung. Die für September in Straßburg geplante Plenar­sitzung mit der jährlichen »State of the European Union«-Rede der Kommissionspräsidentin musste jedoch kurzfristig nach Brüssel ver­legt werden.

Zudem arbeitet das EP während der pandemiebedingten Einschränkungen vor­wiegend in Dringlichkeitsverfahren nach Art. 163 der EP-Geschäftsordnung. So wer­den Gesetztestexte schnellstmöglich durch die üblichen Stationen geführt. Normalerweise ist die Informalität, beispielsweise durch Treffen im Abgeordnetenrestaurant oder Gespräche auf dem Flur, eines der wichtigsten Werkzeuge der Abgeordneten für die Entscheidungsfindung. Infolge der Pandemie musste diese gezwungenermaßen formalisiert werden. Auf diesem Wege konnte das Parlament seine Handlungs­fähigkeit trotz massiver logistischer Proble­me bewahren, auch wenn die politische Arbeit erschwert wurde.

Gesetzgebung im Eiltempo

In der Folge war die gesetzgeberische Tätig­keit des Parlaments spürbar limitiert. Der überwiegende Teil der EU-Gesetzgebung wird mittlerweile in erster Lesung verabschiedet, nachdem sich Parlament, Rat und Kommission im sogenannten Trilog auf eine gemeinsame Position geeinigt haben. Dieses Verfahren macht die EU-Gesetz­gebung effizienter, steht aber auch in der Kritik, weil die Triloge nicht öffentlich sind. Dennoch ist der Anteil an EU-Gesetz­gebung, die nach diesem Prozedere verabschiedet wird, in den letzten Legislaturperioden kon­tinuierlich gestiegen. 2019 wurden erstmals sämtliche Mitentscheidungsverfahren (näm­lich 203) in erster Lesung abgeschlossen (eigene Erhebung).

Gleichzeitig war das Trilogverfahren in der Corona-Pandemie vor zusätzliche Her­ausforderungen gestellt, denn Triloge setzen sich aus relativ vielen Teilnehmern aus drei unterschiedlichen Institutionen zusammen. Aber während das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission jeweils zügig interne Kommunikationswege aufgebaut haben, um zumindest in begrenz­tem Maß Sitzungen sicher per Videokonferenz abzu­halten, fehlten die technische Infrastruktur für oder die politische Einigung auf ein gemeinsames Videoformat (oder beides). Zwischen Februar und der parlamentarischen Sommerpause 2020 fanden daher keine Trilogverhandlungen statt. Insgesamt fasste das EP im ersten Halb­jahr 2020 nur 18 Beschlüsse in Mit­entschei­dungs­dossiers und damit nur einen Bruch­teil der 197 im selben Zeitraum des Jahres 2019. Allerdings werden vor den Europawahlen traditionell relativ viele Gesetzgebungs­initiativen ab­geschlossen. Gesetzgebe­risch tätig werden kann das EP mangels eigenen Initiativrechts zudem nur, wenn die Kom­mission ihr Vor­schlagsrecht nutzt.

Diese Beschlüsse zeigten, dass das EP durchaus zu Dringlichkeitsverfahren in der Gesetzgebung fähig ist. So wurde im April 2020 ein Verfahren zur Änderung des EU-Haushalts initiiert, um Finanzmittel für den Katastrophenschutz und besonders betroffe­ne Mitgliedstaaten freizustellen. Dabei ver­gingen weniger als drei Wochen vom Vor­schlag der Kommission bis zur Zustimmung in Parlament und Rat; das eigentliche parla­mentarische Ver­fahren nahm nur drei Tage in Anspruch. Von März bis Juli 2020 schloss das EP 19 Gesetz­gebungs­verfahren ab, und zwar im Durch­schnitt binnen 23,3 Tagen.

Die wenigen gesetzgeberischen Beschlüsse, welche das EP im ersten Halbjahr 2020 unter dem Eindruck der Corona-Pandemie gefasst hat, können indes größtenteils als »Vollzugsbeschlüsse« kategorisiert werden. Das bedeutet, dass das EP eine Gesetzgebung absegnet, die vorab von der Kommission und teilweise von nationalen Regierungen im Rat auf den Weg gebracht wurde. Hier­zu gehörten etwa Maßnahmen zur Mobili­sierung von Investi­tionen in die Gesundheitssysteme der Mit­gliedstaaten, die Auf­stockung des zivilen Katastrophenschutz­mechanismus der EU oder Ausnahmen zur Unterstützung des Agrar- und Fischerei­sektors. Angesichts der Krisensituation gab es zudem sehr hohe Zustimmung: Durchschnittlich 90,8 Prozent der Abgeordneten votierten jeweils für die Vorschläge der Kom­mission (eigene Er­hebung). Bemerkenswert ist, dass das EP so schnell und einheitlich handelte, obwohl es seit den Europawahlen 2019 fragmentier­ter ist als zuvor.

Kontrolle der Kommission

Parlamentarische Arbeit findet nicht nur in Form von Gesetzgebungs- und Haushalts­beschlüssen statt, sondern gerade in Krisen­zeiten durch die Kontrolle der Exekutive. Auch hier wirken sich die geteilten Legiti­mationsketten der EU aus: So­lange die zentralen politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene im Euro­päischen Rat getroffen werden, muss die parlamentarische Kontrolle maßgeblich durch die natio­nalen Parlamente erfolgen. Nach jedem Europäischen Rat berichtet dessen ständiger Präsident Charles Michel zwar vor dem EP-Plenum, ist ihm gegenüber aber nicht verantwortlich.

Die Kommission allerdings ist dem EP gegenüber direkt verantwortlich. Seit die Ausschusssitzungen – größtenteils per Video – wieder stattfinden, hat das Parla­ment auch seine Anhörungen in vollem Umfang abgehalten. Gemäß dem wissenschaftlichen Dienst des EP hat dieses von März bis Juli 2020 in seinen Ausschüssen 113 Anhörungen mit Bezug zum Umgang mit der Coronavirus-Pandemie in der EU veranstaltet, 75 davon unter Beteiligung der Kommission. In An­hörungen zu diesem Thema befragt wurden außerdem Vertreter mehrerer EU-Agentu­ren – etwa von Euro­pol, der EU-Arzneimittel­agentur (EMA), des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und anderer –, ebenso die EZB-Präsidentin Lagarde, der damalige Eurogruppen-Präsi­dent Centeno und, wie tradi­tionell zum Auftakt jeder Ratspräsidentschaft die jewei­lige Regierungschefin, in diesem Fall Bun­deskanzlerin Angela Merkel. Dabei haben die Abgeordneten in fast allen Aus­schüssen die Kommission zum Umgang der EU mit den Herausforderungen der Pan­demie be­fragt. Auch der Nachfolger oder die Nach­folgerin des Ende August 2020 zurückgetretenen Handelskommissars Phil Hogan wird sich vor Ernennung einer An­hörung im EP stellen müssen.

Weiterhin begrenzt ist die Kommuni­kationsfunktion des Europäischen Parla­ments. Weder in der Euro- noch der Flücht­lingskrise war das EP Arena der zentralen europapolitischen Debatten. Das ist trotz seiner Anhörungstätigkeiten auch weit­gehend so geblieben. Zu den bedeutenden Ausnahmen zählt etwa die öffentliche Ent­schuldigung an Italien, die Kommissionspräsidentin von der Leyen im April 2020 wegen Versäumnissen in der Corona-Pan­demie abgab.

Ungewöhnlich stark genutzt während der Corona-Pandemie haben die EP-Abge­ord­neten das Mittel der parlamentarischen Anfrage an die EU-Kommission. Seit Beginn des Jahres haben sie insgesamt 535 Anfragen mit Bezug zu der Pandemie gestellt (Stand: 14. September 2020). Das sind mehr als alle Anfragen aus dem EP zum Thema Brexit in den letzten fünf Jahren, und etwa halb so viele wie zum Themenkomplex Migration seit 2014 (eigene Erhebung). Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass der Großteil der An­fragen aus jenen Fraktionen kam, welche die Kommission stützen (EVP, S&D, Renew Europe), und nicht wie sonst üblich aus EU-skeptischen oder oppositionellen Fraktionen. Dies unterstreicht, wie groß der Infor­mationsbedarf der Abgeordneten im Hin­blick auf die Auswirkungen der Pandemie und die Reaktionen der EU darauf ist.

Beteiligung des EP an Reak­tionen der EU auf die Pandemie

Da die Gesundheitspolitik weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (bzw. der regionalen Ebene) fällt, reagierte die EU hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich auf die Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie. Als Wirtschafts­gemeinschaft hat die Union hier die meisten Instrumente und steht angesichts der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, die zudem sehr un­gleich zwischen den Mitglied­staaten ausfällt, besonders in der Pflicht.

Zur Bewältigung der Krise hat die EU schrittweise eine Reihe wirtschaftlicher Maß­nahmen auf den Weg gebracht, um die Mit­gliedstaaten zu unterstützen. Ein genauer Blick auf diese Instrumente und die Beteili­gung des Europäischen Parlaments an ihrer Verabschiedung offenbart allerdings die Grenzen von dessen Mitwirkung – auch über die Krise hinaus.

Die erste wirtschaftliche Reaktion – Kohäsionsmittel, SURE, ESM

Eine frühe wirtschaftliche Antwort der EU auf die Pandemie war die Mobilisierung vorhandener EU-Mittel, welche die Mitglied­staaten gemäß Beschluss von April 2020 flexibler und zum Teil ohne Kofinanzierung einsetzen können (die »Investitionsinitiative zur Bewältigung der Corona-Krise«). Kraft seiner Haushalts­kompetenzen war hier das EP formell voll beteiligt und nahm den Vor­schlag der Kom­mission im Dringlichkeitsverfahren per Fernabstimmung an. Die Ein­bindung des EP war erforderlich, weil es sich um vorhan­dene EU-Mittel handelte. Diese Rechtsgrundlage hatte aber auch Nach­teile, etwa dass der Schlüssel für die Ver­teilung der Mittel zwischen den Mitgliedstaaten nicht geändert werden konnte. Davon profitierten mittel- und osteuropäische Staaten besonders stark, obwohl sie (zu dieser Zeit) noch eher wenig vom Coronavirus betroffen waren.

Anders sah die Parlamentsbeteiligung bei der Einführung innovativer wirtschaftlicher Instrumente aus. Ein Beispiel hierfür ist die EU-Unterstützung für Kurzarbeitergeld in besonders betroffenen Mitgliedstaaten (SURE). Insgesamt 100 Milliarden Euro an Krediten sollen den verschiedenen Kurz­arbeitergeld-Programmen zugute kommen, welche die meisten EU-Mitgliedstaaten nutzen, um die wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns zu mildern. Eine solche weit­reichende Unter­stützung für nationale Sozialsysteme wäre vor der Corona-Pan­de­mie hoch umstritten gewesen, doch unter ihrem Eindruck wurde SURE im April und Mai 2020 binnen weni­ger Wochen ver­abschiedet. Das Europäische Parlament aber war an dieser Entscheidung nicht beteiligt. Ähnlich wie bereits der EFSM in der Euro­krise nutzte die EU-Kommission die Flexibi­lität von Art. 122 (2) AEUV aus. Eine Mit­wirkung des EP ist hier nicht vorgesehen. Es wurde ledig­lich über den Beschluss infor­miert. Die Kredite werden ebenfalls auf­grund eines Durchführungsbeschlusses des Rates auf Vorschlag der Kommission aus­gezahlt. Auch hier ist das EP nicht involviert.

Parallel zum SURE-Programm vereinbarte die Eurogruppe nach schwierigen Ver­handlungen im April 2020, einen umfangreichen Instrumentenkasten zu schaffen. Mit ihm sollen Euro-Mitgliedstaaten dabei unterstützt wer­den, die wirtschaftlichen Folgen der Pan­demie zu bewältigen. Hierzu gehört die (bis­her ungenutzte) Möglichkeit, zu deutlich günstigeren Konditionen Kredi­te beim ESM aufzunehmen. Auch in diesem Zusammenhang blieb das Europä­ische Par­lament außen vor. Der ESM ist ein völker­recht­licher Vertrag außerhalb der EU-Insti­tutio­nen. Seine Entscheidungen werden vom EP nicht kontrolliert. Die Maßnahmen der EZB einschließlich des Pandemie-Notfallkaufprogramms (PEPP) unterliegen nicht der direkten Kontrolle des Europäischen Parla­ments.

Keine Rolle des EP beim Gipfelstreit

Das Herzstück der wirtschaftlichen Reaktio­nen auf die mittelfristigen ökonomischen Verwerfungen infolge der Pandemie soll aber mit dem nächsten MFR (2021–2027) und dem EU-Wiederaufbaufonds geschaffen werden. Gemäß der politischen Einigung des Euro­päischen Rats von Juli 2020 soll der MFR mit 1,8 Billionen Euro weit umfangreicher ausfallen als noch vor der Pan­demie geplant, inklusive eines Wieder­aufbau­fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte davon, nämlich 390 Milliarden Euro, soll als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten gegeben werden, der Rest als Kredite.

Für diesen Fonds soll die EU zudem in großem Stil eigene Schulden auf­nehmen können und neue Eigenmittel schaffen. Ob­gleich zeit­lich begrenzt, bedeutet die Kombi­nation aus diesen drei Komponenten für die Union einen Integrationsschritt, der vor der Pan­demie kaum denkbar gewesen wäre.

Formell hätte das Europäische Parlament bei den Verhandlungen zum MFR eine wichtige Rolle spielen sollen. Seit dem Lissabonner Vertrag bedarf nämlich nicht nur der jährliche Haushalt, sondern auch der Mehrjährige Finanzrahmen einer Zu­stimmung der Abgeordneten. Während des langen Vorlaufs der MFR-Verhandlungen hat sich das Parlament daher mit mehreren Resolutionen eingebracht. Darin haben die Parlamentarier vor allem ein höheres EU-Budget mit mehr Investitionsausgaben auf europäischer Ebene, neue Eigenmittel sowie einen robusten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gefordert.

An den eigentlichen politischen Verhandlungen von Mai bis Juli 2020 aber war das Parlament nur sehr begrenzt beteiligt. Deutschland und Frankreich, in enger Ab­stimmung mit Kommissionspräsidentin von der Leyen, starteten die politische Initiative, durch einen Wiederaufbaufonds mit Zu­schüssen die wachsenden Divergenzen in der EU zu bekämpfen. Die EU-Kommission schlug den umgebauten MFR vor. Im Euro­päischen Rat schließlich spielte sich die politische Auseinandersetzung über das Ver­hältnis zwischen Zu­schüssen und Kredi­ten sowie über die Eck­pfeiler des MFR ab. Beim entscheidenden Gipfel im Juli 2020, auf dem die Staats- und Regierungschefs und Kommissionspräsidentin von der Leyen fünf Tage und Nächte lang um diese Eck­pfeiler gerungen haben, war der EP-Präsi­dent nur zum Auftakt zu einem kurzen formellen Austausch geladen. Die wichtig­sten Konflikt- und Verhandlungslinien ver­liefen zwischen den Mitglied­staaten, und den politischen Beschluss fassten schließlich die Staats- und Regierungschefs.

Dieser Verhandlungsmodus spiegelt sich auch im Ergebnis wider. Zwar finden sich einige der Kernforderungen aus den EP-Resolutionen im tiefgreifend umgebauten MFR wieder, besonders das aufgestockte Volumen und die Aussicht auf neue Eigen­mittel. Dennoch erreichten die Staats- und Regierungschefs die Einigung auf Kosten des gesamteuropäischen Interesses. Gekürzt wurde in den Verhandlungen hauptsächlich in europaweiten Programmen (etwa im EU-Verteidigungsfonds sowie bei der For­schungsförderung, EU4Health und Erasmus), wäh­rend die Finanztransfers an die Mitglied­staaten und die nationalen Rabatte erhalten blieben. Außerdem bleibt die Aussicht auf neue EU-Eigenmittel äußerst vage, ebenso wie der Rechtsstaatsmechanismus.

Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen jedoch ist der MFR-Prozess noch nicht abgeschlossen. Die Staats- und Regierungschefs können im Europäischen Rat zwar den politischen Rahmen untereinander aus­handeln, aber die notwendige formelle Um­setzung erfordert eine Einigung mit dem Europäischen Parlament. Hierzu gehört sowohl der formelle MFR-Beschluss als auch die für den Wiederaufbaufonds nötige Re­form des EU-Eigenmittelbeschlusses. Dieses Mitentscheidungsrecht gibt dem Parlament den Hebel, im Herbst 2020 noch eigene Prioritäten für den Wiederaufbau­fonds und den MFR durchzusetzen.

Schlussfolgerungen

Spätestens seit 2010 durchläuft die Euro­päische Union eine Reihe von Krisen, die sich überschneiden und das institutio­nelle Gleichgewicht nachhaltig verändert haben. Wie in Euro- und Flücht­lingskrise hat das Europäische Parlament auch bei den politi­schen und wirtschaft­lichen Reak­tionen der EU auf die Corona­virus-Pandemie nur eine untergeord­nete Rolle gespielt. Das erklärt sich zum einen aus der Natur dieser Heraus­forderung. Gesundheitspolitik ist keine ori­ginäre EU-Zuständigkeit, und die meisten Maßnahmen zur Eindämmung der Pande­mie wur­den auf nationaler Ebene ergriffen und bestenfalls zwischen den Mitgliedstaaten innerhalb der EU-Gremien koordiniert.

Zum anderen zeigten sich die klassischen Muster europäischer »Krisenpolitik« aber auch in den Bereichen, in denen die EU über Zuständigkeiten verfügt. Zentrales Entscheidungsgremium und politische Bühne war der Europäische Rat, sämtliche Facetten der Krisenpolitik wurden zur »Chefsache«. Der Europäischen Kommission wurden weitere Durchführungsaufgaben übertragen, etwa bei der Kontrolle der Pro­gramme im Zuge des Wiederaufbaufonds. Gleichzeitig wurde die legislative Arbeit, bei der das Europäische Parlament volles Mit­spracherecht hat, auf ein Minimum redu­ziert. Selbst bei den Verhandlungen über die wichtigsten Weichenstellungen für den EU-Haushalt der nächsten Jahre, einschließlich der für EU-Verhältnisse revolutionären Elemente des Wiederaufbaufonds, wollen die Staats- und Regierungschefs im Europäi­schen Rat das EP vor vollendete Tatsachen stellen. Für neue Instrumente wie das Kurz­arbeitergeld SURE wurden flexible Instru­mente ohne EP-Beteiligung oder sogar der ESM genutzt, welcher außerhalb des EU-Rahmens angesiedelt ist.

Diese marginale Rolle ist nicht in erster Linie mit den logistischen Herausforderungen der Parlamentsarbeit während der Coronavirus-Pandemie zu begründen. Hier ist es dem Parlament relativ rasch gelungen, mit Hilfe einer Kombination von Videokonferenzen und Fernabstimmung die eigene Handlungsfähigkeit zu wahren, trotz der gerade für grenzüberschreitende politische Arbeit hohen Beschränkungen. In den Pro­zessen zur Anpassung des EU-Haushalts und zur Verabschiedung von Gesetzgebung hat das EP innerhalb sehr kurzer Zeit mit­tels Dringlichkeitsverfahren entschieden. Für diese haben die Fraktionen trotz der gewach­senen Fragmentierung des EP schnell klare Mehrheiten mobilisiert. In keinem Verfahren mit zwingender parlamentarischer Beteiligung war das Parlament ein Blockade- oder großer Verzögerungsfaktor.

Die EU braucht auch in Krisen eine Beteiligung des EP

Die tiefgreifenden Maßnahmen, welche zur Eindämmung und Bekämpfung der wirt­schaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie in der EU auf den Weg gebracht wurden, bedürfen auch auf europäischer Ebene einer stärkeren parlamentarischen Legitimation. Kurzfristig ist der Mehr­jährige Finanzrahmen mit dem Wieder­aufbau­fonds die entscheidende Bewährungsprobe für die Rolle des EP im institutionellen Gleichgewicht der EU.

Das formelle Zustimmungsrecht des EP steht der praktischen Vorentscheidung durch den Europäischen Rat gegenüber, in dem die nationalen Regierungen einen Kompromiss rund um die individualstaat­lichen Partikularinteressen gestrickt haben. Sie haben dabei auch und gerade in Berei­chen den Rotstift angesetzt, auf die das EP im gesamteuropäischen Interesse besonderen Wert legt. Es obliegt nun der deut­schen Ratspräsidentschaft, zwischen EP und Rat einen Kompromiss auszuhandeln, damit der MFR und vor allem die Finanzmittel des Wiederaufbaufonds pünktlich zur Ver­fü­gung stehen. Die mehrheitsbildenden Fraktionen (EVP, S&D, Renew Europe und Grüne/EFA) haben öffentlich erklärt, dem MFR nur zuzustimmen, wenn in puncto Rechtsstaatlichkeit und gesamteuropäische Programme nachgebessert wird. Wichtig wird es für die Abgeordneten auch sein, eine parlamentarische Kontrolle bei der Implementierung des Wiederaufbaufonds und den damit verbundenen nationalen Programmen zu schaffen. Der MFR-Beschluss ist zudem der Moment, in dem das Parla­ment Kommission und Mitgliedstaaten im Rat auf konkrete Details und einen festen Zeitplan für die anvisierten neuen Eigen­mittel verpflichten könnte.

Dabei stehen die Abgeordneten vor einem Dilem­ma: Nach der politischen Eini­gung im Europäischen Rat müsste das EP es in Kauf nehmen, für Verzögerungen im MFR und bei den Auszahlungen des Wieder­aufbau­fonds verantwortlich gemacht zu werden. Akzeptiert das EP hingegen die Vorentscheidung des Europäischen Rats, würden sich die Abgeordneten unglaubwürdig machen und ihre Mitbestimmungsrechte leichtfertig aufgeben.

Mittel- bis langfristig sollte die EU in der anstehenden »Konferenz zur Zukunft Euro­pas« auch thematisieren, wie die europäische Krisenpolitik besser parlamentarisch legitimiert werden kann. Nach einem ganzen Krisenjahrzehnt reicht es nicht mehr aus, auf Sonder- oder Notsituationen zu verweisen, wenn der Krisenmodus zum Normalzustand geworden ist. Zwei Mittel, die allerdings Vertragsänderungen voraus­setzen, könnten die Beteiligung des Parla­ments in Zukunft auch in Krisenzeiten weiter stärken. Zum einen sollte das Euro­päische Parlament ein Initiativrecht erhal­ten, welches das bisherige Vorschlagsmono­pol der Europäischen Kommission ergänzt. Auf diese Weise könnte das EP innerhalb, aber gewiss auch außerhalb von Krisen­zeiten im gesamteuropäischen Inter­esse handeln und mit eigenen Initiativen gesetz­geberische Reak­tionen der EU auf zentrale Herausforderungen vorschlagen.

Zum anderen sollten die Kriseninstrumente der EU um eine Beteili­gung des Europäischen Parlaments ergänzt werden. Solange in erster Linie nationale Ressourcen und Zuständigkeiten betroffen sind – wie beim ESM –, obliegt die parla­mentarische Kontrolle den nationalen Parlamenten. Werden aber EU-Instrumente genutzt, etwa das Kurzarbeitergeld SURE oder der EFSM, die beide über Art. 122 (2) AEUV geschaffen wurden, sollte das EP im Zuge der nächsten Vertragsänderung ein Zustimmungsrecht bekommen.

Krisen, in denen rasche Entscheidungen zu treffen sind, werden auf nationaler wie auf europäischer Ebene immer Stun­den der Exekutiven sein. Trotz oder gerade wegen der Dauerkrisen, welche die EU in den letz­ten Jahren durchlaufen hat, braucht die Union auch für ihre flexib­len Krisen­instru­mente eine parlamentarische Kontroll­instanz in Gestalt des EP. Dieses hat zudem während der Corona-Pandemie bewiesen, dass es selbst unter schwierigen Bedingungen schnell mitentscheiden kann.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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