China beobachtet die Ereignisse in der Ukraine sowie die Reaktionen der Nato und EU sehr genau. Die Schlüsse, die Peking daraus ziehen wird, dürften geopolitische Konsequenzen haben. In jedem Fall sind aber Auswirkungen auf die chinesische Taiwan-Politik zu gewärtigen, meint Volker Stanzel.
Putins Überfall auf die Ukraine war für Chinas Staatschef Xi Jinping bereits in den ersten Tagen und mit Blick auf drei Aspekte lehrreich. Zum einen für die Beurteilung von Chinas sogenannter strategischer Partnerschaft mit Russland: Das Land bleibt ein wirtschaftlich schwacher, aber militärisch sehr gut gerüsteter und politisch unberechenbarer Partner. Zum anderen für eine Neubewertung der chinesischen Beziehungen zu den USA und ihren Verbündeten: Diese erweisen sich, mit der Nato und der EU, als kompetent im Umgang mit der Krise. Schließlich kann Chinas Strategie, einen Anschluss Taiwans an die Volksrepublik zu erzwingen, grundlegend betroffen sein.
Putins gemeinsamer Auftritt mit Xi bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking sollte als Warnung an den Westen verstanden werden: Wer sich in Fragen wie der der Ukraine den einen zum Gegner mache, müsse auch mit dem andern rechnen. Bisher lässt sich nicht sagen, ob Chinas Führung von der anfänglichen und vielleicht nur scheinbaren Schwäche des russischen Truppenvormarschs überrascht war. Die anschließenden Erfolge an der ukrainischen Front dürften Peking aber gezeigt haben, dass weder Russlands militärische Fähigkeiten noch Putins Siegeswillen zu unterschätzen sind. In kaum variierenden Stellungnahmen bewegt sich Peking bisher verbal geradezu artistisch zwischen dem Bekenntnis, man stehe zum traditionellen chinesischen Grundsatz der territorialen Unverletzlichkeit aller Staaten, und der » Anerkennung der besonderen Situation der Ukraine«: nach fünfmaliger Osterweiterung der Nato habe Russland ein Recht darauf, dass seine legitimen Sicherheitsforderungen berücksichtigt würden. Mit der Enthaltung im UN-Sicherheitsrat und bei der Verurteilung Russlands durch 141 Staaten durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen schließlich rückte Peking vorsichtig, aber endgültig an die Seite Putins. Die präzise durchdachte Ausbalancierung der Kommentare Pekings zum Ukrainekrieg spiegelt eine Mischung aus Reserviertheit gegenüber und dem Schulterschluss mit einem nicht ganz berechenbaren und gefährlichen, aber in vieler Hinsicht nützlichen Partner.
Aus chinesischer Sicht zieht ein gesellschaftlicher und politischer Niedergang der USA sich nun schon über drei Präsidentschaften hin. Diese Einschätzung ist zugleich noch immer temperiert durch den Respekt für die wirtschaftliche, technologische und militärische Leistungsfähigkeit der anderen Supermacht. Dazu kommt die Furcht vor schwer verständlichen, in der Innenpolitik wurzelnden Entwicklungen in Washington, die Pekings Strategien riskant machen können: Da ist ein taumelnder, aber möglicherweise unvermittelt um sich schlagender Riese. Mehr als die Kriegführung Putins dürfte daher die schnelle und effektive Reaktion des Westens die chinesische Führung überrascht haben. Einerseits ließen die USA und ihre Verbündeten sich nicht auf Putins Drohgebärden ein, andererseits entschieden sie unerwartet rasch über wirksame Sanktionen. Peking dürfte diese westliche Reaktion nun auch für den Fall ihrer möglichen Bedeutung für das eigene Land analysieren.
Auch die sonst chronisch zerstrittene EU durchlief einen raschen Prozess der Einigung auf umfassende Maßnahmen, von der Hilfe für die Menschen auf der Flucht über Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Moskau – denen sich selbst die Schweiz anschloss – bis zu Waffenlieferungen an Kiew. Die Fähigkeit zu raschen und weitreichenden gemeinsamen Beschlüssen zeigte sich ähnlich auch in der Nato, in der keine Zerwürfnisse und auch kein aufdringliches Dominanzverhalten der USA zu erkennen waren; selbst die Türkei sperrte den Bosporus.
Eine Pekinger Neubewertung der eigenen Strategie für den Umgang mit sowohl den USA als auch der EU wäre daher nicht verwunderlich. Man muss nun mit einem stärkeren und geeinigteren Westen rechnen, als es die Pekinger »Wolfsdiplomatie« in den vergangenen Jahren angenommen hatte. Ob diese Analyse zu mehr Zurückhaltung auf der internationalen Bühne oder erst recht zu robustem Auftreten führen wird, ist unklar, in jedem Fall wird sie sich auch auf die chinesische Taiwan-Politik auswirken.
In den ersten Tagen nach Beginn des Ukrainekriegs wurde das chinesische Internet noch überschwemmt von patriotischen Stimmen – oft der maoistischen »Linken« zuzurechnen –, die den »Großen Zar« Putin bewunderten und die KP aufforderten, dem russischen Vorbild zu folgen: Taiwan sei Chinas Ukraine, und wie Putin anfangs mit dem Donbass, so sollte China mit den dem Festland vorgelagerten taiwanischen Inseln Kinmen und Matsu verfahren. Die sich bald abzeichnende Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte gegenüber der gut gerüsteten Armee einer Großmacht wirkte offenbar auf die Lehnsessel-Generäle im chinesischen Internet ernüchternd. Unterdessen schwenkten die chinesischen Medien auf die gleiche Linie ein wie die russischen, und die Internet-Stimmen folgten nach: Die USA seien es, die, gemeinsam mit der Nato, Russland über Jahrzehnte unerträglich provoziert hätten, etwa mit der Nato-Osterweiterung, so, wie sie China im Fall Taiwans provozierten.
Auch wenn dies die Haltung der chinesischen Medien bleibt, dürfte die Führung in Peking ihre Taiwan-Politik im Licht der Ereignisse überdenken: Die kleine Insel ist vielleicht doch nicht, wie es der chinesische Generalstab angeblich anlässlich des Parteitags 2017 Xi Jinping vorgelegt haben soll, innerhalb von 100 Stunden zu erobern. Und der Westen wird vielleicht doch nicht, uneinig und ineffektiv, zuschauend am Rand der Bühne stehen bleiben, wenn die Volksrepublik die Insel »heim ins Reich« holt. Ob die KP nun wieder auf eine stärkere Betonung diplomatischer Maßnahmen setzt, um das Ziel der Vereinigung Taiwans mit dem Festland unter kommunistischer Führung zu erreichen, wird sich sehr bald herausstellen.