Im Jahr 2019 erinnert China in mehreren runden Jahrestagen an politisch bedeutsame Ereignisse seiner jüngeren Geschichte: die 4.‑Mai-Bewegung (100 Jahre), die Gründung der Volksrepublik China (70 Jahre), den Tibetaufstand (60 Jahre), den Beginn der Reform- und Öffnungspolitik (40 Jahre) und das Massaker auf dem Tiananmen-Platz (30 Jahre). Wie China dieser Ereignisse offiziell gedenkt – oder eben nicht gedenkt –, wiegt für das Land innen- und außenpolitisch schwer. Die staatlicherseits konstruierte Deutung der Geschichte richtet sich als Machtanspruch nicht nur an die eigene Gesellschaft, sondern auch an die mit China interagierenden ausländischen Partner, insbesondere Regierungen und Unternehmen. Das Verschweigen problematischer Geschehnisse der Vergangenheit ist nicht zuletzt deshalb bedenklich, weil es die Gefahr erhöht, dass sich historische Fehler wiederholen.
Die Europäische Union (EU) hat die Volksrepublik (VR) China in ihrem Strategiepapier vom März 2019 als Kooperations- und Verhandlungspartner, als Konkurrenten und als »systemischen Rivalen« bezeichnet. Die Kluft zwischen den politischen Systemen und zwischen den Visionen für eine internationale Ordnung und deren Werte verdeutlicht die Rivalität der Systeme.
Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) beschränkt sich nicht darauf, Chinas Gesellschaft in der Gegenwart zu kontrollieren, sondern dehnt die Kontrolle auch auf die Geschichte des Landes aus. Unter anderem indem sie die Erinnerung an historische Ereignisse ideologisiert, legitimiert die KPCh ihre Herrschaft. Letztere erscheint so als zwangsläufiges und durchweg positives Ergebnis einer langen Geschichte. Diese Ideologisierung der eigenen Geschichte erschwert die Zusammenarbeit mit China. Denn auch Chinas Partner sollen akzeptieren, wie die historischen Fakten verschwiegen, verdrängt oder umgedeutet werden und dass dadurch Politik und Gesellschaft der Gegenwart in einem für die KPCh günstigen Licht erscheint. Chinas Führung erwartet, dass das offizielle Geschichtsbild zumindest anerkannt, besser noch explizit als legitim bestätigt wird.
Universelle Werte wie Demokratie und Menschenrechte, die in verschiedenen Phasen von Chinas jüngerer Geschichte eine wichtige Rolle spielten, werden gezielt verschwiegen und können daher nicht mehr als Berufungsgrundlage für den Austausch mit China dienen – wie etwa im Ausschuss für soziale, humanitäre und kulturelle Fragen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) oder im VN-Menschenrechtsrat. Die Volksrepublik vertritt ein Narrativ von Menschenrechten, das kollektive soziale und wirtschaftliche Menschenrechte in den Vordergrund rückt, aber die zivilen und politischen Menschenrechte ebenso ausblendet wie den Anspruch von Menschenrechten, das Individuum gegen die Autorität des Staates zu schützen. Im internationalen Menschenrechtsdiskurs, etwa in den VN, konfrontiert der »systemische Rivale« China den Westen nicht zuletzt unter Rückgriff auf die eigene Geschichtsinterpretation mit seiner Version von Demokratie und Menschenrechten.
Historische Narrative bilden den Kern der nationalen Identität Chinas. Die Zugehörigkeit zu einer jahrtausendealten Zivilisation, die sich einst selbst im Zentrum des Universums verortete, prägt das Bewusstsein der Menschen im Land. Nicht vergessen ist, dass der Weg in die Moderne durch einschneidende politische und gesellschaftliche Brüche gekennzeichnet war, durch die Erfahrung der Rückständigkeit gegenüber dem Westen und Japan, durch wirtschaftliche Ausbeutung und militärische Invasion.
Vor diesem Hintergrund sind in Chinas Politik und Gesellschaft wirkmächtige geschichtliche Deutungen etabliert worden, die Orientierung vermitteln und die politische Herrschaft der KPCh legitimieren. Eines dieser Narrative lautet: Ein einiges, starkes, nationalbewusstes und zentralistisch regiertes China sei notwendig, um einerseits das Chaos, die Verwüstungen und Demütigungen aus der Zeit vor der Machtergreifung der KPCh zu vermeiden, andererseits das Land vor den Hegemonialansprüchen des Westens zu bewahren.
Im Zuge der Öffnungspolitik seit Ende der 1970er Jahre strömten aus Sicht der Partei subversive politische Ideen und religiöse Botschaften ins Land; mit der marktwirtschaftlichen Transformation bildete sich ein ideologisches Vakuum. Um den eigenen Herrschaftsanspruch erneut zu legitimieren, musste anstelle des in der Praxis gescheiterten Marxismus-Leninismus ein neues Paradigma geschaffen werden. Nichts eignete sich dafür besser als der Rekurs auf Nation und Geschichte. Die unter Mao Tsetung systembegründend angelegte Kritik an Feudalismus und Imperialismus der Kaiserzeit bestimmte nicht länger den Diskurs und trat allmählich in den Hintergrund. Die früher einst verpönten und teilweise verbotenen Traditionen wurden nun als kulturelles Erbe der Menschheit gewürdigt, die wenigen verbliebenen Relikte aus der Kaiserzeit wurden aufwendig restauriert. Die »korrekte« Interpretation der Geschichte bildete in Schulen, Universitäten, in der Kaderausbildung und in öffentlichen Gedenkveranstaltungen einen neuen politischen Schwerpunkt.
Xi Jinping gründet wie kein Staats- und Parteiführer vor ihm seinen Herrschaftsanspruch und die Legitimität der Partei auf die Geschichte Chinas. Xi Jinping selbst zelebriert sich als Wahrer der Tradition des guten Regierens zum Wohle des Volkes. Galt unter Mao Tsetung der Konfuzianismus als das Grundübel schlechthin, besuchte Xi Jinping den Ort Qufu, die Geburts- und Wirkungsstätte Konfuzius’, und fügt Zitate aus seinen Lehren in die offizielle Rhetorik ein.
Die Kenntnis der mit den Jahrestagen verbundenen Ereignisse und ihrer Interpretation im heutigen China zeigt: Deutsche und europäische Politik steht bei der Kooperation mit dem Land vor (zusätzlichen) Herausforderungen – die oft übersehen werden.
1919: Die 4.‑Mai-Bewegung – Der Wunsch nach Selbstbestimmung und politischen Reformen
Die 4.‑Mai-Bewegung war eine landesweite Bewegung von Studenten, der sich nach und nach weitere Teile der Bevölkerung anschlossen. Sie richtete sich in erster Linie gegen die Kolonialisierung Chinas durch ausländische Mächte; weitere Forderungen zielten auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung des Landes. Ihren Höhepunkt fand sie am 4. Mai 1919, als sich etwa 3000 Studenten zu Protesten auf dem Tiananmen-Platz in Peking versammelten. Auslöser war der Vertrag von Versailles, in dem China die Rückgabe der deutschen Kolonien in Shandong verweigert wurde; stattdessen fielen die Besitzungen an Japan. Die Proteste führten dazu, dass sich die chinesische Regierung weigerte, den Vertrag zu unterschreiben.
Xi Jinping hat in einer Rede am 30. April 2019 zum hundertjährigen Jubiläum die 4.‑Mai-Bewegung mit der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas und der Volksrepublik verknüpft. Drei Punkte sind bezeichnend für seine Deutung:
Zum Ersten etabliert er eine historische Kontinuität, die die 4.‑Mai-Bewegung als Vorläuferin der KPCh darstellt, die nur zwei Jahre danach gegründet worden ist. Einige spätere Gründer der KPCh waren in der Bewegung aktiv; viele andere Beteiligte hingegen hatten mit ihr nichts zu tun.
Zum Zweiten erklärt er Nationalismus zum Kern der 4.‑Mai-Bewegung. Die Essenz des chinesischen Nationalismus bilde die Liebe zur Nation und zur Partei, beides sei die wichtigste Pflicht aller Chinesen. Sein eigenes Konzept des »chinesischen Traums der großen Wiederauferstehung der chinesischen Nation« stellt Xi Jinping in die Tradition des 4. Mai.
Zum Dritten ignoriert er die Vielfalt der politischen Forderungen der Bewegung, zum Beispiel nach »Mr. Democracy« und »Mr. Science«. Die Forderung nach Demokratie umfasste die Verwirklichung von Menschenrechten. Ziel war eine Modernisierung der chinesischen Politik und Gesellschaft; westliche Demokratie und Wissenschaft wurden als Instrumente hierfür angesehen.
Hauptadressat der Rede Xis ist die junge Generation Chinas, die sich in den Dienst von Nation und Partei stellen und der es bei der Realisierung des chinesischen Traums an Kampfgeist nicht mangeln sollte. Was in Xis Interpretation nicht vorkommt: die Geschichte des 4. Mai als einer regierungskritischen Bewegung, die politische Reformen, Demokratie und eine moderne Wissenschaft nach westlichem Vorbild forderte. An dieses alternative Narrativ der 4.‑Mai-Bewegung knüpften die Studierenden im Jahr 1989 an. Aus der Perspektive vieler Intellektueller des chinesischen Kulturraums findet sich das wahre Erbe des 4. Mai heute auf Taiwan wieder, der ersten und bislang einzigen chinesischen Demokratie.
1949: 1. Oktober – Die Identität der Volksrepublik
»China ist aufgestanden.« Mit dem berühmten Satz Mao Tsetungs zur Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 stellte sich die Frage der Identität des neuen Staates. Ist das alte China wieder auferstanden, das Kaiserreich, die seit über 2000 Jahren immer wieder in die Vergangenheit projizierte Fiktion eines zivilisatorischen Ideals? Oder ist es das »weiße Blatt Papier«, das Mao ganz neu beschreiben wollte, ein marxistisches Staatswesen, befreit von alten Traditionen?
Diese Frage ist im Verlauf der 70-jährigen Geschichte der VR immer wieder neu beantwortet worden; die unterschiedlichen Antworten spiegeln die oft gewaltsame Auseinandersetzung um die Orientierung der KPCh und des Landes wider. Identitätsstiftend für das neue China wirkte zunächst Maos Ehrgeiz, Vorreiter der Weltrevolution zu sein, und zwar noch vor der Sowjetunion. In der VR folgten die Zerschlagung des »Feudalismus« (Grundbesitzer, Bourgeoisie und Industrielle), die Bodenreform (mit der Enteignung der Landbesitzer) und der Kampf gegen die »Konterrevolutionäre« (also vor allem die Intellektuellen). Zugleich unterstützte sie maoistische revolutionäre Bewegungen, wo immer sie entstanden. Für das Ausland war dieses China in der Tat ein neues; die Mehrheit der Staaten unterhielt aber diplomatische Beziehungen zum alten China, demjenigen Tschiang Kai-scheks, das allerdings nur noch auf Taiwan existierte.
Die Identitätsfrage wurde mit weiteren Einschnitten erneut akut: mit den Hungersnöten des »Großen Sprungs nach vorne« ab 1958 und mit der Kulturrevolution von 1966 bis 1976, hinter der sich ein parteiinterner Machtkampf verbarg. Sie richtete sich zugleich gegen konfuzianische und religiöse sowie andere kulturelle Traditionen. 1979 wendete sich die KPCh unter Deng Xiaoping kategorisch ab von jedweden marxistisch begründeten Gesellschaftsexperimenten und dem Ehrgeiz, die Weltrevolution anzuführen. Der Partei ging es nur mehr um den Erhalt ihrer Macht, derweil die Bürger – »reich werden ist ruhmreich« – auf eigene Faust wirtschaften durften. Politische Reformversuche, wie sie um 1980 und mit den Aufständen des Jahres 1989 unternommen wurden, wurden im Keim erstickt. Für die Partner Chinas war es eine »normale« Zeit: Mit dem Land ließ sich umgehen, ohne dass man sich mit alten oder neuen Narrativen auseinandersetzen musste. Währenddessen führten die freigesetzten privatwirtschaftlichen Energien zu raschem und immer dynamischerem Wirtschaftswachstum und damit zur heutigen Stellung Chinas als zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde.
Xi Jinping schließlich, seit 2012 an der Macht, hat die Phase der von Deng Xiaoping etablierten kollektiven Führung und die größte innenpolitische Krise seit 1989 beendet. Er hat sämtliche Macht in seiner Hand konzentriert, nun als Führer einer neuen Weltmacht. Sein Ziel ist, das »Aufstehen« Chinas zu verwirklichen und die Herrschaft der KPCh mit Hilfe der Erinnerung an seine ältere Geschichte zu zementieren. Mit der Verknüpfung von »marxistischer Theorie und traditioneller chinesischer Staatsführung« soll das Land den »chinesischen Traum« realisieren, seinen »rechtmäßigen Platz in der Welt« wieder einnehmen. Damit wird es für seine Partner komplizierter: Von ihnen verlangt die KPCh implizit oder explizit immer wieder die Anerkennung, dass China ein »Jahrhundert der Scham« (bzw. »Demütigung«) aufgezwungen bekommen hat, das es nun auszugleichen gilt. Dies ist eins der zentralen Elemente des derzeit herrschenden Narrativs, weil sich mit ihm Forderungen nach Sonderbehandlung begründen lassen – einer Sonderbehandlung, die sonst in einer internationalen Ordnung keinen Platz hat, da Letztere auf dem Grundsatz gleichberechtigter souveräner Staaten beruht.
»In diesem Moment sind die Chinesen aller ethnischen Gruppen und alle Söhne und Töchter der chinesischen Nation im In- und Ausland stolz darauf und gratulieren unserem großen Mutterland mit großer Freude«, sagte Xi Jinping am 1. Oktober 2019 auf dem gleichen Balkon, von dem aus Mao 1949 die Gründung der Volksrepublik verkündet hatte. Mit der größten Militärparade in der Geschichte der VR führte die KPCh der Welt die Stärke Chinas vor Augen – und zugleich dem eigenen Volk die Stärke der Partei. Die 70 Jahre sind also sowohl eine Geschichte des Aufstiegs einer Nation als auch eine bemerkenswert erfolgreiche Geschichte der Machterhaltung einer Partei. Diese versucht nun, die Frage nach ihrer Identität zwischen dem alten und dem neuen China mit einem umfassenden Blick auf die Geschichte zu beantworten. Anlässlich des Jubiläums des 1. Oktober fasste es der Staatsrat der VR in einen einfachen Satz: »Auf der Grundlage der 5000-jährigen Kultur Chinas […] hat sich das chinesische Volk den Weg des Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken eröffnet.«
Die Welt beobachtet Chinas Aufstieg mit unterschiedlichen Erwartungen, mit Bewunderung und Besorgnis. Für die Partner Chinas spielt die Frage nach der Identität des Landes ebenso eine Rolle, in welchem historischen Selbstbild sie auch wurzelt. Ihnen geht es darum, ob die neue Weltmacht die Erfahrung und die Möglichkeiten hat, jene internationale Verantwortung zu übernehmen, die sich aus Macht und Wirtschaftskraft ergeben sollte.
1959: Tibet – Kontroverses Gedenken
Am 10. März 1959 begann in Lhasa der »Tibetaufstand«, der schätzungsweise 87 000 Menschen das Leben kostete und in dessen Verlauf der Dalai Lama ins Exil nach Indien floh. Der Aufstand richtete sich gegen die chinesische Präsenz in Tibet und die Annexion durch die Volksrepublik im Jahr 1951. In Erinnerung an den Tibetaufstand begehen im Exil lebende Tibeter weltweit am 10. März den »Tibetan Uprising Day«.
Demgegenüber könnte die Interpretation dieses kritischen Moments in Tibets Geschichte, des März 1959, in China und in der zu China gehörenden Autonomen Region Tibet gegensätzlicher kaum sein. Öffentlich begangen wird seit 2009 der »Gedenktag zur Befreiung von Millionen von Leibeigenen in Tibet«. Er erinnert an die Absetzung der tibetischen Regierung durch chinesische Truppen am 28. März 1959 – eben in Reaktion auf den am 10. März begonnenen Aufstand der Einheimischen. Die damit vollzogene vollständige Übernahme der Regierungsgewalt in Lhasa durch China deuten chinesische Medien konsequent als demokratische Reform und emanzipativen Akt. In offizieller Lesart ist Tibet ohnehin seit 700 Jahren ein Teil Chinas. Dabei sind der genaue Ablauf der Ereignisse und ihre Interpretation bis heute unter chinesischen und ausländischen Historikern umstritten. Für das offizielle China ist die Wahrung der historischen Deutungshoheit Staatsräson.
1978/79: Reform- und Öffnungspolitik – Eigenlob für Partei und Parteiführer
1979 geschah im System der Planwirtschaft des real existierenden Sozialismus der VR China etwas Unerhörtes: Während die Abnahmepreise für Agrargüter drastisch heraufgesetzt wurden, erhielten die Produktionsgenossenschaften weitreichende Managementautonomie. Letztere Maßnahme, beschlossen am 18. Dezember 1978 auf dem dritten Plenum des 11. Zentralkomitees der KPCh, sollte zum offiziellen Startschuss werden für die nunmehr 40 Jahre andauernde, ungemein erfolgreiche Systemtransformation, für die marktwirtschaftliche Entwicklung, Industrialisierung und Modernisierung Chinas. Im Zuge der weiteren Entwicklung stieg die Reis- und Getreideproduktion in einem Maße an, dass die Nahrungsmittelknappheit im Land ein Ende fand. Die Fortschritte in der Landwirtschaft zogen Reformen in anderen Sektoren nach sich. Mit der Einführung von Märkten, Wettbewerb und privatem Unternehmertum sowie der Öffnung für Direktinvestitionen entstand eine historisch beispiellose Wachstumsdynamik, die Armut beseitigte und die letztlich Chinas Aufstieg zur Weltmacht begründete.
Bereits seit Jahresbeginn 2018 erinnerten unzählige Tagungen und Konferenzen an die bahnbrechende Sitzung des dritten Plenums und zelebrierten die inzwischen vier Jahrzehnte anhaltende Erfolgsgeschichte Chinas. Vielbeachtete Ausstellungen in Peking und Shenzhen huldigten der grundlegenden Bedeutung der Ereignisse für die Wegbereitung und Entstehung des »Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter«. Vollkommen unerwähnt im öffentlichen Gedenken bleibt allerdings, dass die Reprivatisierung der Landwirtschaft und das Aufkommen von Bauernmärkten eine ganz spontane Bewegung »von unten« war: Sie wurde von einer Landbevölkerung getragen, die ernüchtert war von maoistischer Indoktrination und impraktikablen planwirtschaftlichen Vorgaben bei nachlassender staatlicher Kontrolle; sie wollte wieder eigenverantwortlich wirtschaften. Auffällig ist weiterhin, dass stets betont wird, es gebe eine bis in die Gegenwart reichende ungebrochene Kontinuität. So wird weder die zeitweise auf Tiananmen folgende Unterbrechung des Reformprozesses (1989–1991) thematisiert noch ihr etwa 2012 einsetzender partieller Rückbau. Gezielt hervorgehoben wird die führende Rolle von Staatspräsident Xi Jinping als legitimem und verantwortungsvollem Sachverwalter des reformpolitischen Erbes.
Zum 40. Jahrestag am 18. Dezember 2018 würdigte Xi Jinping in seiner Rede vor dem Staatsrat den Beschluss des dritten Plenums als Wendepunkt in der Geschichte der Volksrepublik; er stellte ihn in eine Reihe mit der Gründung von Partei (KPCh, 1.7.1921) und Staat (VRCh, 1.10.1949). Xi pries die 40 Jahre erfolgreiche Reform- und Öffnungspolitik als Beweis dafür, dass Strategie und Führung der Partei immer korrekt waren.
Zweifellos verdienen das historisch beispiellose wirtschaftliche Wachstum Chinas, das 1979 begonnen hat, und die dadurch möglich gewordenen sozialen Errungenschaften Anerkennung. Die Partei und insbesondere Deng Xiaoping, der für die Durchsetzung der Reformen verantwortlich war, haben eine wichtige Rolle in dem Prozess gespielt. Kaum haltbar ist hingegen, dass der zentralistische Kontroll- und Führungsanspruch der Partei derart herausgestellt wird. Denn charakteristisch und wohl auch erfolgsentscheidend für den Reform- und Öffnungsprozess war ja gerade die Dezentralisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen, die Schaffung von materiellen Anreizen für Manager und Funktionäre auf lokaler Ebene. Während Produktions-, Investitions- und Absatzentscheidungen autonom getroffen wurden, konnten die Parteisekretäre weitgehend über das lokale Steueraufkommen verfügen und maßgeblich die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik vor Ort festlegen. Die große Leistung der zentralen Ebene bestand vielmehr in Folgendem: Sie stemmte sich der um sich greifenden Privatisierungswelle nicht entgegen, sie gestand der lokalen Ebene die Freiheit zu, Reformexperimente zu wagen, und sie förderte diejenigen Reformschritte landesweit, die positive Ergebnisse zeitigten. Darüber hinaus richtete sie die Beförderung von Funktionären in Partei und Staat am erzielten Wachstumsergebnis aus und behinderte den Reformprozess nicht durch eine einengende zentrale Reformstrategie.
Wenn nun Staat und Partei die Wirtschaft und selbst unternehmerische Entscheidungen wieder zunehmend zentralistisch bestimmen, ist es bezeichnend, dass der Kontroll- und Führungsanspruch der Partei als ausschlaggebend für den Reformprozess angesehen wird – doch diese Darstellung verfälscht die Geschichte. Die fehlende Würdigung der individuellen Beiträge von Bauern, Unternehmern und Managern für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg verdeutlicht den systemischen Gegensatz zum Modell der pluralistischen westlichen Marktwirtschaft.
1989: Der 4. Juni auf dem Tiananmen-Platz – Erinnern und Vergessen
1987 wurde der damalige Generalsekretär der KPCh, Hu Yaobang, zum Rücktritt gezwungen: In den Augen Deng Xiaopings war er zu liberal. Hus Tod am 15. April 1989 führte zu landesweiten Trauerkundgebungen, die rasch in eine massive Protestbewegung mündeten, die Millionen Menschen in vielen Städten Chinas mobilisierte und ihr Zentrum auf dem Tiananmen-Platz in Peking fand. Jugendliche, Arbeiter und andere Bürger forderten politische, wirtschaftliche und soziale Reformen: allen voran die Bekämpfung der Korruption und mehr politische Partizipation.
Am 20. Mai verhängte die Führung das Kriegsrecht und machte damit den Weg frei für den Einsatz des Militärs. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni kam es dann zu den Massakern der Soldaten an der chinesischen Zivilbevölkerung in Peking, vor allem in Zufahrtsstraßen zum Tiananmen-Platz, als die Bürger sich den Panzern und Soldaten in den Weg stellten. Das Chinesische Rote Kreuz schätzte die Zahl der Opfer auf etwa 2600 und zählte etwa 7000 Verwundete. Auch in anderen Orten Chinas gab es Berichten zufolge Hunderte Opfer, die genauen Zahlen sind jedoch unbekannt; die offizielle Zahl der Todesopfer beträgt 187. Tausende weitere Demonstranten wurden in den folgenden Tagen und Wochen inhaftiert – oft für Jahre. Einige flohen ins Ausland und halten dort bis heute die Erinnerung an die blutige Niederschlagung aufrecht.
Nach dem 4. Juni war es das Ziel Deng Xiaopings, rasch zur Normalität zurückzukehren, sprich zu wirtschaftlichem Aufbau und solider politischer Kontrolle des Landes. Die linken Gegner der Wirtschaftsreformpolitik Dengs sahen die Gelegenheit, die gesamte Politik und den Pragmatismus von »Reform und Öffnung« schuldig zu sprechen für die Hintanstellung marxistischer Prinzipien, die ihnen an Dengs Politik nicht passte. Deng selbst sah noch eine andere Gefahr: die der Zerrüttung der Partei von innen durch diejenigen, die politische Reformen befürworteten – ähnlich wie es gerade in der Sowjetunion unter Gorbatschow geschah. Sich allzu lange mit der Bewältigung des Aufstands zu beschäftigen, schien die Rückkehr zur Deng’schen Linie kontrollierter Wirtschaftsreformen zu gefährden. Jegliche Auseinandersetzung mit dem 4. Juni wurde verhindert. Sogar das erste Narrativ einer besiegten Konterrevolution wurde schnell vom allgemeinen Schweigen zugedeckt.
Wie kaum ein anderes Ereignis in den letzten 30 Jahren hat das brutale Ende der Proteste die KP Chinas, die externe Wahrnehmung der Volksrepublik und den Umgang mit Dissens und Kritik innerhalb der Partei und des Landes geprägt. Für die chinesische Führung selbst ist das Schweigen über die Tiananmen-Vorfälle allerdings Teil des Erfolgs ihrer Politik: »Nach dem Zwischenfall verfolgte die chinesische Regierung die Linie, ihn nicht zu diskutieren, egal was der Westen sagte. Diese Haltung Chinas half dem Land, die Krise bald hinter sich zu lassen und rasche Wirtschaftsentwicklung zu erreichen.« Da in China alle Berichte über die Geschehnisse von 1989 zensiert werden, ist dem Großteil der Bevölkerung weder das Vorgehen der KPCh auf dem Tiananmen-Platz wirklich bewusst noch seine Bedeutung für die innere Entwicklung und äußere Wahrnehmung des Landes. Heute führt die digitale Zensur in China dazu, dass von den Erinnerungen der Zeitzeugen nur noch Schatten bleiben. Die »Mütter vom Tiananmen-Platz«, die das Andenken an ihre ermordeten Kinder bewahren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen, können sich öffentlich nicht äußern. Und noch im April dieses Jahres wurden einige Studenten in der Provinz Sichuan zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, als sie in versteckter Form die Niederschlagung der Tiananmen-Proteste thematisierten.
Tiananmen birgt bis heute eine doppelte Symbolik: zum einen für einen alternativen demokratischen Entwicklungsweg Chinas, der (bislang) nicht beschritten worden ist; zum anderen für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die seit Gründung der VR essentieller Bestandteil der autoritären Herrschaft der KPCh sind. In der Ära Xi Jinping können die Menschen Dissens nur noch individuell äußern, wobei sie in Kauf nehmen müssen, dafür verfolgt zu werden. Jede Form von kollektiver politischer Mobilisierung, sei es in Form von Organisationen oder Demonstrationen, ist außerhalb der Kontrolle der KPCh unmöglich geworden. Deshalb ist gegenwärtig Hongkong der einzige Ort in der VR, an dem ein Einsatz des Militärs in größerem Umfang zu befürchten wäre: Nur dort dürfen die Menschen noch frei protestieren – dank seines noch fortdauernden besonderen Status unter der Bezeichnung »Ein Land, zwei Systeme«.
In Hongkong gibt es eine vielfältige Gedenkkultur mit Bezug auf den 4. Juni. Denn hier leben geflüchtete Dissidenten aus der Volksrepublik, die seinerzeit der chinesischen Armee entkamen. Auch die prekäre Situation der Sonderverwaltungszone hält das Gedenken an Tiananmen lebendig. Durch die stückweise Reduzierung der verbliebenen Autonomie Hongkongs sieht seine Bevölkerung die Gewalt einer Regierung näher rücken, die den 4. Juni vor 30 Jahren zu verantworten hat. Dies erklärt zum Teil die Protestbewegung, die sich im Frühsommer dieses Jahres entzündete am Vorhaben eines Gesetzes über die Auslieferung von vermuteten Straftätern an die VR und die bis heute unverdrossen anhält. Sie richtet sich vor allem gegen die zunehmende Dominanz Pekings im Hongkonger Alltag.
Chinas eigener Weg liegt darin, das Vergessen zu erzwingen. Deng unterdrückte jedes Gedenken an die Opfer des 4. Juni, sofern es nicht ausschließlich privat geschah. Er schuf sich damit Raum, die Ideologen im Zaum zu halten und die Wirtschaftsreformpolitik fortzuführen. Damit brachte er China auf den Weg dorthin, wo es sich heute befindet. Dem Ziel des Aufstiegs ist vieles zum Opfer gefallen. Die Erinnerung an den 4. Juni 1989 gehört dazu.
Geschichte als Konstrukt
Chinas Umgang mit seinen runden Jahrestagen, das öffentliche Gedenken 2019, zeigt sehr unterschiedliche, sich ergänzende Vorgehensweisen.
Geschichte wird verschwiegen, wie ganz augenscheinlich das Massaker vom 4. Juni um den Tiananmen-Platz. Weniger offensichtlich ist, dass im offiziellen Gedenken die Forderungen nach Demokratisierung und Modernisierung in der 4.‑Mai-Bewegung ausgeklammert werden und dass die Beiträge der Menschen für den Erfolg des chinesischen Reformprozesses nicht gewürdigt werden.
Geschichte wird instrumentalisiert, gedeutet und umgedeutet. So ist die Interpretation, die 4.‑Mai-Bewegung sei im Kern nationalistisch und eine Vorläuferin der KPCh, sehr einseitig, wenn nicht gar eine falsche Auslegung der Ereignisse des Jahres 1919. Auch Chinas Wachstumserfolge der letzten vier Jahrzehnte dem zentralistischen Kontroll- und Führungsanspruch der Partei glorifizierend zuzuschreiben, wird der Wirklichkeit des Reformprozesses nicht gerecht. Nicht zuletzt entspricht Chinas offizielle Sicht auf Tibet kaum den historischen Tatsachen.
Umfassend, über die Etablierung historischer Narrative hinausgehend, ist schließlich die Politisierung von Geschichte. Unter Rückgriff auf Chinas imperiale Vergangenheit wird die wiederkehrende Frage nach der historischen Identität der Volksrepublik heute nationalistisch beantwortet. Dass das System des Sozialismus chinesischer Prägung und der gegenwärtige politische Aufstieg des Landes im Einklang mit Chinas Zivilisation und Geschichte stehen, ist nach innen Selbstvergewisserung, nach außen eine machtvolle Propagandabotschaft. Geschichte wird zum Instrument der Machtausübung und der Außenpolitik.
Auf die deutsche und europäische Außenpolitik hat Chinas Geschichtsnarrativ damit unmittelbare Auswirkungen. Die Zahl der für die chinesische Regierung sensiblen Themen steigt; die Kontrolle über die Geschichtsschreibung ist hierfür ein Beispiel. Peking erwartet, dass nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch seine ausländischen Partner den chinesischen Narrativen folgen, mit all ihren Verästelungen und Wertungen: seien es die »5000 Jahre« chinesische Geschichte, der »immer friedliche« Charakter Chinas, die Besitzansprüche der VR in der Südchinesischen See. Unternehmen, die in China tätig sind, können für die Verwendung eines philosophischen Zitats des Dalai Lama in ihrer Werbung bestraft werden; Akademiker, die im Land arbeiten, müssen sich anpassen. Wenn China nun die Auseinandersetzungen mit Demokratie und Menschenrechten, die im Lauf seiner Geschichte stattgefunden haben, systematisch ausblendet, dürfte es für seine Partner noch schwieriger werden, sich mit ihm zu verständigen.
Die deutsche und europäische Politik muss sich darauf einstellen, dass ein China, welches die eigenen historischen Fehlentwicklungen nicht länger diskutiert, wie die massiven Menschenrechtsverletzungen der Mao-Zeit oder des Tiananmen-Massakers, möglicherweise die gleichen Fehler wieder begeht – nun aber mit dem Durchsetzungsvermögen einer Weltmacht. Deutschland sollte gegenüber China die Vielfalt der chinesischen Geschichte betonen und sich bei dem Verweis auf Demokratie und Menschenrechte ebenso auf chinesische Vorbilder berufen, zum Beispiel auf die 4.‑Mai-Bewegung oder die Demokratiebewegung von 1989. Überdies sollte es nicht nur auf die gegenwärtigen, sondern auch auf die historischen Menschenrechtsverletzungen hinweisen, denen häufig die gleichen Ursachen zugrunde liegen, wie der unumschränkte Machtanspruch der Kommunistischen Partei.
Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Frédéric Krumbein ist Gastwissenschaftler am European Union Centre der National Taiwan University in Taipeh.
Botschafter a. D. Dr. Volker Stanzel ist Senior Distinguished Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2019A70