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Chinas gelenkte Erinnerung

Wie historische Ereignisse erinnert, glorifiziert, umgedeutet und verschwiegen werden

SWP-Aktuell 2019/A 70, 18.12.2019, 8 Pages

doi:10.18449/2019A70

Research Areas

Im Jahr 2019 erinnert China in mehreren runden Jahrestagen an politisch bedeut­same Ereignisse seiner jüngeren Geschichte: die 4.‑Mai-Bewegung (100 Jahre), die Grün­dung der Volksrepublik China (70 Jahre), den Tibetaufstand (60 Jahre), den Beginn der Reform- und Öffnungspolitik (40 Jahre) und das Massaker auf dem Tiananmen-Platz (30 Jahre). Wie China dieser Ereignisse offiziell gedenkt – oder eben nicht gedenkt –, wiegt für das Land innen- und außenpolitisch schwer. Die staat­licherseits konstruierte Deutung der Geschichte richtet sich als Macht­anspruch nicht nur an die eigene Gesellschaft, sondern auch an die mit China inter­agieren­den aus­ländischen Partner, insbesondere Regierungen und Unternehmen. Das Ver­schweigen problematischer Geschehnisse der Vergangenheit ist nicht zuletzt des­halb bedenk­lich, weil es die Gefahr erhöht, dass sich historische Fehler wiederholen.

Die Europäische Union (EU) hat die Volks­republik (VR) China in ihrem Strategie­papier vom März 2019 als Kooperations- und Verhandlungspartner, als Konkurrenten und als »systemischen Rivalen« bezeich­net. Die Kluft zwischen den politischen Systemen und zwischen den Visionen für eine inter­nationale Ordnung und deren Werte ver­deutlicht die Rivalität der Systeme.

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) be­schränkt sich nicht darauf, Chinas Gesell­schaft in der Gegenwart zu kontrollie­ren, sondern dehnt die Kontrolle auch auf die Geschichte des Landes aus. Unter ande­rem indem sie die Erinnerung an historische Ereignisse ideologisiert, legitimiert die KPCh ihre Herrschaft. Letztere erscheint so als zwangs­läufiges und durchweg positives Ergebnis einer langen Geschichte. Diese Ideologisierung der eigenen Geschichte erschwert die Zusammenarbeit mit China. Denn auch Chinas Partner sollen akzeptieren, wie die histori­schen Fakten verschwiegen, ver­drängt oder umgedeutet werden und dass dadurch Politik und Gesellschaft der Gegenwart in einem für die KPCh güns­tigen Licht erscheint. Chinas Führung erwar­tet, dass das offizielle Geschichtsbild zumindest anerkannt, besser noch explizit als legitim bestätigt wird.

Universelle Werte wie Demo­kratie und Menschenrechte, die in verschie­de­nen Phasen von Chinas jünge­rer Geschich­te eine wichtige Rolle spielten, werden gezielt ver­schwiegen und können daher nicht mehr als Berufungsgrundlage für den Austausch mit China dienen – wie etwa im Aus­schuss für soziale, humanitäre und kulturelle Fragen der Generalversammlung der Ver­einten Nationen (VN) oder im VN-Menschen­rechtsrat. Die Volksrepublik vertritt ein Narrativ von Menschenrechten, das kollek­tive soziale und wirtschaftliche Menschenrechte in den Vordergrund rückt, aber die zivilen und politischen Menschenrechte ebenso ausblendet wie den An­spruch von Menschenrechten, das Individuum gegen die Autori­tät des Staates zu schützen. Im internationalen Menschenrechtsdiskurs, etwa in den VN, konfrontiert der »systemische Rivale« China den Westen nicht zuletzt unter Rückgriff auf die eigene Geschichts­interpretation mit seiner Version von Demokratie und Men­schenrechten.

Historische Narrative bilden den Kern der nationalen Identität Chinas. Die Zuge­hörigkeit zu einer jahrtausendealten Zivi­lisation, die sich einst selbst im Zentrum des Universums verortete, prägt das Be­wusst­sein der Menschen im Land. Nicht vergessen ist, dass der Weg in die Moderne durch einschneidende politische und gesell­schaftliche Brüche gekennzeichnet war, durch die Erfahrung der Rückständigkeit gegenüber dem Westen und Japan, durch wirtschaftliche Ausbeutung und militärische Invasion.

Vor diesem Hintergrund sind in Chinas Politik und Gesellschaft wirkmächtige geschichtliche Deutungen etabliert worden, die Orientierung vermitteln und die politi­sche Herrschaft der KPCh legitimieren. Eines dieser Narrative lautet: Ein eini­ges, starkes, nationalbewusstes und zen­tralis­tisch regiertes China sei notwendig, um einerseits das Chaos, die Verwüstungen und Demütigungen aus der Zeit vor der Macht­ergreifung der KPCh zu vermeiden, anderer­seits das Land vor den Hegemonial­ansprüchen des Westens zu bewahren.

Im Zuge der Öffnungspolitik seit Ende der 1970er Jahre strömten aus Sicht der Partei subversive politische Ideen und reli­giöse Botschaften ins Land; mit der markt­wirtschaftlichen Transformation bildete sich ein ideologisches Vakuum. Um den eigenen Herrschaftsanspruch erneut zu legitimieren, musste anstelle des in der Praxis gescheiterten Marxismus-Leni­nismus ein neues Paradigma geschaffen werden. Nichts eignete sich dafür besser als der Rekurs auf Nation und Geschichte. Die unter Mao Tsetung system­begründend an­gelegte Kritik an Feudalismus und Impe­ria­lismus der Kaiser­zeit bestimmte nicht länger den Diskurs und trat allmählich in den Hinter­grund. Die früher einst verpönten und teilweise verbotenen Traditionen wurden nun als kulturelles Erbe der Mensch­heit gewürdigt, die weni­gen verbliebenen Relikte aus der Kaiserzeit wurden auf­wendig restauriert. Die »korrekte« Inter­pretation der Geschichte bildete in Schu­len, Universitäten, in der Kaderausbildung und in öffentlichen Gedenk­veranstaltungen einen neuen politischen Schwer­punkt.

Xi Jinping gründet wie kein Staats- und Parteiführer vor ihm seinen Herrschafts­anspruch und die Legitimität der Partei auf die Geschichte Chinas. Xi Jinping selbst zele­briert sich als Wahrer der Tradition des guten Regierens zum Wohle des Volkes. Galt unter Mao Tsetung der Konfuzianismus als das Grundübel schlechthin, besuchte Xi Jinping den Ort Qufu, die Geburts- und Wir­kungsstätte Konfuzius’, und fügt Zitate aus seinen Lehren in die offizielle Rhetorik ein.

Die Kenntnis der mit den Jahrestagen ver­bundenen Ereignisse und ihrer Interpreta­tion im heutigen China zeigt: Deutsche und euro­päische Politik steht bei der Koope­ra­tion mit dem Land vor (zusätzlichen) Heraus­forderungen – die oft übersehen werden.

1919: Die 4.‑Mai-Bewegung – Der Wunsch nach Selbstbestim­mung und politischen Reformen

Die 4.‑Mai-Bewegung war eine landesweite Bewegung von Studenten, der sich nach und nach weitere Teile der Bevölkerung anschlossen. Sie richtete sich in erster Linie gegen die Kolonialisierung Chinas durch auslän­dische Mächte; weitere Forderungen zielten auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung des Landes. Ihren Höhepunkt fand sie am 4. Mai 1919, als sich etwa 3000 Studenten zu Pro­testen auf dem Tiananmen-Platz in Peking versammel­ten. Auslöser war der Vertrag von Versailles, in dem China die Rückgabe der deutschen Kolonien in Shandong verweigert wurde; stattdessen fielen die Besitzungen an Japan. Die Pro­teste führten dazu, dass sich die chinesische Regierung wei­gerte, den Vertrag zu unter­schreiben.

Xi Jinping hat in einer Rede am 30. April 2019 zum hundertjährigen Jubiläum die 4.‑Mai-Bewegung mit der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas und der Volksrepublik verknüpft. Drei Punkte sind bezeichnend für seine Deu­tung:

Zum Ersten etabliert er eine historische Kontinuität, die die 4.‑Mai-Bewe­gung als Vorläuferin der KPCh darstellt, die nur zwei Jahre danach gegründet worden ist. Einige spätere Gründer der KPCh waren in der Bewegung aktiv; viele andere Beteiligte hin­gegen hatten mit ihr nichts zu tun.

Zum Zweiten erklärt er Nationalismus zum Kern der 4.‑Mai-Bewegung. Die Essenz des chinesischen Nationalismus bilde die Liebe zur Nation und zur Partei, beides sei die wichtigste Pflicht aller Chine­sen. Sein eigenes Konzept des »chinesischen Traums der großen Wie­der­auferstehung der chi­­ne­sischen Nation« stellt Xi Jinping in die Tradi­tion des 4. Mai.

Zum Dritten ignoriert er die Viel­falt der politischen Forderungen der Bewe­gung, zum Beispiel nach »Mr. Democracy« und »Mr. Science«. Die Forderung nach Demo­kratie umfasste die Verwirklichung von Menschenrechten. Ziel war eine Moder­ni­sierung der chinesischen Politik und Gesell­schaft; westliche Demokratie und Wissenschaft wurden als Instrumente hierfür angesehen.

Hauptadressat der Rede Xis ist die junge Generation Chinas, die sich in den Dienst von Nation und Partei stellen und der es bei der Realisierung des chinesischen Traums an Kampfgeist nicht mangeln sollte. Was in Xis Interpretation nicht vor­kommt: die Geschich­te des 4. Mai als einer regierungskritischen Bewegung, die poli­tische Reformen, Demo­kratie und eine moderne Wissen­schaft nach westlichem Vorbild forderte. An dieses alternative Narrativ der 4.‑Mai-Bewegung knüpften die Studierenden im Jahr 1989 an. Aus der Perspektive vieler Intellektueller des chine­sischen Kultur­raums findet sich das wahre Erbe des 4. Mai heute auf Taiwan wieder, der ersten und bislang einzigen chinesischen Demokratie.

1949: 1. Oktober – Die Identität der Volksrepublik

»China ist aufgestanden.« Mit dem berühm­ten Satz Mao Tsetungs zur Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 stellte sich die Frage der Identität des neuen Staates. Ist das alte China wieder auferstanden, das Kaiserreich, die seit über 2000 Jahren immer wieder in die Vergangenheit projizierte Fiktion eines zivilisatorischen Ideals? Oder ist es das »weiße Blatt Papier«, das Mao ganz neu beschreiben wollte, ein marxistisches Staatswesen, befreit von alten Traditionen?

Diese Frage ist im Verlauf der 70-jähri­gen Geschichte der VR immer wieder neu be­antwortet worden; die unterschiedlichen Antworten spiegeln die oft gewaltsame Aus­einandersetzung um die Orientierung der KPCh und des Landes wider. Identitäts­stiftend für das neue China wirkte zunächst Maos Ehrgeiz, Vorreiter der Weltrevolution zu sein, und zwar noch vor der Sowjet­union. In der VR folgten die Zerschlagung des »Feudalismus« (Grundbesitzer, Bourgeoisie und Industrielle), die Bodenreform (mit der Enteignung der Landbesitzer) und der Kampf gegen die »Konterrevolutionäre« (also vor allem die Intellektuellen). Zugleich unterstützte sie maoistische revolutionäre Bewegungen, wo immer sie entstanden. Für das Ausland war dieses China in der Tat ein neues; die Mehrheit der Staaten unterhielt aber diplomatische Beziehungen zum alten China, demjenigen Tschiang Kai-scheks, das allerdings nur noch auf Taiwan existierte.

Die Identitätsfrage wurde mit weiteren Einschnitten erneut akut: mit den Hungers­nöten des »Großen Sprungs nach vorne« ab 1958 und mit der Kultur­revolu­tion von 1966 bis 1976, hinter der sich ein partei­interner Machtkampf ver­barg. Sie richtete sich zugleich gegen konfu­zianische und religiöse sowie andere kultu­relle Tra­di­tionen. 1979 wendete sich die KPCh unter Deng Xiaoping katego­risch ab von jedweden mar­xistisch begründeten Gesellschafts­experimenten und dem Ehr­geiz, die Welt­revolution anzuführen. Der Partei ging es nur mehr um den Erhalt ihrer Macht, derweil die Bürger – »reich werden ist ruhm­reich« – auf eigene Faust wirt­schaf­ten durften. Poli­tische Reformver­suche, wie sie um 1980 und mit den Auf­ständen des Jahres 1989 unternommen wurden, wurden im Keim erstickt. Für die Partner Chinas war es eine »normale« Zeit: Mit dem Land ließ sich um­gehen, ohne dass man sich mit alten oder neuen Narrativen auseinandersetzen musste. Währenddessen führten die frei­gesetzten privatwirtschaft­lichen Ener­gien zu raschem und immer dynamischerem Wirtschaftswachstum und damit zur heutigen Stellung Chinas als zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde.

Xi Jinping schließ­lich, seit 2012 an der Macht, hat die Phase der von Deng Xiaoping etablierten kollektiven Führung und die größte innen­politische Krise seit 1989 beendet. Er hat sämtliche Macht in seiner Hand konzentriert, nun als Führer einer neuen Weltmacht. Sein Ziel ist, das »Auf­stehen« Chinas zu verwirklichen und die Herr­schaft der KPCh mit Hilfe der Er­innerung an seine ältere Geschichte zu zemen­tieren. Mit der Verknüpfung von »marxis­tischer Theorie und traditioneller chinesischer Staatsführung« soll das Land den »chinesischen Traum« realisieren, seinen »recht­mäßigen Platz in der Welt« wieder ein­nehmen. Damit wird es für seine Partner komplizierter: Von ihnen verlangt die KPCh implizit oder explizit immer wieder die Anerkennung, dass China ein »Jahrhundert der Scham« (bzw. »Demü­ti­gung«) aufgezwungen bekommen hat, das es nun auszugleichen gilt. Dies ist eins der zentralen Elemente des derzeit herrschenden Narrativs, weil sich mit ihm Forde­rungen nach Sonderbehandlung begründen lassen – einer Sonderbehandlung, die sonst in einer internationalen Ordnung keinen Platz hat, da Letztere auf dem Grundsatz gleichberechtigter souveräner Staaten beruht.

»In diesem Moment sind die Chinesen aller ethnischen Gruppen und alle Söhne und Töchter der chinesischen Nation im In- und Ausland stolz darauf und gratulieren unserem großen Mutterland mit großer Freude«, sagte Xi Jinping am 1. Oktober 2019 auf dem gleichen Balkon, von dem aus Mao 1949 die Gründung der Volks­republik verkündet hatte. Mit der größten Militär­parade in der Geschichte der VR führte die KPCh der Welt die Stärke Chinas vor Augen – und zugleich dem eigenen Volk die Stärke der Partei. Die 70 Jahre sind also sowohl eine Geschichte des Aufstiegs einer Nation als auch eine bemerkenswert erfolgreiche Geschichte der Machterhaltung einer Partei. Diese versucht nun, die Frage nach ihrer Identität zwischen dem alten und dem neuen China mit einem um­fassen­den Blick auf die Geschichte zu be­ant­worten. Anlässlich des Jubiläums des 1. Oktober fasste es der Staatsrat der VR in einen einfachen Satz: »Auf der Grundlage der 5000-jährigen Kultur Chinas […] hat sich das chinesische Volk den Weg des Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken eröffnet.«

Die Welt beobachtet Chinas Aufstieg mit unterschiedlichen Erwartungen, mit Be­wunderung und Besorgnis. Für die Partner Chinas spielt die Frage nach der Identität des Landes ebenso eine Rolle, in welchem historischen Selbstbild sie auch wurzelt. Ihnen geht es darum, ob die neue Weltmacht die Erfah­rung und die Möglichkeiten hat, jene internationale Verantwortung zu übernehmen, die sich aus Macht und Wirt­schaftskraft ergeben sollte.

1959: Tibet – Kontroverses Gedenken

Am 10. März 1959 begann in Lhasa der »Tibetaufstand«, der schätzungsweise 87 000 Menschen das Leben kostete und in dessen Verlauf der Dalai Lama ins Exil nach Indien floh. Der Aufstand richtete sich gegen die chinesische Präsenz in Tibet und die An­nexion durch die Volksrepublik im Jahr 1951. In Erinnerung an den Tibetaufstand begehen im Exil lebende Tibeter welt­weit am 10. März den »Tibetan Uprising Day«.

Demgegenüber könnte die Interpretation dieses kritischen Moments in Tibets Ge­schichte, des März 1959, in China und in der zu China gehörenden Autonomen Region Tibet gegensätzlicher kaum sein. Öffentlich begangen wird seit 2009 der »Gedenktag zur Befreiung von Millionen von Leibeigenen in Tibet«. Er erinnert an die Absetzung der tibetischen Regierung durch chinesische Truppen am 28. März 1959 – eben in Reaktion auf den am 10. März begonnenen Aufstand der Ein­heimischen. Die damit vollzogene voll­ständige Übernahme der Regierungsgewalt in Lhasa durch China deuten chinesische Medien konsequent als demokratische Reform und emanzipativen Akt. In offi­ziel­ler Lesart ist Tibet ohnehin seit 700 Jahren ein Teil Chinas. Dabei sind der genaue Ablauf der Ereignisse und ihre Interpreta­tion bis heute unter chinesischen und ausländischen Historikern umstritten. Für das offizielle China ist die Wahrung der historischen Deutungshoheit Staatsräson.

1978/79: Reform- und Öffnungs­politik – Eigenlob für Partei und Parteiführer

1979 geschah im System der Planwirtschaft des real existierenden Sozialismus der VR China etwas Unerhörtes: Während die Abnah­mepreise für Agrargüter drastisch heraufgesetzt wurden, erhielten die Produk­tionsgenossenschaften weitreichende Manage­ment­autonomie. Letztere Maß­nahme, beschlossen am 18. Dezember 1978 auf dem dritten Plenum des 11. Zentral­komitees der KPCh, sollte zum offiziellen Start­schuss werden für die nunmehr 40 Jahre andauernde, ungemein erfolg­reiche System­transformation, für die marktwirtschaft­liche Entwicklung, Industri­alisierung und Moder­nisierung Chinas. Im Zuge der wei­teren Entwicklung stieg die Reis- und Getrei­deproduktion in einem Maße an, dass die Nahrungsmittelknappheit im Land ein Ende fand. Die Fortschritte in der Land­wirt­schaft zogen Reformen in anderen Sektoren nach sich. Mit der Ein­führung von Märkten, Wettbewerb und privatem Unter­nehmer­tum sowie der Öffnung für Direktinvestitionen entstand eine histo­risch beispiellose Wachstums­dynamik, die Armut beseitigte und die letztlich Chinas Aufstieg zur Weltmacht begründete.

Bereits seit Jahresbeginn 2018 erinnerten unzählige Tagungen und Konferenzen an die bahnbrechende Sitzung des dritten Plenums und zelebrierten die inzwischen vier Jahrzehnte anhaltende Erfolgsgeschichte Chinas. Vielbeachtete Ausstellungen in Peking und Shenzhen huldigten der grund­legenden Bedeutung der Ereignisse für die Wegbereitung und Entstehung des »Sozia­lismus chi­ne­sischer Prägung im neuen Zeit­alter«. Vollkommen unerwähnt im öffent­lichen Gedenken bleibt allerdings, dass die Reprivatisierung der Landwirtschaft und das Aufkommen von Bauernmärkten eine ganz spontane Bewe­gung »von unten« war: Sie wurde von einer Land­bevölkerung ge­tragen, die ernüchtert war von maoistischer Indoktrination und impraktikablen plan­wirtschaftlichen Vor­gaben bei nach­lassen­der staat­licher Kon­trolle; sie wollte wieder eigen­verant­wortlich wirtschaften. Auffällig ist weiter­hin, dass stets betont wird, es gebe eine bis in die Gegenwart reichende un­gebrochene Konti­nuität. So wird weder die zeitweise auf Tiananmen folgende Unter­brechung des Reformprozesses (1989–1991) thema­tisiert noch ihr etwa 2012 einsetzender partieller Rückbau. Gezielt hervorge­hoben wird die führende Rolle von Staats­präsident Xi Jinping als legitimem und ver­antwortungsvollem Sachverwalter des reform­politischen Erbes.

Zum 40. Jahrestag am 18. Dezember 2018 würdigte Xi Jinping in seiner Rede vor dem Staatsrat den Beschluss des dritten Plenums als Wendepunkt in der Geschichte der Volks­republik; er stellte ihn in eine Reihe mit der Gründung von Partei (KPCh, 1.7.1921) und Staat (VRCh, 1.10.1949). Xi pries die 40 Jahre erfolgreiche Reform- und Öffnungs­politik als Beweis dafür, dass Strategie und Füh­rung der Partei immer korrekt waren.

Zweifellos verdienen das historisch bei­spiellose wirtschaftliche Wachstum Chinas, das 1979 begonnen hat, und die dadurch mög­lich gewordenen sozialen Errungenschaften Anerkennung. Die Partei und ins­besondere Deng Xiaoping, der für die Durch­setzung der Reformen verantwortlich war, haben eine wichtige Rolle in dem Prozess gespielt. Kaum haltbar ist hingegen, dass der zentralistische Kontroll- und Führungs­anspruch der Partei derart herausgestellt wird. Denn charakteristisch und wohl auch erfolgsentscheidend für den Reform- und Öffnungsprozess war ja gerade die De­zentra­lisierung der wirtschaftlichen Ent­scheidungen, die Schaffung von mate­riellen Anreizen für Manager und Funktionäre auf lokaler Ebene. Während Produktions-, Investitions- und Absatzentscheidungen autonom getroffen wurden, konnten die Partei­sekretäre weitgehend über das lokale Steueraufkommen verfügen und maßgeblich die Ausrichtung der Wirtschafts­politik vor Ort festlegen. Die große Leistung der zentralen Ebene bestand viel­mehr in Folgendem: Sie stemmte sich der um sich greifenden Privatisierungs­welle nicht ent­gegen, sie gestand der lokalen Ebene die Freiheit zu, Reformexperimente zu wagen, und sie förderte diejenigen Reformschritte landesweit, die positive Ergebnisse zeitig­ten. Darüber hinaus richtete sie die Beför­derung von Funktionären in Partei und Staat am erzielten Wachstumsergebnis aus und behinderte den Reformprozess nicht durch eine einengende zentrale Reform­strategie.

Wenn nun Staat und Partei die Wirtschaft und selbst unternehmerische Ent­schei­dungen wieder zunehmend zentralistisch bestimmen, ist es bezeichnend, dass der Kontroll- und Führungsanspruch der Partei als ausschlaggebend für den Reform­prozess angesehen wird – doch diese Darstellung verfälscht die Geschichte. Die fehlende Würdigung der in­dividuellen Beiträge von Bauern, Unter­nehmern und Managern für Chinas wirt­schaftlichen Aufstieg verdeutlicht den syste­mischen Gegensatz zum Modell der plura­listischen westlichen Marktwirtschaft.

1989: Der 4. Juni auf dem Tiananmen-Platz – Erinnern und Vergessen

1987 wurde der damalige Generalsekretär der KPCh, Hu Yaobang, zum Rücktritt gezwungen: In den Augen Deng Xiaopings war er zu liberal. Hus Tod am 15. April 1989 führte zu landesweiten Trauerkundgebungen, die rasch in eine massive Protest­bewegung mündeten, die Millionen Men­schen in vielen Städten Chinas mobilisierte und ihr Zentrum auf dem Tiananmen-Platz in Peking fand. Jugendliche, Arbeiter und andere Bürger forderten politische, wirt­schaftliche und soziale Reformen: allen voran die Bekämpfung der Korruption und mehr politische Partizipation.

Am 20. Mai verhängte die Führung das Kriegsrecht und machte damit den Weg frei für den Einsatz des Militärs. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni kam es dann zu den Massakern der Soldaten an der chinesischen Zivilbevölkerung in Peking, vor allem in Zufahrtsstraßen zum Tiananmen-Platz, als die Bürger sich den Panzern und Soldaten in den Weg stellten. Das Chinesische Rote Kreuz schätzte die Zahl der Opfer auf etwa 2600 und zählte etwa 7000 Verwundete. Auch in anderen Orten Chinas gab es Berich­ten zufolge Hunderte Opfer, die genauen Zahlen sind jedoch un­bekannt; die offizielle Zahl der Todesopfer beträgt 187. Tausende weitere Demonstranten wurden in den folgenden Tagen und Wochen inhaf­tiert – oft für Jahre. Einige flohen ins Aus­land und halten dort bis heute die Erinne­rung an die blutige Niederschlagung aufrecht.

Nach dem 4. Juni war es das Ziel Deng Xiaopings, rasch zur Normalität zurück­zukehren, sprich zu wirtschaftlichem Aufbau und solider politischer Kontrolle des Landes. Die linken Gegner der Wirtschaftsreformpolitik Dengs sahen die Gelegen­heit, die gesamte Politik und den Pragmatismus von »Reform und Öffnung« schuldig zu sprechen für die Hintanstellung marxistischer Prinzipien, die ihnen an Dengs Politik nicht passte. Deng selbst sah noch eine andere Ge­fahr: die der Zerrüttung der Partei von innen durch diejenigen, die politische Reformen befürworteten – ähnlich wie es gerade in der Sowjetunion unter Gorbatschow geschah. Sich allzu lange mit der Bewältigung des Aufstands zu beschäftigen, schien die Rück­kehr zur Deng’schen Linie kontrollierter Wirtschaftsreformen zu gefährden. Jegliche Auseinandersetzung mit dem 4. Juni wurde verhindert. Sogar das erste Narrativ einer besiegten Konterrevolution wurde schnell vom allgemeinen Schweigen zugedeckt.

Wie kaum ein anderes Ereignis in den letzten 30 Jahren hat das brutale Ende der Proteste die KP Chinas, die externe Wahr­nehmung der Volksrepublik und den Umgang mit Dissens und Kritik innerhalb der Partei und des Landes geprägt. Für die chinesische Führung selbst ist das Schweigen über die Tiananmen-Vorfälle allerdings Teil des Erfolgs ihrer Politik: »Nach dem Zwischenfall verfolgte die chinesische Regierung die Linie, ihn nicht zu diskutieren, egal was der Westen sagte. Diese Haltung Chinas half dem Land, die Krise bald hinter sich zu lassen und rasche Wirt­schaftsentwicklung zu erreichen.« Da in China alle Berichte über die Geschehnisse von 1989 zensiert werden, ist dem Großteil der Bevölkerung weder das Vorgehen der KPCh auf dem Tiananmen-Platz wirk­lich bewusst noch seine Bedeutung für die inne­re Ent­wicklung und äußere Wahr­nehmung des Landes. Heute führt die digi­tale Zensur in China dazu, dass von den Erinnerungen der Zeit­zeugen nur noch Schat­ten bleiben. Die »Mütter vom Tiananmen-Platz«, die das Andenken an ihre ermordeten Kinder bewahren und die Verant­wortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen, können sich öffentlich nicht äußern. Und noch im April dieses Jahres wurden einige Studenten in der Provinz Sichuan zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, als sie in versteckter Form die Niederschlagung der Tiananmen-Proteste thematisierten.

Tiananmen birgt bis heute eine doppelte Symbolik: zum einen für einen alternativen demokratischen Entwicklungsweg Chinas, der (bislang) nicht beschrit­ten worden ist; zum anderen für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die seit Gründung der VR essentieller Bestandteil der autoritären Herr­schaft der KPCh sind. In der Ära Xi Jinping können die Menschen Dis­sens nur noch individuell äußern, wobei sie in Kauf nehmen müssen, dafür verfolgt zu werden. Jede Form von kollektiver politischer Mobi­li­sierung, sei es in Form von Organisationen oder De­mons­trationen, ist außer­halb der Kon­trolle der KPCh unmöglich ge­worden. Deshalb ist gegen­wärtig Hong­kong ­der ein­zige Ort in der VR, an dem ein Einsatz des Militärs in größerem Umfang zu be­fürch­ten wäre: Nur dort dürfen die Men­schen noch frei protestieren – dank seines noch fort­dauernden besonderen Status unter der Bezeichnung »Ein Land, zwei Systeme«.

In Hongkong gibt es eine vielfältige Gedenkkultur mit Bezug auf den 4. Juni. Denn hier leben geflüchtete Dissidenten aus der Volksrepublik, die seinerzeit der chinesischen Armee entkamen. Auch die prekäre Situation der Sonderverwaltungszone hält das Gedenken an Tiananmen lebendig. Durch die stückweise Reduzierung der verbliebenen Autonomie Hongkongs sieht seine Bevölkerung die Gewalt einer Regierung näher rücken, die den 4. Juni vor 30 Jahren zu verantworten hat. Dies erklärt zum Teil die Protestbewegung, die sich im Frühsommer dieses Jahres entzündete am Vorhaben eines Gesetzes über die Auslieferung von vermuteten Straftätern an die VR und die bis heute unverdrossen anhält. Sie richtet sich vor allem gegen die zuneh­mende Dominanz Pekings im Hongkonger Alltag.

Chinas eigener Weg liegt darin, das Ver­gessen zu erzwingen. Deng unterdrückte jedes Gedenken an die Opfer des 4. Juni, sofern es nicht ausschließlich privat ge­schah. Er schuf sich damit Raum, die Ideo­logen im Zaum zu halten und die Wirtschaftsreformpolitik fortzuführen. Damit brachte er China auf den Weg dort­hin, wo es sich heute befindet. Dem Ziel des Auf­stiegs ist vieles zum Opfer gefallen. Die Er­innerung an den 4. Juni 1989 gehört dazu.

Geschichte als Konstrukt

Chinas Umgang mit seinen runden Jah­res­tagen, das öffentliche Gedenken 2019, zeigt sehr unterschiedliche, sich ergänzende Vorgehensweisen.

Geschichte wird verschwiegen, wie ganz augenscheinlich das Massaker vom 4. Juni um den Tiananmen-Platz. Weniger offen­sichtlich ist, dass im offiziellen Gedenken die Forderungen nach Demokratisierung und Modernisierung in der 4.‑Mai-Bewegung ausgeklammert werden und dass die Bei­träge der Menschen für den Erfolg des chinesischen Reformprozesses nicht ge­würdigt werden.

Geschichte wird instrumentalisiert, ge­deutet und umgedeutet. So ist die Inter­pretation, die 4.‑Mai-Bewegung sei im Kern nationalistisch und eine Vorläuferin der KPCh, sehr einseitig, wenn nicht gar eine falsche Auslegung der Ereignisse des Jahres 1919. Auch Chinas Wachstumserfolge der letzten vier Jahrzehnte dem zen­tralisti­schen Kontroll- und Führungs­anspruch der Partei glorifizierend zuzuschreiben, wird der Wirklichkeit des Reformprozesses nicht gerecht. Nicht zuletzt entspricht Chinas offizielle Sicht auf Tibet kaum den histo­ri­schen Tatsachen.

Umfassend, über die Etablierung historischer Narrative hinausgehend, ist schließlich die Politisierung von Geschichte. Unter Rückgriff auf Chinas imperiale Vergangenheit wird die wiederkehrende Frage nach der historischen Identität der Volksrepublik heute nationalistisch beantwortet. Dass das System des Sozialismus chinesischer Prä­gung und der gegen­wärtige politische Auf­stieg des Landes im Einklang mit Chinas Zivilisation und Geschichte stehen, ist nach innen Selbstvergewisserung, nach außen eine machtvolle Propagandabotschaft. Ge­schichte wird zum Instrument der Macht­ausübung und der Außenpolitik.

Auf die deutsche und europäische Außen­politik hat Chinas Geschichtsnarrativ damit unmittelbare Auswirkungen. Die Zahl der für die chinesische Regierung sensiblen Themen steigt; die Kontrolle über die Ge­schichts­schreibung ist hierfür ein Beispiel. Peking erwartet, dass nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch seine ausländischen Partner den chinesischen Narrativen folgen, mit all ihren Verästelungen und Wertungen: seien es die »5000 Jahre« chine­sische Ge­schichte, der »immer friedliche« Charak­ter Chinas, die Besitz­ansprüche der VR in der Südchinesischen See. Unter­nehmen, die in China tätig sind, können für die Verwendung eines philosophischen Zitats des Dalai Lama in ihrer Werbung bestraft werden; Akademiker, die im Land arbeiten, müssen sich anpassen. Wenn China nun die Aus­einandersetzungen mit Demokratie und Menschenrechten, die im Lauf seiner Geschichte stattgefunden haben, systematisch ausblendet, dürfte es für seine Partner noch schwieriger werden, sich mit ihm zu verständigen.

Die deutsche und europäische Politik muss sich darauf einstellen, dass ein China, welches die eigenen historischen Fehl­entwicklungen nicht länger diskutiert, wie die massiven Menschenrechtsverletzungen der Mao-Zeit oder des Tiananmen-Massakers, möglicherweise die gleichen Fehler wieder begeht – nun aber mit dem Durchsetzungs­vermögen einer Weltmacht. Deutsch­land sollte gegenüber China die Vielfalt der chinesischen Ge­schich­te betonen und sich bei dem Verweis auf Demokratie und Menschenrechte ebenso auf chinesische Vorbilder berufen, zum Beispiel auf die 4.‑Mai-Bewe­gung oder die Demo­kratie­bewegung von 1989. Überdies sollte es nicht nur auf die gegen­wärtigen, sondern auch auf die historischen Menschenrechtsverletzungen hinweisen, denen häufig die gleichen Ursachen zugrunde liegen, wie der unumschränkte Macht­anspruch der Kom­mu­nistischen Partei.

Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Frédéric Krumbein ist Gastwissenschaftler am European Union Centre der National Taiwan University in Taipeh.
Botschafter a. D. Dr. Volker Stanzel ist Senior Distinguished Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364