Mit dem ersten »Fünfjahresplan über den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit (2020–2025)« konkretisiert Chinas Führung ihre Vision eines kohärenten, genuin chinesischen Rechtssystems. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff »sozialistische Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung«. Bis 2035 soll sie im Wesentlichen etabliert sein. Marxistisch-leninistische Rechtskonzepte bleiben fundamental. Durch das Recht als Instrument soll der Staat effizienter werden. Willkür bei der Rechtsfindung soll für den Großteil der Bevölkerung reduziert werden, unter anderem mit Hilfe von Hochtechnologie. In ausgewählten Teilbereichen, zum Beispiel bei prozessualen Fragen, lässt sich Beijing für den Aufbau der chinesischen »Rechtsstaatlichkeit« vom Westen inspirieren. Eine unabhängige Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung aber lehnt die Parteistaatsführung weiterhin strikt als »fehlerhafte westliche Gedanken« ab. Beijing geht es explizit darum, auch international für Chinas Rechtsvorstellungen zu werben, Standards zu etablieren und Interessen mittels des Rechts durchzusetzen. Daher sollten Berlin und Brüssel ihr besonderes Augenmerk auf chinesische Rechtsvorstellungen richten. Vertiefte Kenntnisse darüber sind zwingend notwendig, um die strategischen Implikationen von Chinas Rechtspolitik zu erfassen, die Handlungslogik besser zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren.
Während der 4. Plenarsitzung des 13. Nationalen Volkskongresses (NVK) tauchte im Arbeitsbericht von Li Zhanshu, dem Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des NVK, der Begriff »Xi Jinpings Rechtsstaatskonzept« ganze sechs Mal auf. Bereits seit einigen Monaten wirbt die chinesische Führung für den Begriff »sozialistisches Recht chinesischer Prägung«. Dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) nun einen eigenen Fünfjahresplan zum Aufbau von Rechtsstaatlichkeit in China verabschiedet hat, verdeutlicht die neue Qualität und strategische Einbettung dieser Bemühungen. Die Xi-Administration hat begriffen, dass Recht ein wichtiger Hebel im Streben nach mehr internationalem Einfluss ist. Der Plan bildet die konkreteste Ausprägung von Xi Jinpings Vision, wie Recht in China und im internationalen Kontext verstanden und angewendet werden soll.
Begriffsbestimmung
Die Begriffe »sozialistische Rechtsherrschaft chinesischer Prägung«, und »Xi Jinpings Rechtsstaatskonzept« sind zentral für das Verständnis der chinesischen Justizreform. Sie bedürfen aber der Erläuterung.
Grundsätzlich verwendet die chinesische Führung den Zusatz »chinesischer Prägung«, um auf die besondere Verbindung von Politikfeldern mit chinesischen Gegebenheiten hinzuweisen, wie etwa in der Formulierung »Menschenrechte chinesischer Prägung«. Gemäß Artikel 1 der chinesischen Verfassung ist die Herrschaft der KPCh »das bestimmende Merkmal des Sozialismus chinesischer Prägung«. Der Begriff »sozialistisches Recht chinesischer Prägung« knüpft daran an. Die Parteiherrschaft wird als Grundvoraussetzung und Garant für Rechtsstaatlichkeit in der Volksrepublik (VR) China bewertet. Nach marxistischer Rechtstradition versteht Beijing Recht als Instrument der KPCh. Mit der kommunistischen Revolution wurde das Recht dem Volk unterworfen, und einzig die KPCh ist legitimiert, dessen Willen zu interpretieren. Folglich ist es nicht angemessen, den chinesischen Begriff »Fǎzhì« (法治), der 1997 vom damaligen Präsidenten Jiang Zemin offiziell eingeführt wurde, im westlichen Diskurs als Rechtsherrschaft im Sinne von »rule of law« zu übersetzen. Vom Eigenwert des Rechts geht die KPCh nämlich gerade nicht aus. Treffender ist die Übersetzung »Herrschaft durch das Instrument Recht« (»rule by law«). Das Suffix »chinesischer Prägung« unterstreicht, dass Beijing ein eigenes chinesisches Rechtssystem erschaffen möchte, das auch aus traditionellen chinesischen Rechtsvorstellungen schöpft. Umstritten ist, inwieweit dies über reine Rhetorik hinausreicht. Das Verhalten der KPCh lässt sich jedenfalls zunächst einmal aus Chinas legalistischer Rechtstradition herleiten, welche die strikte Anwendung von Regeln fordert. Es soll aber nicht nur Herrschaft durch Recht gelten, sondern der Bevölkerung und den Parteikadern soll gemäß der konfuzianischen Lehre auch moralisches und tugendhaftes Verhalten anerzogen werden. Kernaspekte dieser Lehre zieht Xi Jinping regelmäßig heran, wenn sie den Interessen der KPCh dienen.
Ein viel konkreterer Aspekt der chinesischen Prägung von Rechtsstaatlichkeit ist die Einbeziehung der Hochtechnologie. Zum einen wird sie umfassend per Gesetz geregelt. Während in Europa über Digitalisierung vor allem im Lichte ihrer Auswirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht diskutiert wird, geht es in China lediglich um die Regulierung des Privatsektors, vor allem der Internetfirmen. Die grundrechtliche Dimension dagegen, etwa Fragen des informationellen Selbstbestimmungsrechts, spielt für die KPCh keine Rolle. Zum anderen greift die Partei auf Hochtechnologie bei der Rechtsfindung zurück, etwa in digitalisierten Gerichtsverfahren.
»Xi Jinpings Rechtsstaatskonzept« ist ein weiterer Begriff, den die KPCh vermehrt in der chinesischen Rechtsstaatsdiskussion verbreitet. Es gibt eine Vielzahl dieser abstrakten »Xi-Ideologien«, wie beispielsweise »Xi Jinpings Idee über Diplomatie«. Die wichtigste unter ihnen ist »Xi Jinpings Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter«. Hierbei handelt es sich um 14 Programmpunkte von Verfassungsrang, welche die politische Ausrichtung der Xi-Administration umreißen. Im Fünfjahresplan wird »Xis Rechtsstaatskonzept« wie folgt zusammengefasst: Stärkung der zentralisierten und einheitlichen Führung der KPCh, »wissenschaftliche Gesetzgebung«, strikte Strafverfolgung, faire Gerichtsverfahren, gesetzestreue Bevölkerung.
Xi Jinpings Justizreformen – Mehr Macht für die Partei, weniger Alltagswillkür
Der Fünfjahresplan zum Aufbau der Rechtsstaatlichkeit in China ist das neueste Kapitel einer Justizreform, die Präsident Xi im Jahr 2012 angestoßen hat. Xis Vorgänger Hu Jintao hatte mit der Doktrin der »harmonischen Gesellschaft« auch Anreize für Korruption innerhalb der VR China gesetzt. Um nämlich gesellschaftliche Harmonie aufrechtzuerhalten, wurden Rechtsstreitigkeiten verbreitet durch gesichtswahrende Mediation beigelegt. Dieser Weg barg das Risiko einer informellen Justiz. Bestechungsanfällige Parteikader der »Kommission für Politik und Recht« spielten als Mediatoren bei der Rechtsfindung eine Schlüsselrolle. Infolgedessen grassierte die Korruption, weil viele versuchten, den Mediationsmechanismus zu beeinflussen.
Xis Politik war anfangs von Machtkonsolidierungsmaßnahmen geprägt, in deren Mittelpunkt eine massive Antikorruptionskampagne stand. Die Justizreform förderte Mechanismen zur Stärkung der lokalen Justiz gegenüber lokalen Parteikadern, etwa durch sogenannte Wandergerichte, und Maßnahmen zur Professionalisierung von Richtern.
2014 formulierte das 18. Zentralkomitee der KPCh die Visionen vom Aufbau einer »sozialistischen Rechtsherrschaft chinesischer Prägung« und vom »regelgeleiteten Regierungshandeln«. Dabei wurde deutlich, dass die Justizreform zum Ziel hat, die KPCh gegenüber dem Staat zu stärken und den Staatsbetrieb zu professionalisieren. 2018 wurde die Verfassung weitreichend geändert. Gemäß der Neufassung von Artikel 1 wurde die Parteiherrschaft in China zum ersten Mal seit den kurzlebigen Verfassungen von 1975 und 1978 kodifiziert und damit formell legalisiert.
Seit der Machtübernahme von Präsident Xi ist zudem ein klarer Trend festzustellen: Der Staat agiert effizienter, besonders bei der Rechtsanwendung, und alltägliche Willkür nimmt vor allem auf der lokalen Ebene ab. Das hat aber nichts mit einer rechtsstaatlichen Entwicklung zu tun, wie sie in westlichen Ländern verstanden wird, denn die Partei steht über dem Staat und kontrolliert sich selbst. Was Teil der staatlichen Rechtsordnung ist und was »sensibel«, darüber befindet die Partei. Die sensiblen Angelegenheiten werden von der KPCh definiert und außerhalb des Rechts und damit ohne Kontrolle durch die staatliche Justiz bewertet.
Seit Xis Amtsantritt hat der Einfluss der KPCh auf den Staat zugenommen. Der Anwendungsbereich von Regeln, die bisher nur innerhalb der Partei galten, wird immer mehr auf Angelegenheiten ausgedehnt, die zuvor dem Staat zugeordnet waren. Das gilt zum Beispiel teilweise im Umweltschutz oder bei Fragen nationaler Sicherheit. Gewachsen ist auch der Anteil jener Dokumente, die der Staatsrat und die KPCh gemeinsam verabschieden, wie etwa zahlreiche derjenigen zur Belt-and-Road-Initiative (BRI). Diese Dokumente werden weitgehend wie Parteiregularien behandelt, aber im Legislativprozess immer häufiger als Gesetzesgrundlage zitiert. Auch auf die Rechtsanwendung nimmt die KPCh verstärkt Einfluss. Im Nationalen Sicherheitsgesetz von 2015 etwa wurde der Nationalen Sicherheitskommission der KPCh Staatsgewalt eingeräumt – das erste Mal seit der Kulturrevolution, dass dies einer Parteiorganisation zugestanden wurde. Bei Strukturreformen im Jahr 2018 fusionierten zahlreiche Staats- und Parteiorganisationen. In sensiblen Bereichen (mit sicherheitspolitischem Bezug) profitierte davon meist die Partei, zu Lasten des Staates.
Bei der Beilegung nichtsensibler Rechtsstreitigkeiten – also jenen, mit denen der Großteil der chinesischen Bevölkerung konfrontiert wird – waren in den letzten Jahren dagegen erhebliche Effizienzgewinne zu verzeichnen. Erzielt wurden sie vor allem durch schnellere und klarer definierte Vorgänge im Zivil- und im Strafprozess. Für die meisten Chinesen bedeutet dies, dass die Willkür geringer wird.
Die chinesische Führung ist darüber hinaus nicht daran interessiert, sich westliche Kernvoraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit zu eigen zu machen. Bei der Justizreform geht es vielmehr darum, pragmatisch aus dem Westen das zu übernehmen, was in den chinesischen Kontext der Einparteienherrschaft eingebettet werden kann. Das betrifft vor allem das Zivilrecht, Zuständigkeitsfragen und die Verbesserung von Prozessabläufen. In der Vergangenheit verwies der Präsident des Obersten Volksgerichts darauf, dass westliche »Irrwege« wie Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz in der VR China nicht in Frage kämen.
Chinas erster Fünfjahresplan über den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit (2020–2025)
Binnendimension
Am 10. Januar 2021 verabschiedete das Zentralkomitee der KPCh Chinas ersten »Fünfjahresplan über den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit«. Vorangegangen war im November 2020 eine Rede von Präsident Xi am Rande der ersten »Zentralen Konferenz über regelbasiertes Regierungshandeln«. Dabei hatte er zu einem koordinierten Vorgehen aufgerufen, um das »sozialistische Recht chinesischer Prägung« voranzutreiben.
Mit diesem Plan unterstreicht die chinesische Führung ihr instrumentelles Rechtsverständnis. So hat sie im Dokument statuiert, dass die Herrschaft durch Recht dem Staat zu Stärke und Wohlstand verhelfen soll. Die Förderung der Herrschaft durch Recht sei notwendig, um langfristig den Wiederaufstieg der VR China und die Verwirklichung des sogenannten China-Traums von einer erneuten Weltmachtrolle sicherzustellen. Für dieses Ziel enthält das Dokument folgende Leitprinzipien:
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Aufrechterhaltung der Einparteienherrschaft als fundamentalste Garantie für Rechtsstaatlichkeit in China,
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Orientierung an den Interessen des Volkes beim Aufbau der Rechtsherrschaft,
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Recht als zentraler Bestandteil der KPCh, des chinesischen Staates und der chinesischen Gesellschaft, Regieren durch Gesetz und Tugend,
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Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit.
In dem Plan hat die chinesische Führung allgemeine Ziele definiert. Bis 2025 sollen
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die institutionellen Rahmenbedingungen für Rechtsherrschaft in China weiterentwickelt,
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ein vollständigeres sozialistisches Rechtssystem chinesischer Prägung (bei dem die Verfassung eine zentrale Rolle einnimmt), ein solideres Regierungssystem mit klaren, per Gesetz definierten administrativen Zuständigkeiten und ein effizienteres Justizsystem aufgebaut,
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Fortschritte bei der Bildung einer »Gesellschaft unter der Herrschaft des Rechts« erzielt und
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die Anwendung parteiinterner Regularien verbessert sein.
Bis 2035 sollen
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ein Staat, eine Regierung und eine Gesellschaft unter der Herrschaft des Rechts etabliert,
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ein »sozialistisches Rechtssystem chinesischer Prägung« in Grundzügen gebildet,
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das Recht des Volkes auf gleichberechtigte Teilhabe und Entwicklung gewährleistet
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und die Modernisierung des nationalen Regierungssystems und der Regierungskapazitäten erreicht sein.
Im Fünfjahresplan wird ausgeführt, wie das Handeln des Staates und der KPCh formalisiert werden soll, um auf diese Weise Willkür innerhalb der VR China zu reduzieren und die Herrschaft der KPCh zu sichern. Es ist das erste offizielle Dokument, in dem Grundsätze, Inhalt und Verfahren einer Verfassungskontrolle durch den Ständigen Ausschuss des NVK in Aussicht gestellt werden. Mit Gewaltenteilung hat das aber nichts zu tun, da sich formell der NVK selbst kontrolliert. Dennoch gewinnt die Verfassung als solche bei staatlichem Handeln an Bedeutung.
Zudem sollen sämtliche Volkskongresse im Gesetzgebungsprozess gestärkt werden. Es sollen mehr Gesetze verabschiedet und weniger Verwaltungsvorschriften erlassen werden. Das ist wichtig, da Volkskongresse im chinesischen Gesetzgebungsprozess normalerweise eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Gesetzgebung soll besonders im Bereich Informationstechnologie vorangetrieben werden, etwa durch die Regulierung der Digitalwirtschaft, des Internetfinanzwesens, der künstlichen Intelligenz, von Big Data, des »sozialen Bonitätssystems« und des Cloud Computing. Vor allem der Schutz geistigen Eigentums soll im digitalen Raum in China verstärkt gewährleistet werden. Im Einklang mit Xi Jinpings Vision vom »digitalen Regieren« und eines »intelligenten Rechtsstaats« soll auf diese Technologien auch bei Rechtsanwendung und Rechtsprechung zurückgegriffen werden, etwa in »virtuellen Gerichtsprozessen« oder mittels des sozialen Bonitätssystems.
Weiter strebt Beijing an, mit Hilfe des Plans Gesetze der zentralen und der lokalen Ebene zu harmonisieren. Vorgesehen sind klare Zuständigkeiten bei staatlichem Handeln und erstmals ein einheitliches chinesisches Verwaltungsprozessrecht. Auch das Strafverfolgungssystem soll effizienter gestaltet werden, vor allem durch die eindeutige Kompetenzverteilung der Strafverfolgungsbehörden. Ebenfalls auf der Agenda steht die Verbesserung des Strafprozessrechts, etwa mit Blick auf die Verwertung von Beweismitteln. Geschaffen werden sollen einheitliche, per Gesetz kodifizierte Kontrollmechanismen und Zuständigkeitsregeln für die staatlichen Akteure (Verwaltungs- und Justizorgane, Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden, Gerichte, Staatsanwaltschaft) auf den unterschiedlichen Ebenen (Provinzen, Städte, Landkreise). Im Dokument wird zudem in Aussicht gestellt, die Prozessbeteiligten und ihre Prozessrechte zu stärken, etwa durch ein System zur Überprüfung von Vernehmungen.
Gefordert wird auch die Professionalisierung von Richtern. Eine neue Generation »revolutionärer« und »professioneller« Rechtsstaatsteams soll herangezogen werden, die nicht nur loyal gegenüber Partei, Staat, Volk und Gesetz sind, sondern auch tugendhaft handeln. Grundvoraussetzung für die Tätigkeit in der Justiz ist vor allem die Unterstützung für die KPCh.
Der gesamten chinesischen Bevölkerung soll die Bedeutung »sozialistischer Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung« und von »Xis Rechtsstaatskonzept« vermittelt werden. Innerhalb der KPCh sollen diese Themen eine Schlüsselrolle in den Parteischulen einnehmen. Sie sollen aber auch fester Bestandteil sämtlicher Lehrpläne an Schulen und Universitäten werden.
Überdies plant Beijing, die parteiinternen Regularien zu stärken und ein innerparteiliches Rechtssystem aufzubauen. Die chinesische Führung strebt an, dass parteiinterne Regeln und nationale Gesetze konvergieren und miteinander koordiniert werden.
Internationale Dimension
Ein Kapitel des Plans ist dem Blick nach außen gewidmet. Dort geht es um »den Schutz der nationalen Souveränität, der Sicherheits- und Entwicklungsinteressen durch das Gesetz«. Es enthält Ausführungen zum Prinzip »Ein Land, zwei Systeme«. Mit Blick auf Hongkong und Macau soll ein »hoher Grad an Autonomie« garantiert sein. Externer Einfluss soll unterbunden werden. Anvisiert wird, Rechtsaustauschprogramme mit Taiwan aufzubauen. Mit Hilfe des Rechts sollen Schritte in Richtung Wiedervereinigung und gegen Unabhängigkeitsbestrebungen getan werden. Dies schürt Spekulationen über ein taiwanspezifisches »Antisezessionsgesetz«. Beijing möchte zudem mehr Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden und mehr bilaterale Rechtshilfe zwischen dem Festland, Hongkong, Macau und Taiwan. In diesem Kapitel wird auch das Ziel formuliert, den regulativen Rahmen der Volksbefreiungsarmee (VBA) zu stärken, um die absolute Herrschaft der KPCh über die VBA zu zementieren.
Abschnitt 25 des Fünfjahresplans offenbart die internationale Dimension von Chinas Bestreben, nämlich
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den Ausbau chinesischer Völkerrechtsexpertise,
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die Konzipierung einer Völkerrechtstheorie der »sozialistischen Rechtsherrschaft chinesischer Prägung«,
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die aktive Teilnahme bei der Ausformulierung internationaler Regeln, um ein »faires« und »vernünftiges« internationales Rechtssystem zu etablieren,
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internationales Werben für die chinesische Auffassung von »Rechtsstaatlichkeit«,
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den Aufbau eines Mechanismus zur Identifizierung von Gesetzen anderer Staaten mit extraterritorialer Wirkung,
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mehr Schutz der Rechte chinesischer Staatsangehöriger und juristischer Personen im Ausland,
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die Förderung internationaler Rechtskooperation im Rahmen der BRI, etwa durch die Schaffung internationaler Handelsgerichte,
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die Einrichtung neuer Mechanismen für internationale Schiedsverfahren,
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die Kooperation zwischen Schiedsgerichten aus China und aus BRI-Staaten,
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die Stärkung bi- und multilateraler Rechtsstaatsdialoge und Austauschprogramme, besonders im Rahmen der BRI,
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die Förderung des institutionellen Rechtshilfemechanismus in China und der internationalen Kooperation bei Auslieferung und Rückführung von Straftatverdächtigen und beim Transfer verurteilter Personen,
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die Teilnahme an der internationalen Kooperation von Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung von Terrorismus, ethnischem Separatismus, religiösem Extremismus, Drogenhandel und transnationaler Kriminalität,
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die Stärkung der internationalen Kooperation bei der Korruptionsbekämpfung sowie bei Aufspürung und Rückführung gestohlener Güter.
Das Schlusskapitel verweist auf die zentrale Rolle der KPCh für den Aufbau einer »Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung«. Die Parteiherrschaft soll weiter gesetzlich verankert werden, und es soll eine Theorie der Rechtsherrschaft chinesischer Prägung entwickelt werden. Diese soll Aspekte der »exzellenten traditionellen chinesischen Rechtskultur« enthalten, ohne dass dies weiter konkretisiert wird. Alle Abteilungen der KPCh in sämtlichen Provinzen werden angewiesen, den Geist und die Anforderungen des Plans vollständig umzusetzen und Implementierungspläne zu erstellen, welche die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigen.
Einschätzung
Das Dokument fasst Beijings strategische Bemühungen zusammen, eine eigene chinesische Version von »Rechtsstaatlichkeit« als kohärentes zukunftsfähiges Modell aufzubauen. Es geht vor allem darum, den Staat effizienter zu gestalten und die absolute Herrschaft der KPCh zu zementieren. Diese Bestrebungen könnten die Präsidentschaft Xi Jinpings überdauern und zu einem Vermächtnis seiner Politik werden. Ein Beispiel dafür wäre ein formalisierter Mechanismus zur Bestimmung der Führungsnachfolge.
Dort wo es der Einparteienherrschaft dient, werden westliche Aspekte von Rechtsstaatlichkeit aufgegriffen, besonders mit Blick auf die Regelung zivilrechtlicher Angelegenheiten, von Zuständigkeiten und von prozessualen Fragen. Allerdings entspricht der Fünfjahresplan in keiner Weise dem westlichen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Staatshandeln soll zwar besser durch das Recht kontrolliert werden, doch dieses beschränkt die Macht der Partei nicht im mindesten. Recht soll vielmehr zu einem effizienteren Herrschaftsinstrument für die Partei werden.
Mit Hilfe der Hochtechnologie bei der Rechtsfindung sowie bei Anwendung und Vollstreckung des Rechts könnte in China ein Mechanismus geschaffen werden, der für den Großteil der chinesischen Bevölkerung Willkür reduziert und eine gewisse Rechtssicherheit erzeugt. Per App können Millionen Chinesen etwa Klageschriften einreichen oder Beweisanträge stellen, ohne dass korrupte Parteikader auf lokaler Ebene darauf Einfluss ausüben können. Beijing wirbt für die Nutzung digitaler Mittel als Alternative zur Gewaltenteilung, da diese nicht korrumpierbar und objektiv sind. Digitale Mittel im autoritären Kontext erzeugen demzufolge nach Auffassung der KPCh die gleiche Wirkung wie bei einer funktionierenden Gewaltenteilung, ohne dass die Einparteienherrschaft hinterfragt wird. Nicht unterschätzt werden sollte der politische Wille, den Einsatz von Hochtechnologie im Recht fortzuentwickeln. Auch wenn noch erhebliche Hindernisse bei der Umsetzung bestehen, gibt es schon heute Ansätze für einen objektiven, wenn auch dystopischen »chinesischen« Weg der Rechtsfindung. Dazu zählt das soziale Bonitätssystem. Es ermöglicht, das Verhalten von Personen in ein Punktesystem zu übertragen. Minuspunkte infolge sanktionierten Verhaltens ziehen unmittelbare Rechtsfolgen nach sich, beispielsweise Kosten oder Beschränkungen.
Nüchtern betrachtet ist der chinesische Ansatz der Einbeziehung digitaler Technologie im Justizprozess aber auch Avantgarde. Während der Covid-19-Pandemie wurden zahlreiche Gerichte in China über Nacht zu Online-Gerichten. Unter funktionalen Gesichtspunkten ergibt es durchaus Sinn, von der Technologieaffinität der chinesischen Justiz zu lernen, nämlich dort, wo sich die gewonnenen Erkenntnisse in das demokratische System integrieren lassen. Die KPCh versucht, eine autoritäre Antwort auf Fragen zu geben, die aus der internationalen Vernetzung entstehen, und dieses Bestreben in ihre Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit einzubetten. Fraglich ist, ob Chinas Vision für Drittstaaten attraktiv sein kann. Zumindest was die Effizienzsteigerung staatlichen Handelns und die Reduktion von Willkür durch Technologie betrifft, erscheint das nicht vollkommen abwegig. Mit der digitalen Seidenstraße versucht China, genau dieses Ziel zu erreichen.
Man kann davon ausgehen, dass chinesische Verhandlungspartner, Diplomaten und Unternehmer bald mit dem Begriff »chinesische Rechtsstaatlichkeit« argumentieren werden. Zudem wird Beijing Recht als Instrument in Zukunft immer effizienter nutzen, um politische Interessen mittels besser geschulter Juristen durchzusetzen.
Für politische Entscheider in Deutschland und Europa ist es zunächst wichtig, ernst zu nehmen, dass die chinesische Führung ein eigenes, fundamental unterschiedliches »Rechtsstaatskonzept« entwickelt und international dafür wirbt. Mehr Übersetzungsleistung und Kontextualisierung der von Beijing verwendeten Begriffe ist unerlässlich. Ohne historische und politische Einordnung der strategisch von der KPCh ins Englische übertragenen Formulierungen wie etwa »rule of law« kann es nicht gelingen, das chinesische Verhalten hinreichend zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren. Falsche Erwartungen und politische Kosten, etwa Fehlinterpretationen gegenseitiger Verpflichtungen, könnten die Folge sein.
Neben China-Expertise und juristischen Kenntnissen ist zudem spezifisches Wissen über sozialistische Rechtsvorstellungen hilfreich. Weiterhin ist es notwendig, die in Universitäten vorhandenen Kenntnisse über chinesische Rechtsvorstellungen aus den Expertenzimmern in den Mainstream zu heben. Diese Kenntnisse sollten in Diskussionen über funktionale politische Entscheidungen und in zwischenstaatliche Verhandlungen mit China im bi- und multilateralen Rahmen einfließen.
Politische Entscheider in Deutschland und Europa sollten sich gezielt auf die chinesischen Argumentationsmuster und Szenarien vorbereiten. Konkret betroffen sind besonders folgende Aspekte:
Rechte von Ausländern und ausländischen Unternehmen in China: Es gibt eine rechtliche Grauzone, in die man als Ausländer immer leichter hineingerät, besonders weil China der nationalen Sicherheit hohe Bedeutung beimisst. Darunter leidet die Rechtssicherheit, was sich in den jüngsten Sanktionen gegen Bürger und Institutionen der EU zeigt. Wer mit sanktionierten Institutionen und Personen »assoziiert« ist, dem wird untersagt, in China »Geschäfte zu treiben«. Die Begriffe »assoziiert« und »Geschäfte treiben« werden nicht erläutert. Bei den Sanktionen gegen britische Personen und Organisationen etwa ist der Wortlaut viel klarer. Zugleich aber ist in »nichtsensiblen« Bereichen mehr Rechtssicherheit für Ausländer zu erwarten.
Internationale Verträge: Aufgrund des instrumentellen Rechtsverständnisses der chinesischen Führung ist es unabdingbar, bei internationalen Abkommen mit China wirksame Anreize zu setzen und effektive Kontrollmechanismen einzuführen. Andernfalls ist eine vertragliche Einigung wie etwa das Investitionsabkommen zwischen der EU und China (CAI) vom Dezember 2020 zunächst nur ein beschriebenes Blatt Papier. In solchen Fällen beginnen die eigentlichen Verhandlungen erst nach der Vertragsunterzeichnung.
Chinesische Kerninteressen: Zu den Kerninteressen der VR China zählen Beijings Interpretation des Prinzips »Ein Land, zwei Systeme« mit Blick auf Taiwan oder Hongkong, die Vorstellung der chinesischen Führung von territorialer Integrität, etwa hinsichtlich des Südchinesischen Meeres und der Grenzkonflikte mit Indien oder Japan, sowie innere Angelegenheiten, besonders Menschenrechtsfragen betreffs Tibet oder Xinjiang. China wird diese Interessen besser vorbereitet und aus dem eigenen Rechtsverständnis heraus verteidigen. Hier ist für Europa mehr Gegenwind zu erwarten. Beijing schließt hierbei auch strategische Allianzen und nutzt Organisationen der Vereinten Nationen als Sprachrohr, etwa den VN-Menschenrechtsrat.
Extraterritoriale Dimension: Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung ist der Bereich, den Beijing bei der internationalen Rechtskooperation am stärksten forciert. Für europäische Personen in Staaten, die mit Beijing Rechtshilfe- oder Strafverfolgungsabkommen geschlossen haben, kann das gravierende Auswirkungen haben. Selbst eine Auslieferung nach China ist denkbar.
Diskurshoheit über den Rechtsstaatsbegriff: Beijing wird international verstärkt für die eigene Definition von Rechtsstaatlichkeit werben. Es geht der KPCh-Führung darum, gefestigte Definitionen grundlegend zu hinterfragen und ihnen dann chinesische Begriffe entgegenzuhalten. Die chinesische Seite argumentiert, das bestehende internationale Rechtssystem spiegele die Machtverhältnisse aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Beijing fordert eine Generalüberholung der Weltordnung, da sich das internationale Machtgefüge fundamental gewandelt habe.
Für deutsche und europäische Entscheider bedeutet diese Entwicklung, dass die gezielte Rechtsstaatsförderung in Drittstaaten weiter vorangetrieben werden sollte. In Betracht kommen etwa Staaten der Indo-Pazifik-Region. In ihren Leitlinien zum Indo-Pazifik stellt die Bundesregierung explizit Rechtsstaatsdialoge in der Region in Aussicht. Darüber hinaus wäre das Thema Rechtsstaatlichkeit ein wichtiger Baustein einer effektiven transatlantischen China-Strategie.
Trotz der schwierigen bilateralen Beziehungen wären im Rechtsstaatsdialog mit China prozessuale Themen ein Bereich, in dem eine sachliche Diskussion weiterhin möglich erscheint. Als Beispiel böte sich etwa die Digitalisierung im Zivilprozess an.
Glossar 法治中国建设规划 (Fǎzhì zhōngguó jiànshè guīhuà) – Plan über den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit in China 国特色社会主义法治 (Zhōngguó tèsè shèhuì zhǔyì fǎzhì) – Sozialistische Rechtsherrschaft chinesischer Prägung 习近平法治思想 (Xíjìnpíng fǎzhì sīxiǎng) – Xi Jinpings Rechtsstaatskonzept 中国特色 (Zhōngguó tèsè) – chinesischer Prägung 法治 (Fǎzhì) – Rechtsstaatlichkeit 法制 (Fǎzhì) – Rechtssystem 习近平新时代中国特色社会主义思想 (Xíjìnpíng xīn shídài zhōngguó tèsè shèhuì zhǔyì sīxiǎng) – Xi Jinpings Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter 科学立法 (Kēxué lìfǎ) – Wissenschaftliche Gesetzgebung 和谐社会 (Héxié shèhuì) – Harmonische Gesellschaft 智慧法治 (Zhìhuì fǎzhì) – Intelligenter Rechtsstaat 依法治国 (Yīfǎ zhìguó) – Regieren nach dem Gesetz 优秀传统法律文化 (Yōuxiù chuántǒng fǎlǜ wénhuà) – Exzellente traditionelle chinesische Rechtskultur |
Dr. iur. Moritz Rudolf ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.
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