Die Bundeswehr besinnt sich mit der Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung seit 2014 wieder mehr auf ihre Kernaufgaben. Das wirkt sich auch auf die Strukturen der Streitkräfte aus. Gegenwärtig sind diese vor allem auf Einsätze des Internationalen Krisenmanagements (IKM) ausgerichtet. Deshalb hat die Bundeswehr aktuell keine Führungsorganisation, die sowohl im Grundbetrieb, also dem normalen Dienst in Deutschland, als auch in den Einsätzen unverändert gültig ist. Diese sogenannte prozessuale Trennung ist für die gewandelten sicherheitspolitischen Anforderungen nicht mehr zielführend – eine Anpassung ist notwendig.
Der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) besteht in seinen heutigen Strukturen im Wesentlichen seit der Neuausrichtung der Bundeswehr, die 2010 eingeleitet wurde. Diese Reform war die weitreichendste Anpassung in ihrer Geschichte: Sie beinhaltete unter anderem die Aussetzung der Wehrpflicht und die Reduzierung des Umfangs der Streitkräfte auf maximal 185 000 aktive Soldatinnen und Soldaten. Zudem definierte sie Auslandseinsätze wie etwa in Afghanistan als Priorität der Planungen.
2012 sind die Grundsätze für die Führungsorganisation der Bundeswehr und damit ihre Grundstruktur festgelegt worden. Seitdem sind die Inspekteure der militärischen Organisationsbereiche – Heer, Luftwaffe, Marine, Streitkräftebasis (SKB), Zentraler Sanitätsdienst, Cyber- und Informationsraum (CIR) –, also die höchsten militärischen Vorgesetzten der Streitkräfte mit ihren Stäben, nicht mehr Teil des BMVg. Das Ministerium hat damit den Zugriff auf die höchste Führungsebene der Streitkräfte und ihre militärische Expertise verloren. Seither existieren in den militärischen Organisationsbereichen sogenannte Höhere Kommandobehörden, vergleichbar einer Bundesoberbehörde, denen die Inspekteure vorstehen.
Die Annexion der Krim durch Russland und ihre Auswirkungen trafen die Bundeswehr 2014 mitten im laufenden Anpassungsprozess. Kollektive Verteidigung, die zwar mitgedacht wurde, aber nicht mehr strukturbestimmend war, ist wieder in den Fokus gerückt: mit den Beschlüssen des Nato-Gipfels 2014 und dem Weißbuch 2016.
Allerdings waren unter anderem die Führungseinrichtungen der Teilstreitkräfte, die vor diesem Hintergrund an Bedeutung gewonnen hätten, bereits aufgelöst. Außerdem waren die neuen Kommandobehörden der Inspekteure nicht mehr genuin militärisch, sondern prozessorientiert aufgestellt worden. Das heißt im Kern, sie sollten sich in Gliederung und Arbeitsweise an den Abläufen des Ministeriums orientieren und nicht an den Nato-weit gängigen militärischen Stabsstrukturen. Dies wird den Bedingungen der Einsätze zwar gerecht, schränkt die Befähigung zur nationalen Planung und Führung von Operationen aber ein.
Neuer Bedarf an nationaler Operationsführung
Die Bundeswehr verfügt aktuell über keine ständige Struktur, die Führung in allen Szenarien, Intensitäten und Rechtszuständen (Spannungs- und Verteidigungsfall) abbildet. Zwar gibt es mit dem Einsatzführungskommando eine Dienststelle, die ausschließlich zur Truppenführung im Einsatz vorgesehen ist, etwa in Mali. Es ist aber gerade keine zentrale nationale Führungseinrichtung, weil ihm nur für die Einsätze Kräfte unterstehen; die Operationsführung im Einsatz hingegen übernehmen regelmäßig multinationale Hauptquartiere, beispielsweise die Joint Force Commands (JFCs) der Nato. Für Einsätze im IKM hat sich diese Architektur durchaus bewährt. Die Anforderungen der Bündnisverteidigung weichen davon jedoch ab:
Erstens ist der Zeithorizont für Planung und Entscheidung viel kürzer als bei Auslandseinsätzen. Ein Unterstellungswechsel, also dass die Truppen erst zusammengestellt und unter einheitliches Kommando gebracht werden müssen wie bei den Auslandseinsätzen, brächte einen operativen Nachteil mit sich: durch den Zeitaufwand und den Bruch der Befehlsketten.
Zweitens kommt Deutschland aufgrund seiner geostrategischen Lage die Rolle der Drehscheibe für den Einsatz der Nato zu. Das bedeutet, das Bundesgebiet würde implizit auch zum Operationsgebiet. Deutschland müsste seinen Anteil der Nato-Streitmacht mobilisieren und ins Einsatzgebiet bringen. Parallel müsste es Verstärkungskräfte der Nato aufnehmen, versorgen und dabei helfen, sie durch das deutsche Staatsgebiet schnellstmöglich in den Einsatzraum zu verlegen.
Das wäre im Krisenfall nicht nur eine logistische Herausforderung, sondern eine äußerst komplexe, mitunter risikobehaftete militärische Operation – denn diese Einheiten wären für die Gegenseite legitime Ziele. Die Bundeswehr wäre für die taktische Führung der Marschkolonnen und deren Sicherung verantwortlich. Des Weiteren würde der deutsche Anteil der Nato-Luftstreitkräfte wohl aus Deutschland heraus operieren, bedingt durch die räumliche Nähe des potenziellen Einsatzraums und weil in diesem nur eine begrenzte Anzahl geeigneter Flugplätze vorhanden ist. Die Luftwaffe muss hierzu den nationalen Luftraum kontrollieren und gegen militärische Bedrohungen sichern können. Zudem sind all diese Aspekte mit den Nato-Stäben und den zivilen Behörden zu synchronisieren.
Notwendig sind dafür auf militärischer Seite Führungseinrichtungen, die zweierlei leisten: Zum einen müssen sie die nationale Befehlsgewalt durchhaltefähig und ohne Unterstellungswechsel aus der Grundstruktur heraus wahrnehmen. Zum anderen müssen sie sie mit eigenen Planungskapazitäten auf den verschiedenen Ebenen in die Nato-Operationsführung einbetten können.
Eingeleitete Anpassungen im Bereich der Streitkräfte
Vor diesem Hintergrund ist die Initiative der Inspekteure des Heeres und der Luftwaffe zu verstehen. Sie haben im Februar angekündigt, wieder nationale Führungseinrichtungen in die Strukturen ihrer Organisationsbereiche zu integrieren. Dadurch gewinnen die Inspekteure die Fähigkeit, den Einsatz ihrer Truppen selbst planen und führen zu können. Aus den heutigen Strukturen ihrer Kommandos heraus ist dies nicht ohne weiteres möglich, weil unter anderem angemessene Führungs- und Kontrolleinrichtungen fehlen. Außerdem passt die ministeriell anmutende Referatsstruktur der Kommandos nicht zur militärischen Gliederungsart der ihr unterstellten Verbände. Es liegt also ein Schnittstellenproblem vor.
Die nun beschlossenen Schritte der Luftwaffe und des Heeres eignen sich, diese Mängel zu beheben und so die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu erhöhen. Sinnvoll erscheint, diese Führungselemente als rein operative Kommandos aufzustellen und nicht als zusätzliche Ebene in die vorhandenen Strukturen zu übernehmen. Letzteres könnte dazu führen, die bestehende bürokratische Überorganisation zu verstärken, die der Wehrbeauftragte schon mehrfach angemahnt hat. Grund dafür wären die umfangreichen Aufgaben, die mit der sogenannten truppendienstlichen Zuständigkeit einhergehen. Zum Beispiel wären auch Personalmanagement, Materialbewirtschaftung und Ausbildungsplanung in all ihren Facetten für den Grundbetrieb zu leisten. Eine Fokussierung auf rein operative Tätigkeiten würde so konterkariert.
Notwendige Veränderungen im Ministerium
Nicht nur die Führungsorganisation der Streitkräfte muss angepasst werden: Auch das BMVg selbst verfügt derzeit noch nicht über eine Einrichtung, die es durchgängig ermöglicht, die Bundeswehr in allen Lagen zu führen. Eines der Ziele der Neuausrichtung von 2010 bestand darin, die Zahl der Stellen im Ministerium von 3 500 auf 2 000 zu reduzieren und es in neun Abteilungen neu zu strukturieren. Gleichzeitig ist der Generalinspekteur (GenInsp) höchster militärischer Vorgesetzter und Angehöriger der Leitung des BMVg geworden. Organisationselemente wie der Planungsstab und der Einsatzführungsstab sind indes aufgelöst und deren Aufgaben auf unterschiedliche Bereiche im Haus verteilt worden.
Damit kann weder der GenInsp noch der Verteidigungsminister als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK) auf eine zentrale Führungs- und Steuerungseinrichtung zurückgreifen, die über den normalen ministeriellen Arbeitsabläufen steht. Zwischenzeitlich ist die Anzahl der Abteilungen auf zehn, die der Mitarbeiter auf 2 500 gestiegen; Führungseinrichtungen für den GenInsp und die Ministerin, die über den Anspruch eines Lagezentrums hinausgehen, sind jedoch nicht geschaffen worden.
Dies wiegt für das BMVg besonders schwer, bedenkt man die Rolle des IBuK: Im Frieden, das heißt für den Inlandsbetrieb und für die Einsätze, liegt die Befehls- und Kommandogewalt bei der Ministerin. Mit der Feststellung des Verteidigungsfalles geht sie auf die Bundeskanzlerin über. Notwendig ist also ein Element, das unabhängig von Lage und Rechtszustand fähig ist, den IBuK und nicht nur den Verteidigungsminister auf strategischer Ebene zu beraten und Führung zu ermöglichen.
Mit den komplexen ministeriellen Strukturen ist dieser Rollenwechsel nicht zu bewerkstelligen. Zweckmäßig erscheint ein militärisch gegliederter Stab, der dem GenInsp im BMVg als strategisches Führungselement unterstellt ist und aus den zurzeit existierenden Abteilungen des Ministeriums gebildet wird. Ein so zusammengesetztes Element wäre zudem die Schnittstelle zur strategischen Führungsebene der Nato und könnte im Verteidigungsfall nahtlos der Bundeskanzlerin unterstellt werden.
Gesamtstrukturen verschlanken und Schnittstellen anpassen
Eine Veränderung der Führungsorganisation der Bundeswehr kann langfristig nur erfolgreich sein, wenn auch die bestehende Binnengliederung reformiert wird. Der Geschäftsbereich des BMVg gliedert sich in sogenannte Organisationsbereiche; neben den sechs militärischen zählt die Bundeswehr fünf zivile: Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung (AIN), Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen (IUD), Personal, Rechtspflege, Militärseelsorge. Plakativ ausgedrückt hat die Bundeswehr damit mehr als doppelt so viele Organisationsbereiche wie Panzerbataillone.
Hinzu kommen sechs Einzeldienststellen, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung außerhalb dieser Strukturen stehen und dem GenInsp direkt unterstellt sind, zum Beispiel das Einsatzführungskommando und die Führungsakademie der Bundeswehr. Jeder Organisationsbereich genießt weitreichende Regelungsbefugnisse, die teilweise über den eigenen Bereich hinausgehen und in die anderen hineinwirken.
Das daraus entstehende Kompetenz- und Bürokratiegeflecht ist äußerst komplex und läuft erst auf der Ebene der Leitung des Ministeriums zusammen. Dieser Zustand fällt vor allem dann ins Gewicht, wenn Aufgaben nur im Verbund von militärischen und zivilen Anteilen der Bundeswehr und unter Zeitdruck zu bewältigen sind – wie im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung. Im Vergleich mit anderen Nato-Staaten findet sich keine andere Armee, die so diversifiziert aufgestellt ist und der dennoch das zentrale Führungselement fehlt, das unterhalb der ministeriellen Ebene Führungsaufgaben wahrnehmen könnte.
Eine Anpassung der Führungsorganisation darf daher erstens nicht nur auf die Streitkräfte beschränkt bleiben, sondern muss auch die zivilen Organisationsbereiche analysieren. Zweitens ist eine strukturelle Reform nötig: Die heute existierenden militärischen Organisationsbereiche sollten nicht als gegeben hingenommen und nur punktuell um Führungseinrichtungen ergänzt werden. Davon unabhängig erscheint es drittens zielführend, ein Führungskommando auf operativer Ebene zu schaffen. Ihm wären die Streitkräfte im Grundbetrieb unterstellt sowie die für den Einsatz erforderlichen Teile der Verwaltung.
Es wird nicht gelingen, die neuen Herausforderungen durch eine Renaissance der Strukturen des Kalten Krieges zu meistern. Die deutschen Streitkräfte wären im Verteidigungsfall immer durch Nato-Elemente geführt worden. Aber auch die Nato hat sich einem Strukturwandel unterzogen. Die Kompetenzen des Supreme Allied Commander Europe sind seit 1990 begrenzt, zusätzlich politische Genehmigungsverfahren eingeführt worden. Eine nahtlose Übernahme der Führungsverantwortung durch die Nato ist kein alltägliches, weil regelmäßig geübtes Verfahren mehr. Verlässliche nationale Strukturen können diese Lücke überbrücken und zur Abschreckung beitragen.
Mögliche Roadmap und Handlungsempfehlungen
Kurzfristig ist es sinnvoll, die vorhandenen Strukturen so umzugliedern, dass auf Ebene der Inspekteure Führungseinrichtungen mit militärischer Gliederung entstehen, im Hinblick auf die Interoperabilität mit Nato-Einrichtungen in den dort üblichen Strukturen. Damit würde die bisherige prozessorientierte Gliederung aufgebrochen.
Mittel- bis langfristig muss die Gesamtstruktur des Geschäftsbereichs des BMVg verändert werden. Dies bedeutet eine Reduzierung und Neukonzeption der militärischen und zivilen Organisationsbereiche. Deren Anzahl von zurzeit elf ist im Verhältnis zur Gesamtstärke der Bundeswehr zu hoch. Darüber hinaus wäre mittelfristig ein Führungskommando für die Streitkräfte oberhalb der Organisationsbereiche wichtig und angezeigt, ferner die Einrichtung eines militärischen Führungsstabes auf ministerieller Ebene. Die Bundeswehr gewönne dadurch auf allen Ebenen an Handlungsfähigkeit und näherte sich den international gängigen Strukturen an, was Interoperabilität verbessern würde.
Die Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung ist mehr als eine weitere Streitkräftereform, vielmehr eine gravierende Änderung in der strategischen Ausrichtung der Bundeswehr. Dafür muss diese als Ganzes angepasst werden. Eine solche Strukturreform wäre eine richtungsweisende Weichenstellung in der strategischen Frage, wie eigenständig handlungsfähig die Bundeswehr sein soll. Darin liegt die besondere sicherheitspolitische Dimension der Thematik. Diesen Prozess gilt es politisch aktiv zu gestalten und über viele Jahre konsequent zu verfolgen.
Dominic Vogel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A25