Große Probleme führen nicht notwendigerweise zu Protesten. Und heftige Proteste lassen nicht immer auf große Probleme schließen. Claudia Zilla beschreibt am Beispiel Brasiliens, welche Dynamiken stattdessen eine Rolle spielen.
Kurz gesagt, 19.06.2014 Research AreasClaudia Zilla
Große Probleme führen nicht notwendigerweise zu Protesten. Und heftige Proteste lassen nicht immer auf große Probleme schließen. Claudia Zilla beschreibt am Beispiel Brasiliens, welche Dynamiken stattdessen eine Rolle spielen.
Als in Brasilien vor einem Jahr Massenproteste aufflammten, zog dies die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das südamerikanische Land. Dieser Fokus hat sich im Zuge der Männer-Fußball-Weltmeisterschaft noch einmal verschärft. Nachdem die aufstrebende Macht Südamerikas über Jahre positiv bewertet oder sogar überschätzt wurde, wird seit Juni 2013 unter nun zum Teil übertrieben kritischen Schlagzeilen in Presseartikeln danach gefragt, was in Brasilien falsch läuft. Zweifelsohne weist die fünftgrößte Demokratie der Welt erhebliche soziale, wirtschaftliche und politische Defizite auf. Diese sind jedoch nicht neu und liefern auch keine ausreichende Erklärung dafür, warum Brasilianerinnen und Brasilianer ihrer Unzufriedenheit (erst) seit einem Jahr Luft machen.
Die Sozialwissenschaften machen wiederholt die bittere Erfahrung, dass es extrem schwierig ist vorherzusagen, wann es Menschen bzw. gesellschaftliche Gruppen reicht, und was den Ausschlag gibt, sich zu mobilisieren. Zum einen liegt das daran, dass potenzielle Protestbewegungen selten homogen sind; vielmehr bestehen sie in der Regel aus verschiedenen sozialen Sektoren und politischen Gruppen mit zum Teil abweichenden Motivationen und Zielen. Im Verlauf einer Mobilisierung kann sich deren Zusammensetzung verändern. In Brasilien etwa treten nun an die Stelle der diffusen Masse, die zu Beginn der Demonstrationen ihr allgemeines Unbehagen mit der Demokratie und den ausbleibenden Reformen zum Ausdruck brachte, klar identifizierbare Interessengruppen mit konkreteren Forderungen, wie etwa das Bodenpersonal an den Flughäfen, die U-Bahn-Fahrer bzw. Gewerkschaften. Zum anderen wird nicht jedes realexistierende Defizit von Bürgerinnen und Bürgern als Problem wahrgenommen – oder zum Problem für die Politik. Und nicht jedes politisierte Problem wird zur Quelle eines Unbehagens, das Menschen in Bewegung setzt. Was ist und wann fällt der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt?
Auch positive Entwicklungen führten in Brasilien zu hohen Erwartungen
Auf diese Frage kann es insbesondere im Falle Brasiliens, einer Gesellschaft, die stark konsensorientiert ist, nur eine komplexe Antwort geben. Die letzten nennenswerten Demonstrationen fanden im Jahr 1992 gegen die Regierung von Fernando Collor de Mello statt. Heute beklagen Protestierende die grassierende Korruption, die schlechte Qualität der Leistungen im öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssektor sowie die fehlenden Investitionen in sozialrelevante Infrastruktur. Dies sind keine neuen, sondern langanhaltende strukturelle Missstände, die weiterhin bestehen – selbst nach einer Dekade des Wachstums mit der Inklusion von Benachteiligten. Die Empörung trifft nun eine Regierungskoalition um die Arbeiterpartei (PT), die seit 2003 an der Macht ist und seitdem spürbare soziale Verbesserungen herbeigeführt hat. So hat sie etwa Sozialprogramme und die soziale Sicherung ausgebaut, die Formalisierung der Arbeit vorangetrieben und den Mindestlohn systematisch erhöht. Armut und soziale Ungleichheit konnten auf diese Weise im letzten Jahrzehnt stark reduziert, die Kindersterblichkeit gesenkt und die Lebenserwartung gesteigert werden. Diese positiven Entwicklungen führen aber gleichzeitig zur Verschiebung und Steigerung von Erwartungen: Nachdem die Kaufkraft gewachsen und der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung erweitert worden ist, wollen die Menschen nun, dass die Regierung ernsthaft die Korruption bekämpft und sich darum kümmert, dass öffentliche Schulen und Krankenhäuser besser werden. Im gleichen Zuge verschlechterte sich die Stimmung in der Bevölkerung.
Die globalen Medienereignisse fördern die Eskalation
Protest lässt sich also weniger durch die ihm zugrundeliegenden Probleme, als durch eine Dynamik erklären, die sich aus dem Zusammentreffen einer Stimmungslage in der Bevölkerung mit Umständen, die zu deren Eskalation führen, ergibt. In Brasilien traf eine große Unzufriedenheit auf zwei globale Medienereignisse, den FIFA-Konföderationen-Pokal im Juni 2013 und die WM in diesem Jahr – und schlug in Empörung um. Diese Ereignisse wirkten in doppelter Hinsicht als »Funke« für die Entfachung von Protesten und wirken noch: An ihnen lassen sich zum einen die fragwürdigen Prioritäten der brasilianischen Regierung besonders gut ablesen, wenn es darum geht, Steuergelder auszugeben, für öffentliche Sicherheit zu sorgen, Stadtentwicklung zu betreiben sowie Innen- und Außenpolitik zu vereinbaren. Zum anderen erhöhen sie die Chancen von Protestaktionen, medial und politisch beachtet zu werden. Heute wird über Brasilien viel gesprochen und geschrieben, die brasilianische Regierung ist besonders »erpressbar«.
Die Proteste sind allerdings keineswegs bloßer Ausdruck einer momentanen Empörung. Sie entfalten auch eine eigene Dynamik, im Zuge derer sich Wahrnehmungen der Bevölkerung, etwa der Regierungsperformance, verändern. So hängt der Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober nicht nur von den sozioökonomischen Leistungen oder den ausbleibenden Reformen der PT-Regierung ab. Auch die Stimmungslage in der Bevölkerung wird eine gewichtige Rolle spielen. Sie wird von den gewachsenen Erwartungen, der Entwicklung der Proteste, der Reaktion der Regierung auf dieselben und nicht zuletzt vom Abschneiden der brasilianischen Fußballmannschaft bei der WM bedingt.
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