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Bangladeschs ungewisse Zukunft

Ein neues politisches System mit alten Parteien

SWP-Aktuell 2024/A 60, 27.11.2024, 4 Pages

doi:10.18449/2024A60

Research Areas

Die von Nobelpreisträger Mohammed Yunus geführte Übergangsregierung in Bangla­desch steht vor einer Her­kulesaufgabe. Sie soll das demokratische System gemäß den Vorstellungen der unterschiedlichen politischen Strömungen, die an der Regierung teilhaben, reformieren. Ein Ziel ist es, eine erneute parteipolitische Instrumentalisierung staatlicher Institutionen zu verhindern und somit die Grundlage für eine neue politische Kultur zu legen. Des Weiteren muss die Regierung die wirtschaftliche Krise bewältigen. Und schließlich muss sie ihre außenpolitischen Interessen definieren und die Beziehungen zu Akteuren wie Indien, den USA, China und Russ­land neu austarieren. Deutschland und Europa muss daran gelegen sein, dass die Reformen die Unabhän­gigkeit der demokratischen Institutionen in dem muslimischen Land stärken und die sozialen Errungenschaften, zum Beispiel bei der Frauenförderung, bewahrt werden.

Der Sturz von Premierministerin Sheikh Hasina am 5. August beendete die Herrschaft der Awami-Liga (AL). Ausschlaggebend für das rasche Ende war, dass die Armee der Premierministerin die weitere Unterstützung für eine gewaltsame Niederschlagung von Protesten versagte. Bis zu Hasinas Flucht kamen mindestens 737 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt oder in­haf­tiert. Die Proteste hatten sich im Som­mer an der Ankündigung entzündet, eine Quotenregelung wiedereinzuführen, der zufolge 30 Prozent der Stellen im öffent­lichen Dienst für die Nachkommen der Frei­heitskämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg 1971 reserviert worden wären, die traditionell der AL nahestehen. Getragen wurden die Proteste von der Gruppierung Studierende gegen Diskriminierung (Stu­dents against Discrimination, SAD), der sich aber auch verschiedene Oppositionsparteien wie die Bangladesh Nationalist Party (BNP) und die verbotene Jamaat-e-Islami (JI) an­schlossen.

Die Reformansätze

Der 84-jährige Muhammad Yunus wurde als Chef der Übergangsregierung in Bangla­desch ausgewählt, da er als Friedensnobel­preisträger und Gründer der Grameen Bank hohes Ansehen im In- und Ausland ge­nießt. Sein Engagement für soziale Gerech­tigkeit und wirtschaftliche Entwicklung machte ihn zum idealen Kandidaten, um das Land in dieser Übergangsphase zu stabi­lisieren und nach außen zu vertreten. Be­sonders wichtig für das extrem politisierte und polarisierte Land ist, dass Yunus als politisch unparteiisch gilt. Sein Alter macht es zudem unwahrscheinlich, dass er noch eigene politische Ambitionen bei zukünf­tigen Wahlen hat. Gleichzeitig besteht die Sorge, dass ohne Yunus politische Konflikte erneut aufbrechen könnten, wenn Refor­men nicht gelingen.

Neben Yunus besteht die Übergangs­regierung aus Vertreterinnen und Vertretern des öffentlichen Lebens und der Studie­rendenbewegung. Obwohl keine offiziellen Repräsentanten der BNP oder JI in der Regie­rung sitzen, deuten die Hintergründe der meis­ten ernannten Personen auf Ver­bin­dungen zu diesen Parteien hin.

Eine der ersten Fragen, mit denen sich die Übergangsregierung befassen muss­te, war die nach den nächsten Wahlen. Wäh­rend die BNP auf rasche Neuwahlen dräng­te, forder­ten die Vertreter der Studierenden­bewe­gung ähnlich wie die JI mehr Zeit für umfassende Reformen.

Die Übergangsregierung hat eine Reihe von Kommissionen eingerichtet, die die ge­plante Reformagenda abstecken. Die Refor­men sollen unter anderem das Justizsystem, die Polizei, die Wahlkommission, die Ver­fassung sowie die Bekämpfung der Korrup­tion betreffen. Sie zielen kurzfristig darauf ab, den politischen Einfluss der AL zurück­zudrängen, und sollen langfristig die er­neute Dominanz einer Partei verhin­dern. Nach ihrer Wiederwahl 2008 hatte Sheikh Hasina wichtige Positionen in Justiz, Ver­waltung und in den Sicherheitskräften mit Parteikadern der AL besetzt. Gesetze wie der Digital Security Act hatten zudem die Presse- und Meinungsfreiheit stark ein­geschränkt. Zehntausende Oppositionelle wurden verhaftet, einige verschwanden spurlos. Schätzungen zufolge wurden über 2.500 Menschen von Sicherheitskräften außergerichtlich ermordet. Es ist offen, ob es mit den Reformen wirklich gelingt, den parteipolitischen Einfluss zu schwächen, oder ob es nach der nächsten Wahl erneut zu einer politischen Instrumentalisierung der Institutionen kommt – lediglich unter anderen Vorzeichen.

Alte Dynastien, neues Führungspersonal

Seit dem Übergang zur Demokratie 1990/91 war die politische Entwicklung Bangladeschs von der Rivalität zwischen der AL und der BNP geprägt. Zwischen 1991 und 2014 wechselten sich beide Parteien nach jeder Wahl in der Regierung ab. Dabei besetzten sie staatliche Institutionen mit eigenen Mit­glie­dern, um sich Zugang zu Ressourcen zu sichern, und etablierten jeweils ein klien­te­lis­tisches Macht­system. Diese partei­poli­tische Einflussnahme betraf auch andere öffent­liche Bereiche wie den Transport­sektor, die Gewerkschaften, Medien und Universitäten. Beide Parteien setzten auch immer wieder Gewalt als Mittel der poli­tischen Auseinandersetzung ein.

Verschärft wurde die politische Konkurrenz durch die persönliche Feindschaft der beiden Parteiführerinnen Sheikh Hasina (AL) und Khaleda Zia (BNP). Hintergrund war die umstrittene Rolle von Ziaur Rahman, dem ersten Militärmachthaber und Ehe­mann von Khaleda Zia, bei der Ermordung von Mujibur Rahman, dem Staatsgründer Bangladeschs und Vater von Sheikh Hasina, im Jahr 1975.

Die Flucht von Sheikh Hasina nach In­dien läutet vermutlich auch das Ende ihrer politischen Fehde mit Khaleda Zia ein. Das stark dynastische Gepräge der Politik der beiden großen Parteien dürfte jedoch fort­bestehen. Die Lage innerhalb der AL ist der­zeit von Unsicherheit geprägt. Als mög­liche Nachfolger von Sheikh Hasina gelten ihre Schwester Sheikh Rehana, ihr Sohn Sajeeb Wazed Joy sowie ihre Tochter Saima Wazed. Die Flucht von Sheikh Hasina hat zahl­reiche Parteimitglieder verärgert, da viele nicht rechtzeitig fliehen konnten und ver­haftet wurden oder untergetaucht sind. Unklar ist auch, ob und inwieweit AL-Mit­glieder für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Nach dem Verbot der Studierendenorganisation der AL hat sich eine Debatte über ein grund­sätzliches Ver­bot der Partei entwickelt. Die Übergangs­regierung hat bereits eine Reihe von Maß­nahmen veranlasst, um den poli­tischen Kult, den die AL in den letzten Jah­ren um ihre Führungsfiguren betrieben hat, zurück­zudrängen. So wurden unter ande­rem mehrere Feiertage, die mit AL-Führern verknüpft waren, wieder abgeschafft.

In der BNP dürfte Khaleda Zia nach dem Ende ihres Hausarrests die Führung der Partei an ihren Sohn Tarique Rahman ab­geben, der sich aus Furcht vor möglichen Gerichtsverfahren in den letzten Jahren im Exil in London aufhielt. Als designierter Anführer der größten Oppositionspartei Bangladeschs wird er den Anspruch er­heben, nach den Wahlen die Regierungs­geschäfte zu übernehmen. Unklar ist aller­dings, ob die Parteiführung noch die Kon­trolle über ihre Kader hat. Es gibt vermehrt Berichte, dass vereinzelt BNP-Funktionäre teil­weise schon Bereiche übernommen haben, die vorher von der Awami League dominiert waren.

Die Jamaat-e-Islami (JI) ist die wichtigste religiöse und zugleich umstrittenste Partei im politischen Spektrum des Landes. Sie stellte sich 1971 gegen die Unabhängigkeit und kollaborierte mit Pakistan. Mehrere ihrer Führer wurden später wegen Kriegs­verbrechen entweder zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt. Das von der AL 2009 eingerichtete International Crimes Tribunal (ICT) wurde allerdings von inter­nationalen Menschenrechtsorganisationen kritisiert.

Die interne Organisation der JI gilt als diszipliniert und demokratisch. Die Partei blieb während ihrer Regierungsbeteiligung in der BNP-Koalition von 2001 bis 2006 von Korruptionsskandalen verschont, obwohl Bangladesch als eines der korruptesten Län­der gilt. Das langfristige politische Ziel der JI ist die Transformation Bangladeschs in einen islamischen Wohlfahrtsstaat. Unklar ist, was dies für Frauenrechte, religiöse Minder­heiten und andere gesellschaftliche The­men bedeutet. Die JI verfügt traditionell nur über eine begrenzte Wählerbasis und gewann bei der Wahl 2008 nur 4,5 Prozent der Stimmen. Das entschlossene Engagement der Studierendenorganisation der Partei während der gewaltsamen Auseinandersetzungen und ihre Rolle als Hauptziel der Repressionen durch die Awami League haben das gesellschaftliche Anse­hen der Partei verbessert. So soll ihre Mitgliederzahl von knapp 24.000 im Jahr 2008 auf circa 73.000 im Jahr 2023 gestiegen sein. Ob sich dieses neue Image als potentielle dritte Kraft auch in Wahlergebnissen widerspiegeln wird, dürfte davon abhängen, ob und wie die Parteiführung die Rolle der Partei im Un­abhängigkeitskrieg von 1971 aufarbeitet und ob sie ihre Loyalität zur Nation über­zeugend darlegen kann.

Die wirtschaftliche Dimension

Trotz des parteipolitischen Streits verzeichnete Bangladesch von 2010 bis 2023 ein jährliches Wirtschaftswachstum von 6,4 Pro­zent. Zugleich sank die Armut in dieser Zeit von knapp 50 Prozent auf circa 30 Prozent. Eine Reihe von Sozialindikatoren wie Kinder­sterblichkeit weisen mittlerweile bes­sere Werte auf als in Indien. In den letz­ten Jahren verschlechterte sich die wirt­schaft­liche Lage indes wieder. Grund dafür sind die Folgen der Pandemie – wie der zeit­weilige Zu­sammenbruch der Textilindustrie – und die Auswirkungen des Ukraine­kriegs. Letzterer führte zu einem Anstieg der internationalen Energie- und Getreidepreise und der Inflation, was die wirtschaftliche Situation weiter eintrübte.

Die Übergangsregierung plant, bis zu acht Milliarden US-Dollar an internatio­nalen Finanzhilfen zu mobilisieren, um den wirt­schaftlichen Druck, der durch Miss­manage­ment und die stark gestiegenen Kosten für Treibstoff- und Nahrungsmittel­importe ent­standen ist, zu lindern. Yunus hat bereits eine Zusage für einen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar von der Welt­bank eingeholt. Der IWF hatte unter der gestürzten Regierung Hasina schon 2,3 Mil­liarden US-Dollar im Rahmen eines geneh­migten 4,7-Milliarden-Dollar-Programms zur Verfügung gestellt. USAID hat 202 Mil­lionen US-Dollar Entwicklungs­hilfe zu­gesagt. Deutschland unterstützt Projekte im Bereich erneuerbare Energien mit insgesamt einer Milliarde Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren, davon 15 Millionen Euro noch in diesem Jahr.

Gleichzeitig verhandelt die Regierung mit Russland und China über niedrigere Zins­sätze und verlängerte Kreditlaufzeiten, um die steigenden Auslandsschulden zu bewäl­tigen. Ein wirtschaftlicher Kollaps würde die Entwicklungserfolge der letzten Jahre zu­nichtemachen, Millionen Menschen wieder in Armut stürzen, die Migration verstärken und die Stabilität der Übergangsregierung gefährden. Dies könnte autoritären Kräften Auftrieb geben und die Abhängigkeit von China und Russland weiter verstärken.

Das internationale Umfeld

International ist Indien der Hauptverlierer der innenpolitischen Umwälzungen in Bang­ladesch. Sheikh Hasina galt als engste Verbündete Neu-Delhis. Indien hatte im Unterschied zur EU und den USA die Ergeb­nisse der beiden letzten Wahlen, trotz des Boykotts der Opposition, anerkannt. Sofern die Interimsregierung die Auslieferung von Sheikh Hasina beantragt, dürfte dies die Be­ziehungen zum Nachbarn weiter belasten. Indien fürchtet wiederum ein Erstarken der JI, die traditionell gute Beziehungen zu Pakistan unterhält. Zudem könnten poten­tielle Verbindungen islamistischer Grup­pen zu transnationalen Terrornetzwerken die Sicherheitsbedenken in Indien und in den westlichen Staaten erhöhen. Die Spannun­gen im Verhältnis zu Indien dürften sich auch auf die beiden Regionalorganisationen South Asia Association for Regional Cooper­a­tion (SAARC) und Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation (BIMSTEC) auswirken.

Die USA und die EU haben die autoritären Tendenzen unter Hasina kritisiert und sehen in dem Umsturz eine Chance, ihre Beziehungen zu Bangladesch zu vertiefen, insbesondere wenn demokratische Refor­men umgesetzt werden. Die EU könnte wirt­schaftliche Anreize wie das Allgemeine Präferenzsystem (Generalised Scheme of Preferences, GSP) nutzen, um eine zukünftige Regierung zur Einhaltung demokratischer Normen zu bewegen. Eine mögliche Ausrichtung Bangladeschs nach Westen könnte den Einfluss Chinas und Russlands schwächen, die in den letzten Jahren ihre ökonomischen und militärischen Beziehun­gen zu Dhaka ausgebaut haben.

Ausblick: Quo vadis, Bangladesch?

Die Übergangsregierung befindet sich auf einer Reise mit ungewissem Endpunkt. Ihr langfristiges Ziel dürfte ein Wandel der poli­tischen Kultur sein, vor allem aber die Über­windung der partei­politischen Polarisierung und die Eindämmung der grassierenden Korruption. Die Interimsregierung muss hierfür eine Balance finden zwischen den progressiven Forderungen der Studierendenbewegung, dem Machtanspruch der BNP, der religiösen Agenda der JI und der Erwartung der AL, weiterhin Einfluss zu besitzen. Ein stabilisierender Faktor ist bis­lang die Rückendeckung des Militärs, das der Übergangsregierung volle Unterstützung zugesichert hat. Für den Moment ist Yunus der Hauptgarant für Sicherheit und Verlässlichkeit. Aufgrund seines Alters wird er über die Über­gangs­regierung hinaus vermutlich kaum mehr eine politische Rolle spielen. Unklar ist bis dato auch, welche Reformen die Inte­rims­regierung letzt­endlich umsetzen und wie sie eine demo­kra­tische Legitimation hierfür erhalten kann. Deutschland und die westlichen Staaten können den Reformprozess vor allem wirtschaftlich unterstützen. Sie soll­ten auch den moderaten und demokra­tischen Gruppierungen beistehen, damit das neue Bangladesch an die Erfolge bei der sozialen Entwicklung und bei der Frauenförderung anknüpfen kann.

Dr. Julian Kuttig ist Postdoctoral Research Fellow am Department of Conflict and Development Studies, Universität Gent. Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

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