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Arktische Implikationen des russischen Angriffskrieges

Arktischer Rat im Pausenmodus, Forschung auf Eis, Zeitenwende im hohen Norden

SWP-Aktuell 2022/A 34, 25.05.2022, 4 Pages

doi:10.18449/2022A34

Research Areas

Russland hat noch bis zum Mai 2023 den Vorsitz im Arktischen Rat. Aufgrund der russischen Kriegspolitik haben aber sieben der acht Arktisstaaten ihre Mitwirkung im Rat vorläufig eingestellt. Moskau ist davon in mehrfacher Hinsicht betroffen: Politisch wird damit ein Politikfeld beschädigt, in dem die internationale Bedeutung Russlands noch ungebrochen war. Wirtschaftlich steht die Zukunft wichtiger Industrieprojekte und Absatzmärkte Russlands auf dem Spiel. Außerdem tangiert die Unterbrechung der Rats­arbeit auch Interessen anderer Staaten wie China und wirkt sich nachteilig auf die russische Position in der Arktis aus. In Wissenschaft und Forschung haben alle west­lichen Part­ner ihre Kooperation ausgesetzt. Zwar leidet Russland in besonderem Maße unter den Folgen des Klimawandels in der Arktis, doch schadet der zeitweilige Stopp klima­relevanter Forschung letztlich der ganzen Welt. Militärisch suchen Finn­land und Schweden ihren Schutz in der Nato. Das konter­kariert die ursprüngliche Absicht des Kremls, den Einflussbereich der transatlantischen Allianz zurückzudrängen. Zudem wäre Russlands Grenze mit Nato-Staaten dann doppelt so lang wie zuvor.

Die Grundprinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität bilden seit lan­gem die Basis für das Wirken des Arktischen Rates, das auf dem Konsens seiner Mitglieder beruht. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erklärten die sieben Arktisstaaten Dänemark, Finn­land, Island, Kanada, Norwegen, Schweden und die USA, sie seien weiterhin vom Wert der arkti­schen Kooperation überzeugt. An­gesichts der eklatanten Verletzung dieser Grundsätze durch Russland werden aber keine Vertreter dieser Staaten zu den Sitzun­gen des Arktischen Rates nach Russ­land reisen. Darüber hinaus bekundeten die sieben, »vorübergehend die Teil­nahme an allen Sitzungen des Rates und seiner nach­geordneten Gremien [zu unter­brechen], bis die notwendigen Modalitäten erörtert sind, die es [ihnen] ermöglichen, die wichti­ge Arbeit des Rates angesichts der aktuellen Umstände fortzusetzen«. Praktisch wurde damit die Tätigkeit des Rates und seiner Arbeitsgruppen vor­erst ein­gestellt. Russ­lands Arktisbotschafter Nikolai Kortschunow nannte dies »bedauerlich« und plädierte vergeblich dafür, die Arktis nicht den Spill­over-Effekten außerregionaler Ereignisse aus­zusetzen.

Forschung auf Eis

Die Allianz der deutschen Wissenschafts­organisationen sieht in der russischen In­vasion »einen Angriff auf elementare Werte der Freiheit, Demokratie und Selbst­bestim­mung, auf denen Wissenschaftsfreiheit und wissenschaftliche Kooperationsmöglich­keiten basieren«. Als Konsequenz empfiehlt die Allianz, »dass wissenschaft­liche Koope­ra­tionen mit staatlichen Institu­tionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres ein­gefroren werden, dass deutsche Forschungs­gelder Russland nicht mehr zu Gute kom­men und dass keine gemeinsamen wissen­schaftlichen und forschungs­politischen Veranstaltungen stattfinden. Neue Koopera­tionsprojekte sollten aktuell nicht initiiert werden«.

Sprichwörtlich auf Eis liegt nun die grenz­überschreitende amerikanisch-rus­sische Eisbärenforschung ebenso wie lang­jährige Messreihen zum Klimawandel und die jahr­zehntealte deutsch-russische For­schungs­kooperation in Sibirien. Die gesam­te Arkti­sche Zone der Russischen Födera­tion (AZRF) ist als Forschungsgebiet tabu. Forschende verlieren den Zugang zu wich­tigen Stand­orten in der russischen Arktis, und teilweise über Jahrzehnte gepflegte persönliche Be­ziehungen wurden abgebrochen. Zu Recht befürchten über 7000 Menschen, die in Wissenschaft und Medien Russlands arbei­ten und sich an einer Unterschriften­aktion gegen den Krieg beteiligten, dass Russland auf viele Jahre hinaus isoliert und geächtet werde.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stellte die Arktis ein Politikfeld dar, in dem Moskaus internationale Bedeutung ungebrochen war. Der Vorsitz im Arktischen Rat hätte Moskau die Chance gege­ben, diese Rolle auszubauen und der Welt­öffent­lichkeit die eige­nen Erfolge und Investitionen in der Nord­polarforschung zu präsen­tieren. Schon 1937 hatten sowje­tische Wissenschaftler die erste Polarstation auf einer driftenden Eisscholle errichtet. Künftig soll eine 83 Meter lange Plattform namens Nordpol der Forschung dienen, und ihre Er­probung in diesem Jahr hätte einen Höhe­punkt des russischen Vorsitzes bilden kön­nen. Die neue Plattform soll ab 2023 bis zu 24 Mona­te lang mit einem wissenschaft­lichen Team von 34 Personen (und einer Crew von 14 Personen) autonom durch das Nordpolarmeer driften. Dabei erhobene Daten werden den russischen Anspruch auf arktische Meeresgebiete untermauern, und mit dem Namen Nordpol wird die Station auch als normative Kraft des Faktischen wirken, denn schließlich ist Präsenz in der Arktis entscheidend.

Bleibt die Arktische Zone nationale Ressourcenbasis?

Die AZRF bildet einen integralen, geostrategisch und wirtschaftlich wichtigen Bestand­teil der Russischen Föderation. In dieser Zone konzentrieren sich laut Putin »prak­tisch alle Aspekte der nationalen Sicherheit« – militärische, politische, wirtschaftliche, technologische sowie jene, die Um­welt und Ressourcen betreffen.

Die Ambitionen des Kremls sind entsprechend hoch. Allerdings fanden sie bisher, wie in einer SWP-Studie festgestellt, ihre Gren­zen in der einseitigen Ausrichtung sozio­öko­nomischer Entwicklungspläne auf fossile Energieträger, in der Reduzierung der Nörd­lichen Seeroute auf den Rohstoff­trans­port sowie in hohen Kosten für militä­rische Maßnahmen gegen fiktive Gegner, selbst­verschuldete Umweltkatastrophen und administrativ bedingte Verzögerungen. Hinzu kamen die Folgen des im Mai 2021 ergangenen Urteils eines Gerichts in Den Haag gegen den Erdöl- und Erdgaskonzern Shell. Schon lange vor dem Krieg hatte dieses Urteil gravierende Auswirkungen auf Russland, weil es den Druck auf Investoren erhöhte, noch stärker auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit bedacht zu sein. Weitere Energiekonzerne und Investoren haben sich infolge von Putins Krieg völlig aus russischen Projekten zurückgezogen. Eine Ver­lagerung der Ener­gieverkäufe nach Asien erfordert mangels Pipelines mehr und teure Schiffe und trifft auf Käufer, die weder die großen Mengen abnehmen werden, die bislang nach Europa geliefert wurden, noch die hohen Preise der Europäer zu zahlen gewillt sind. Im Jahr 2021 lieferte Russland etwa 33 Milliarden Kubikmeter Gas nach Asien, während der europäische Markt bis zu 200 Milliarden Kubik­meter importierte.

Es bleibt ein unsicherer Wechsel auf die Zukunft, dass eine steigende Nachfrage in Asien die Gewinne aus dem Geschäft mit fossilen Energien weiterhin ermöglichen wird. Außerdem ist großer finanzieller und tech­nischer Auf­wand nötig, um Produktion und Transport fossiler Ressourcen sicher­zustellen und dafür die Infrastruktur auf der Haupttransportroute des nördlichen See­wegs zu modernisieren und auszubauen. Das kann Russland allein weder tech­nisch noch finanziell leisten.

Moskau bedarf mangels Alternativen besonders der Unterstützung durch Peking als strategischer Rückhalt, Technologie­lieferant und Investor. Der Krieg macht Russ­land noch abhängiger von China und stärkt Pekings Zugriff auf die AZRF als Teil der chinesischen Seidenstraßenstrategie, deren Infrastrukturprojekte stets auch macht­politische Ziele beinhalten. Das vom Krieg geschwächte Russland und seine natio­nale Ressourcenbasis drohen noch mehr unter chinesischen Einfluss zu geraten. Da­durch könn­te sich Chinas Position als »naher Arktisstaat« so weit verbessern, dass die Arktis tatsächlich eine »Arena« im Kampf um Macht und Einfluss werden kann.

Zeitenwende im hohen Norden

Aufgrund der historischen Erfahrung ist es eine bittere, von Putin provozierte Ironie der Geschichte, dass er Finnlands Bei­tritt zur Nato bewirkt hat. Noch im Januar 2022 hatten sich dort nur 28 Prozent der Befrag­ten für und 42 Prozent gegen eine Nato-Mitgliedschaft ausgesprochen. Aber schon im März 2022 wendete sich das Blatt, und im Mai lag die Zustimmung bei über 70 Pro­zent. Auch in Schweden wuchs die Zahl der Befürworter parallel zum Kriegsverlauf: Russlands Krieg hat dafür gesorgt, dass die Bevölkerung beider Länder nun mehr­heit­lich für einen Beitritt ist. Schweden und Finnland haben Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 18. Mai 2022 die Anträge auf eine Mitgliedschaft in der Allianz über­geben.

Putin will Finnland im Falle eines Beitritts als »Feind« ansehen und hat eine veri­table Drohkulisse aufgebaut. Der Präsident kündig­te nicht nur die raumnahe Stationierung russi­scher Nuklearwaffen an, sondern ließ auch ihren Einsatz in Kaliningrad mit Iskander-Raketen proben. Russ­lands höhere Risikobereitschaft, der Einsatz von 100.000 Soldaten ohne Generalmobilmachung und das »lose Gerede« über Nukle­ar­waffen und chemische Waffen seien die Gründe dafür, dass Helsinki sich der Nato angenähert habe, erklärte der finnische Außenminister Pekka Haavisto. Wie soll das Land anders als durch einen Beitritt gegen Drohungen mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen geschützt werden? Offenbar hat der Kreml die Reak­tion in Nordeuropa auf seinen Angriffskrieg und immer wieder­kehrende Drohungen ebenso unterschätzt wie in der Ukraine die Widerstandsfähigkeit von Bevölkerung und Streitkräften.

Ein Beitritt Finnlands und Schwedens macht die Nato zum dominanten Akteur in der Ostsee und bietet höheren Schutz für die baltischen Staaten. Dagegen verlängert sich Russ­lands Grenze mit Nato-Staaten auf das Doppelte, Moskau verliert diplomatische Spielräume und die russische Marine in der Ostsee als neuem Binnenmeer der Nato zunehmend ihre Bewegungsfreiheit. Diese tiefgreifende Veränderung der russi­schen Sicherheitslage ist die Folge der Fehl­entscheidungen des Kremls und der brutalen Kriegsführung russischer Streitkräfte. Sie wird den Nato-Staaten eine kluge Politik der Zurückhaltung und Wachsamkeit abverlangen.

All dies bedeutet, dass ein Konflikt in der Arktis als Ergebnis von Ereignissen außer­halb der Region nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Trotz der Wiederkehr einer Rhetorik von Eindämmung und einem Zurückdrängen russischer Mili­tärmacht, wie es US-Verteidigungs­minister Lloyd Austin vor seinem Besuch in Kyjiw im April 2022 andeutete, werden die Nato-Staaten jedoch weiter bestrebt sein, die internationale Eskalation eines Konflikts in der Arktis zu vermeiden. Allerdings wird die Arktis auch zum Bestandteil einer robusten und vernetzten Eindämmungsstrategie gegen Russland – und künftig China –, zumal sie bereits Operationsbereich der Nato ist.

Ob die Arktis wieder zur Zone der Zusammenarbeit werden wird – notfalls auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners unerlässlicher Kooperation –, weil es in schlichter realpolitischer Erkenntnis die widrigen Zustände der Arktis erfordern, ist nach Russlands Krieg eine offene Frage. Der Klimawandel schafft neue Probleme auch nichttraditioneller Sicherheit für Mensch und Umwelt und bietet daher viele Ansätze für Zusammenarbeit. Um die damit ver­bundenen Herausforderungen wirkungs­voll anzugehen, bedarf es der Kooperation. Diese aber wird von einer neuen, konfrontativen Sicherheitspolitik überlagert und droht langfristig verdrängt zu werden. Die »Pause« im Arktischen Rat ist ein Ausdruck dieser fatalen Lage.

Wie weiter?

Zwar bedeutet die Pause keinen Rückzug der sieben Arktisstaaten aus dem Arktischen Rat. Aber in der unübersichtlichen Lage des andauernden russischen Militäreinsatzes kann auch nicht bestimmt wer­den, wie lange sie dauern und unter welchen Bedin­gungen sie beendet werden kann. Ein Waf­fen­stillstandsabkommen böte eine bessere Grundlage für eine Lösung als ein militärisch »ein­gefrorener«, aber fortbestehender Konflikt. Nie­mand weiß, wann die Zeit für den Ark­tischen Rat reif sein wird, seine normale Arbeit wieder aufzunehmen: »Wir konzen­trieren uns darauf, sicher­zustellen, dass das, was wir jetzt tun, keine Hindernisse für unsere spätere Rückkehr zur Normalität erzeugen wird«, meinte Nor­wegens Arktis­botschafter Morten Høglund in diesem Sinne. Norwegens Vorsitz (2023–25) wird wohl die schwierige Auf­gabe haben, die Scherben aufzusammeln und daraus eine tragfähige Basis für die künftige Koopera­tion zu schaffen.

Zu Russland gehören etwa die Hälfte der Bevölkerung und des Territo­riums der Ark­tis. Schon deshalb kann nicht dauerhaft die Zusammenarbeit eingestellt werden. Aber welche Themen können wie, wann und mit wem in Moskau wieder mit Aus­sicht auf ein substantielles Ergebnis verhandelt wer­den? Russische Forscher haben mit einem US-Kollegen ein Thema identifiziert und einen Vorschlag zur Regelung des Umgangs mit ziviler Kernenergie in der Arktis unter­breitet. Sie knüpfen damit an die erste Ko­ope­ra­tionsvereinbarung (Arctic Military Environ­mental Cooperation) an, die 1996 den Gefahren durch radioaktive Überreste der russischen Nordflotte galt und mittelbar zur Gründung des Arktischen Rates verhalf. Außerdem greifen sie damit ein Element des Arctic Council Stra­tegic Plan auf, der als Ergebnis des islän­dischen Vorsitzes 2021 in Reykjavik beschlossen wurde. Ähnlich wie die Bekämpfung von Ölverschmutzung und Rettungseinsätze sind dies Themen, deren Bedeutung unter den Arktisstaaten unstrit­tig ist und die im Rückblick eine wesent­liche Grundlage für die erfolgreiche Koope­ration in der Arktis bildeten.

Selbst ein sofortiges Ende des russischen Krieges wird jedoch nicht einfach einen Neu­beginn der Kooperation ermöglichen. Es wird noch lange dauern, bis die Arktis wieder ein Territorium des Dialogs werden kann.

Literaturhinweis: Michael Paul, Der Kampf um den Nordpol. Die Arktis, der Klimawandel und die Geopolitik der Großmächte, Freiburg: Verlag Herder, 2022.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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