Morgen treffen sich die EU-Außenministerinnen und Außenminister, um ihre Haltung gegenüber einer israelischen Annexion von Teilen des Westjordanlandes abzustimmen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten ein unmissverständliches Signal senden, meinen Muriel Asseburg und Peter Lintl.
In diesen Tagen werden entscheidende Weichen im israelisch-palästinensischen Konflikt gestellt. Nach drei Wahlgängen und schwierigen taktischen Manövern wird heute einmal mehr eine Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu vereidigt. Das Koalitionsabkommen der Hauptpartner Likud und Blau-Weiß sieht vor, dass ab dem 1. Juli eine Vorlage zur »Anwendung israelischer Souveränität« auf Teile des Westjordanlandes zur Abstimmung gebracht werden kann, sofern die Zustimmung der US-Regierung hierzu vorliegt. Damit hat sich in Israel binnen weniger Jahre ein fundamentaler Wandel vollzogen. Der ehemalige Knesset-Sprecher Juli Edelstein (Likud) betonte, dass die Leute ihn noch für verrückt hielten, als er 2015 Annexionen forderte.
Es sieht ganz danach aus, als würden die USA den Schritt unterstützen. US-Außenminister Mike Pompeo hat verlauten lassen, dass die Entscheidung allein bei Israel liege. Schon im Januar dieses Jahres hatte US-Präsident Donald Trump seinen »Jahrhundertdeal« enthüllt, der Israel zugesteht, rund 30 Prozent des Westjordanlandes zu annektieren. Im Anschluss daran wurde ein israelisch-amerikanisches Komitee zur Ausarbeitung der territorialen Details der Annexion eingesetzt. Zwar betonen Vertreter der US-Regierung, dass Israel auch mit den Palästinensern über die Umsetzung des Trump-Planes verhandeln müsse. Das bedeutet aber nicht, dass Annexionen während der Verhandlungsphase aufgeschoben würden.
Da ein Wahlsieg Trumps alles andere als gewiss ist und Präsidentschaftskandidat Joe Biden bereits seine Ablehnung von Annexionen signalisiert hat, ist auf israelischer Seite der Druck hoch, noch vor den US-Wahlen im November dieses Jahres zur Umsetzung zu schreiten.
Sollte sich die Knesset dafür entscheiden, alle Siedlungen im Westjordanland sowie das Jordantal zu annektieren, würde dies nicht nur einen lebensfähigen palästinensischen Staat, sondern auch eine verhandelte Konfliktregelung zwischen Israel und den Palästinensern unmöglich machen. Schon jetzt sind die bürgerlichen und politischen Rechte der Palästinenser durch die Besatzungsrealität massiv eingeschränkt; das den Palästinensern zur Verfügung stehende Gebiet ist stark zersplittert. Eine Annexion würde den palästinensischen Zugriff auf die Ressourcen des Westjordanlandes weiter beschneiden. Auch wäre es für Israel als Souverän des annektierten Gebietes leichter, Besitzer palästinensischen Privatlandes zu enteignen; mit dem Regulierungsgesetz von 2017 ist hierfür bereits teilweise der Weg geebnet worden.
Wie israelische Sicherheitsexperten und ehemalige Offiziere betonen, würde eine entsprechende Annexion nicht der Sicherheit Israels dienen. Im Gegenteil: Nicht nur würde sie eine lange und schwer zu kontrollierende Grenze zu den palästinensischen Enklaven schaffen. Auch würde sie das gemeinsame Konfliktmanagement mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sowie die Friedensabkommen mit Jordanien und Ägypten unterminieren. Nicht zuletzt würde sie das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen, eines Kollapses der PA und einer Destabilisierung der jordanischen Monarchie steigern.
Darüber hinaus dürften die Annexion und die Reaktionen darauf einen Präzedenzfall schaffen, der international mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten sich daher bei ihrem Treffen am Freitag und in Abstimmung mit dem Vereinigten Königreich dazu entschließen, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen, um das Kosten-Nutzen-Kalkül der politisch Handelnden in Israel zu beeinflussen und damit die angekündigte Annexion zu verhindern.
Europa verfügt durchaus über Instrumente, das Grundprinzip des Völkerrechts, dass die Aneignung von Territorium durch Gewalt nicht zulässig ist, zu verteidigen. Gegen Russland etwa haben die Europäer in Reaktion auf die Annexion der Krim-Halbinsel einschneidende Sanktionen verhängt. Für einige europäische Staaten, nicht zuletzt Deutschland, kommen Sanktionen gegen Israel jedoch nicht in Frage. Stattdessen könnten sie aber zum Beispiel das EU-Israel-Assoziierungsabkommen aussetzen, bis greifbare Fortschritte hin zu einer Verhandlungsregelung erreicht sind. Denn die normative Basis des Assoziierungsabkommens, das auf dem Osloer Friedensprozess beruht, wird durch eine Annexion grundsätzlich verletzt.
Die Europäer sollten jedoch nicht nur ihre Ablehnung einseitiger Grenzveränderungen, sondern auch ihre Erwartungen an Israel im Falle von Annexionen formulieren. Dazu gehört die Forderung, dass Israel allen Bewohnerinnen und Bewohnern in annektierten oder permanent besetzten Gebieten Bürgerrechte gewährt und die Verantwortung für ihre Versorgung übernimmt.
Gleichzeitig sollten die Europäer klar ausbuchstabieren, was ihre Erwartungen an die PA sind: eine Überwindung der internen Spaltung, eine demokratische Erneuerung der palästinensischen Institutionen und ein konstruktives Engagement für eine Konfliktregelung. Auch gegenüber der PA darf europäische Unterstützung nicht bedingungslos gewährt werden. Gleichzeitig müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten aber überprüfen, wo sie selbst einer Umsetzung dieser Forderungen im Wege stehen.
Diese Signale werden umso klarer gehört werden, je geeinter Europa auftritt und je besser sie erläutert werden. Doch selbst wenn sich nur eine Koalition der großen Mitgliedstaaten findet, werden sie Einfluss haben.
Die Europäer sollten darüber hinaus an die Vorreiterrolle anknüpfen, die sie in der Vergangenheit – etwa mit ihrer Erklärung von Venedig 1980 – eingenommen haben. Denn es geht nicht nur darum, Annexionen zu verhindern, sondern auch eine Regelung des Konflikts zu befördern, die das Selbstbestimmungsrecht beider Völker anerkennt, individuelle Menschenrechte sowie die Sicherheit aller garantiert und die Flüchtlingsfrage so regelt, dass sowohl das individuelle Wahlrecht palästinensischer Flüchtlinge als auch die Interessen von derzeitigen und potentiellen Aufnahmestaaten, inklusive Israel, berücksichtigt werden. In diesem Sinne sollten die Europäer auf einen geeigneten multilateralen Rahmen für Verhandlungen in einer Zeit nach Trumps Präsidentschaft hinarbeiten. Dabei sollten sie alles vermeiden, was dem »Jahrhundertdeal« Legitimation verleihen könnte.
Geschichte, Positionen, Perspektiven
Mit seinem »Jahrhundert-Deal« für Nahost orientiert sich US-Präsident Donald Trump vor allem an den Wünschen der israelischen Rechten. Eine Grundlage für einen friedlichen Ausgleich bietet er nicht. Muriel Asseburg zeigt auf, warum und wie die Europäer jetzt reagieren sollten.
Der israelisch-palästinensische Konflikt spitzt sich erneut zu, auch weil die Politik der USA einer friedlichen Regelung entgegensteht. Die EU findet sich abermals im Abseits. Warum das so ist, erläutern Muriel Asseburg und Nimrod Goren.
Mit dem US-Ansatz droht der Zweistaatenregelung das endgültige Aus
doi:10.18449/2019A19
Ein Gerichtsurteil zur Umsiedlung eines kleinen beduinischen Dorfes im Westjordanland könnte strategische Bedeutung für den weiteren Verlauf des israelisch-palästinensischen Konflikts erlangen. Ein Kommentar von Lidia Averbukh.