Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die USA den multilateralen Vertrag über den Offenen Himmel (OH) verlassen werden und Russland bald folgen könnte. Damit würde Präsident Trump den Rückzug der USA aus der regelbasierten Sicherheitsordnung fortsetzen und eine weitere Bresche in die Rüstungskontrollarchitektur schlagen. Deren kontinuierlicher Abbau, ein neuer Rüstungswettlauf sowie die Rückkehr bewaffneter Konflikte und von Szenarien nuklearer Kriegsführung gefährden die europäische Sicherheitsordnung und die strategische Stabilität. Der OH-Vertrag gestattet kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten. Damit lässt sich ein Mindestmaß an militärischer Transparenz und Vertrauensbildung auch in Krisenzeiten bewahren. Dies kann nicht durch nationale Satellitenaufklärung ersetzt werden, zumal sie nur wenigen Staaten zur Verfügung steht. Eigenständige Beobachtungsoptionen sind gerade für Bündnispartner in Spannungsregionen wichtig. Deutschland muss sich gemeinsam mit den europäischen Partnern nachdrücklich dafür einsetzen, den OH-Vertrag zu erhalten.
Im Oktober 2019 erklärte Präsident Trump öffentlich seine Absicht, den Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies) zu kündigen. Die Nato wurde im November offiziell über dieses Vorhaben informiert. Der OH-Vertrag, so das Weiße Haus, habe keinen strategischen Nutzen mehr für die USA, da sie bessere Beobachtungsergebnisse mit Satelliten erzielen könnten. Zudem argwöhnen republikanische Senatoren seit langem, dass Russland OH-Beobachtungsflüge über den USA zur »Spionage« nutze. Der demokratisch dominierte Kongress will jedoch über eine Kündigung mitbestimmen.
Laut Verteidigungsminister Mark Esper können die USA nicht länger hinnehmen, dass Russland den Vertrag nicht angemessen implementiert. Es habe unzulässigerweise die Flugstrecken über der Exklave Kaliningrad eingeschränkt und einen zehn Kilometer breiten Streifen an den umstrittenen Grenzen Georgiens festgelegt, der nicht überflogen werden darf. Hintergrund ist der Konflikt um Abchasien und Südossetien.
Zwar teilen auch die Nato-Verbündeten diese Bedenken, doch hat nur Georgien erklärt, es handle sich um einen substantiellen Vertragsbruch. 2012 hat Tiflis deshalb den OH-Vertrag gegenüber Russland einseitig suspendiert. Die USA haben russische OH-Flüge über Alaska und den pazifischen Inseln seit 2017 eingeschränkt.
Zweck und Regeln des OH‑Vertrags
Der OH-Vertrag erlaubt kooperative Beobachtungsflüge über den Territorien der Vertragsstaaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er dient der Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten und der zusätzlichen Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen. Damit trägt er – auch durch unmittelbare militärische Kontakte – zur Vertrauensbildung und zu einer realistischen Lagebeurteilung bei.
Der Vertrag wurde 1992 unterzeichnet und zehn Jahre lang vorläufig angewendet. Er trat 2002 in Kraft, als 26 von 27 Signatarstaaten die Ratifikationsverfahren abgeschlossen hatten, unter ihnen auch Russland, nachdem Wladimir Putin Präsident geworden war. Zu den derzeit 34 Vertragsstaaten zählen fast alle Nato-Staaten (außer Albanien, Montenegro und Nordmazedonien), die EU-Staaten Finnland und Schweden sowie Russland, Belarus, die Ukraine, Bosnien-Herzegowina und Georgien.
Die Zahl der zulässigen Beobachtungsflüge richtet sich nach einem Quotensystem, das die Größe der Staaten berücksichtigt. Über den USA und Russland, das mit Belarus eine Vertragsunion bildet, sind jeweils 42 Beobachtungsflüge pro Jahr möglich, über Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Ukraine und Türkei jeweils 12. Für die übrigen Staaten gelten abgestufte Regelungen bis zu nur zwei Flügen für kleinere Staaten wie Portugal.
Kein Vertragsstaat darf mehr Beobachtungsflüge durchführen, als seine »passive« Quote es anderen erlaubt, über dem eigenen Gebiet zu fliegen. Zudem darf jeder Vertragsstaat nur 50% seiner aktiven Quote für Flüge über einem anderen Vertragsstaat verwenden. Daher können die USA und Russland jeweils maximal 21 Beobachtungsflüge pro Jahr für gegenseitige Überflüge nutzen. Dennoch kann die passive Quote von 42 Flügen über Russland voll ausgeschöpft werden, da es regelmäßig auch von Flugzeugen der Nato-Partner sowie Finnlands, Schwedens und der Ukraine überquert wird. Dagegen finden weitaus weniger OH-Flüge über den USA statt, da die Verbündeten sich nicht gegenseitig verifizieren.
Der OH-Vertrag gestattet es, für Beobachtungsflüge bestimmte Sensoren zu nutzen, die eine festgelegte Bildauflösung aus einer Bandbreite von Flughöhen nicht überschreiten dürfen. Für analoge und digitale Bild- und Panoramakameras sowie Videokameras mit Echtzeitwiedergabe ist jeweils eine Auflösung von bis zu 30 cm zulässig. Dies entspricht der Auflösung der besten kommerziellen Satellitenbilder. Die Zertifizierung digitaler Kameras hat begonnen. Für die Zukunft sieht der Vertrag auch nachtsichtfähige Infrarotkameras mit einer Auflösung von 50 cm und seitwärts gerichtete Radarsysteme (Synthetic Aperture Radar) mit einer Auflösung von drei Metern vor. Solche Systeme sind aber noch nicht eingeführt.
Nicht alle Vertragsstaaten verfügen über eigene OH-Beobachtungsflugzeuge oder eigene Sensoren. In der sogenannten Pod-Gruppe verwenden neun Staaten gemeinsam eine Luftbildkameraausrüstung. Zudem lässt der Vertrag es zu, Flugzeuge von Drittstaaten oder des beobachteten Staates zu nutzen, die für Beobachtungsflüge zertifiziert wurden. Deutschland musste diese Optionen nach dem Absturz des nationalen OH-Flugzeugs 1997 in Anspruch nehmen.
Ein neues deutsches OH-Flugzeug (Airbus 319) wurde 2017 beschafft und dürfte Mitte 2021 für den Einsatz zur Verfügung stehen. Damit wird Deutschland für den Fall einer Krise mehr Flexibilität gewinnen, Beobachtungsflüge rasch und ohne langwierige Koordinierung mit Partnern zu organisieren. Gleichwohl bleibt das Angebot der Kooperation mit anderen interessierten Staaten erhalten, sei es durch die Anmietung des deutschen Flugzeugs oder die bewährten Mitflüge von »Gastbeobachtern«.
OH-Beobachtungsflüge werden nach kurzer Ankündigung gestartet. Die Absicht dazu muss der beobachtende dem beobachteten Staat mindestens 72 Stunden im Voraus mitteilen. Allerdings wird ihm die Auswahl der Flugstrecke erst zur Kenntnis gegeben, nachdem die Beobachter am vertraglich festgelegten Ankunftsort im beobachteten Staat eingetroffen sind.
Nach Bekanntgabe der Flugstrecke erfolgt ein Abstimmungsprozess, der nicht länger als acht Stunden dauern darf. Der beobachtete Staat darf die geplante Strecke nur im Falle höherer Gewalt verändern oder wenn die Flugsicherheit dies unabweisbar erfordert. 24 Stunden nach Vorlage des Flugplans kann der Beobachtungsflug begonnen, spätestens 96 Stunden danach muss er abgeschlossen werden. Dies beschränkt die Möglichkeiten des beobachteten Staates, wesentliche Veränderungen am Boden vorzunehmen, etwa größere Truppenverlegungen.
OH-Beobachtungsflüge sind daher auch flexibler als Satelliten, denn deren Energiereserven sind begrenzt und erlauben nur wenige Veränderungen der festgelegten Umlaufbahnen. Dagegen können OH-Flüge kurzfristig und lageangemessen über einem Gebiet nach Wahl des beobachtenden Staates erfolgen. Die Beobachtung im vereinbarten Höhenspektrum ist auch unterhalb einer Wolkendecke möglich, welche die optische Satellitenbeobachtung behindert.
Transparenz ist nicht Spionage
Im November 2019 erklärte ein höherer Beamter der Trump-Administration, Russland nutze den OH-Vertrag zur Spionage. 2017 habe es Flüge über Washington durchgeführt und unerlaubt kritische militärische und politische Infrastruktur beobachtet. Das schien frühere Vorwürfe republikanischer Senatoren zu bestätigen.
Doch der Spionagevorwurf geht ins Leere. Beobachtungsflüge werden nicht nur kooperativ vereinbart, sondern finden auch gemeinsam statt. Neben den Beobachtungsteams sind stets Begleitteams des beobachteten Staates an Bord. Sie überwachen, dass die Vertragsbestimmungen eingehalten werden. OH-Flugzeuge, Kameras und Sensoren werden nur dann zugelassen, wenn sie von den Vertragsstaaten zertifiziert und vor den Flügen vom Begleitteam überprüft wurden.
Die Auflösung der Sensoren reicht aus, um Raketentypen, Kampfpanzer, Schützenpanzer, andere gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme, Flugzeug- oder Hubschraubertypen voneinander zu unterscheiden. Sensible Informationen über Funk- und Radaremissionen oder die Software von Zielerfassungs- und Leitsystemen können dagegen nicht detektiert werden.
Neben Staaten, die an einem Beobachtungsflug teilnehmen, erhalten auch alle anderen Vertragsstaaten den Missionsbericht. Zudem können sie die gewonnenen Bildsequenzen auf Anforderung erwerben. Damit werden die Ergebnisse der Beobachtungsflüge mit 34 Staaten geteilt und die Erkenntnisse über militärische Aktivitäten und die Implementierung von Rüstungskontrollabkommen multilateralisiert. Dieses Wissen sollte allerdings auch bei den Diskussionen über die Risikoreduzierung im Forum für Sicherheitskooperation der OSZE in Wien mehr Beachtung finden. Anders als bei der Kommunikation national ermittelter Daten unterliegen Erkenntnisse aus OH-Beobachtungsflügen nämlich nicht der vorherigen politischen Auswahl und Bewertung. Dass es sich um gemeinsam erhobene Daten handelt, deren faktische Grundlage nicht bestritten werden kann, ist einer der wichtigsten Vorteile des Vertrags.
Der Vorwurf der Spionage ist ein Rückfall in die Sprache des Kalten Krieges. Damals war es der Westen, der die Sowjetunion von der vertrauensbildenden Wirkung militärischer Transparenz überzeugen musste. Diese Auffassung ist mittlerweile in Europa Allgemeingut und Grundlage aller Rüstungskontrollverträge.
Bewährte Vertragsanwendung
Seit der OH-Vertrag in Kraft trat, haben die Vertragsstaaten etwa 1 500 Beobachtungsflüge unternommen, davon rund 500 über Russland und Belarus mit Beteiligung von etwa 200 Missionen der USA. Dagegen hat Russland über den USA zwischen 2002 und 2016 nur ungefähr 70 Flüge durchgeführt und die Masse seiner Flugquoten für europäische Länder genutzt. Einseitige Vorteile Russlands gegenüber den USA sind daraus nicht abzuleiten.
Die Beobachtungsflüge erfolgten in der Regel ohne größere Probleme und trugen wesentlich dazu bei, objektive Erkenntnisse über die Lage in den überflogenen Gebieten zu gewinnen. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und den militärpolitischen Spannungen im baltisch-russischen Grenzraum haben westliche Staaten ihre Beobachtungsflüge regional verdichtet. Allein zwischen März und Juli 2014 unternahmen sie 22 Flüge über Westrussland und der Ukraine. Im Dezember 2018 wurde nach der Eskalation in der Meerenge von Kertsch eine Beobachtungsmission geflogen, um die Lage in dem Spannungsgebiet festzustellen.
Allerdings haben politische Spannungen die jährliche Abstimmung der Flugquotenverteilung in der OH-Beratungskommission (OSCC) belastet und mitunter eine Einigung verhindert. Wegen des russisch-georgischen Territorialkonflikts waren 2018 keine Beobachtungsflüge möglich. Ein griechisch-türkischer Streit über Zyperns Beitritt zum Vertrag hat seit dessen Inkrafttreten immer wieder die einvernehmliche Verabschiedung der OSCC-Agenda in Frage gestellt.
Anfang 2016 verweigerte Ankara einen russischen Beobachtungsflug im türkischen Grenzgebiet zu Syrien. Im September 2018 verzögerten die USA die Zertifizierung russischer Digitalkameras. Russland lehnte im September 2019 ein Segment eines geplanten US-kanadischen Beobachtungsfluges über einem Gebiet in Zentralsibirien ab, in dem die Großübung Tsentr stattfand. Zudem schränken die USA seit 2017 russische Flüge über Alaska und den pazifischen Inseln ein.
Doch gelang es auch, strittige Fragen einvernehmlich zu klären. So hat Russland die Mindestflughöhe über Tschetschenien 2016 aufgehoben. Generell wurde der Vertrag seit 2002 regelkonform umgesetzt.
Georgisch-russischer Konflikt
2012 suspendierte Georgien den OH-Vertrag gegenüber Russland und ließ keine russischen Beobachtungsflüge mehr zu. Moskau hatte 2008 Georgiens abtrünnige Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt und wandte seit 2010 die Vertragsregel an, bei OH-Beobachtungsflügen einen Abstand von 10 km zur Grenze von Nichtvertragsstaaten einzuhalten. Das stieß auch bei westlichen Staaten auf Kritik. Doch erst im Herbst 2017 scheiterte eine Quotenabstimmung für das Folgejahr, als Moskau nicht mehr bereit war, die Blockade russischer Beobachtungsflüge über Georgien hinzunehmen. Als Folge fanden 2018 – mit Ausnahme der Kertsch-Mission – keine Beobachtungsflüge statt.
Erst als Moskau in der Flugquotenabstimmung für 2019 einlenkte, konnten die Flüge wiederaufgenommen werden. Bereinigt ist das Problem damit aber nicht. Da sich Washington an einer Lösung nicht interessiert zeigt und auch Moskau wenig Initiative erkennen lässt, bliebe wohl den Europäern und besonders Deutschland die Vermittlerrolle, zumal die Flugquotenabstimmung unter deutschem Vorsitz erfolgt.
Der Konflikt ließe sich pragmatisch lösen, wenn Moskau daran festhielte, die Abstandszone de facto nicht mehr anzuwenden, während westliche Staaten signalisierten, keine Flüge in dieser Zone zu planen. Da die Sensoren äußerst leistungsfähig sind, ist die 10-km-Zone für die Erkenntnisgewinnung nur von geringer Bedeutung.
Ein Kompromiss wäre denkbar, wenn Tiflis und Moskau auf Maximalpositionen verzichteten, ein westlicher Vertragsstaat wie Deutschland es russischen Gastinspektoren gestattete, an einer nationalen Mission über Georgien teilzunehmen, und Tiflis dies nicht verhinderte. Gleichzeitig müsste klargestellt werden, dass Kompromisslösungen »statusneutral« wären, also die Grundsatzpositionen der Vertragsstaaten in puncto (Nicht-) Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens nicht berührten.
Flugbegrenzung über Kaliningrad
Auch die russische Begrenzung der Flugstrecken über der Exklave Kaliningrad ließe sich pragmatisch beenden. Grund für die Einschränkung war ein polnischer OH-Flug, der 2014 über dem nur 15 000 km² großen Gebiet mehrere Stunden lang dauerte. Deshalb musste der lokale Luftraum für andere Flüge gesperrt werden. Polen nutzte dabei die Vertragsregeln in vollem Umfang aus, die für das gesamte westliche Russland vom OH-Flugplatz Kubinka aus eine maximale Flugstrecke von 5 000 km erlauben. Für Kaliningrad sieht der Vertrag keine eigene Flugstreckenbegrenzung vor. Um eine Wiederholung zu vermeiden, erklärte Russland daraufhin eigens ein Streckenlimit von 500 km für Flüge über diesem Gebiet, die am Flugplatz Kaliningrad gestartet werden sollten.
Grundsätzlich berücksichtigt der OH-Vertrag bei der Festlegung maximaler Flugstrecken die Größe der überflogenen Gebiete. Über den dänischen Färöer-Inseln zum Beispiel gelten Begrenzungen von 250 km, über Tschechien 600 km, über Deutschland 1 200 km, über Alaska 3 000 km und über dem asiatischen Teil Russlands 6 500 km.
Die einseitige russische Flugstreckenbegrenzung über Kaliningrad verhindert es nicht, den Vertragszweck zu erfüllen, denn Beobachtungsflüge über der Exklave bleiben in ausreichendem Umfang möglich. Eine essentielle Einschränkung der Vertragsimplementierung (material breach) liegt demnach nicht vor. Unilaterale Regeländerungen lässt der OH-Vertrag aber nicht zu. Alle Modifikationen der Vertragsbestimmungen müssen kooperativ vereinbart werden.
Dies kann durch Konsultationen in der OSCC vorbereitet und in der bevorstehenden Konferenz zur Überprüfung des OH-Vertrags verhandelt werden. Sie wird wegen der Corona-Krise wohl erst im Herbst 2020 stattfinden. Aufgrund des Desinteresses der USA und der Passivität Moskaus käme die Aufgabe der Vermittlung wohl wieder auf die Europäer zu, vor allem auf Deutschland und Frankreich. In Großbritannien könnte sich – trotz der Kritik britischer Experten am Kurs von Präsident Trump – das längerfristige strategische Interesse durchsetzen, sich nicht gegen die USA zu positionieren.
Ein Kompromiss könnte darin bestehen, einen neuen OH-Flugplatz Kaliningrad zuzulassen und sich auf eine Flugstreckenbegrenzung zu einigen, die von der einseitigen russischen Festlegung etwas abweichen kann, aber den lokalen Luftraum nicht überlastet. Alternativ könnte auch St. Petersburg als Standort eines neuen OH-Flugplatzes mit einer angemessenen Flugstreckenbegrenzung ins Spiel gebracht werden, die Moskau selbst vorschlagen könnte.
Begründung einer Vertragskündigung durch die USA
Washington hat auf das russische Streckenlimit über Kaliningrad reagiert, indem es russische Flüge über und von Alaska aus so begrenzt, dass Russlands Flugzeuge Hawaii und die anderen pazifischen Inseln nicht mehr überfliegen können. Die Lage hat sich bisher nicht verschärft. Für eine Vertragskündigung ist daher kein ausreichender Grund erkennbar. Vielmehr scheint es sich um eine grundsätzliche Entscheidung der Trump-Administration zu handeln, mit der sie erneut ihr wachsendes Misstrauen gegenüber multilateralen Vereinbarungen zum Ausdruck bringt.
Die Absicht, aus dem Vertrag auszuscheiden, hat der Vertreter der USA den Nato-Partnern in Brüssel Mitte November 2019 zur Kenntnis gebracht. Im republikanischen Lager des Senats gibt es Stimmen, die seit langem für den Austritt werben, unter ihnen vor allem die Senatoren Ted Cruz und Tom Cotton. Sie haben Ende Oktober 2019 eine Resolution mit dem Ziel eingebracht, den Vertrag zu kündigen. Dahinter stehen Argumente wie die strategische Benachteiligung der USA und die Bedrohung der nationalen Sicherheit durch russische Spionage.
Beide Vorwürfe entbehren der faktischen Grundlage. Seit 2002 haben die USA über Russland dreimal so viele Beobachtungsflüge unternommen wie umgekehrt Russland über den USA. 2019 waren es 18 US-Flüge über Russland und sieben russische über den USA. Laut OSCC-Abstimmung bleibt 2020 die Zahl russischer Flüge gleich, die USA wird jedoch die maximale Quote von 21 Flügen über Russland ausschöpfen.
Will Russland über dem Gebiet der USA Beobachtungsflüge unternehmen, muss es diese 72 Stunden vorher ankündigen; die Flugstrecken müssen vereinbart und genehmigt werden. Ob die verwendeten Sensoren zulässig sind, wird durch einen Zertifizierungsprozess bestätigt, an dem US-Experten maßgeblichen Anteil haben. Vor den Flügen prüfen US-Inspektoren die Sensoren der russischen OH-Flugzeuge. Während der Flüge sind immer US-Begleitteams an Bord, die darüber wachen, dass die Vertragsregeln und die vereinbarten Flugprofile eingehalten werden.
Auch das Argument, die OH-Luftbilder seien den nationalen Satellitenbildern qualitativ unterlegen, ist nicht stichhaltig, da für den Zweck des OH-Vertrags irrelevant. Hier geht es nämlich um kooperativ gewonnene Erkenntnisse, deren faktische Grundlagen in der politischen Diskussion nicht bestritten oder manipuliert werden können, und die somit zur Vertrauensbildung beitragen. Vor allem wird in dieser Argumentation das Interesse derjenigen Vertragsstaaten ignoriert, die in Spannungs- und Konfliktregionen auf eigenständige und objektive Erkenntnisse angewiesen sind und nicht über eine nationale Satellitenaufklärung verfügen.
Zeitpunkt einer Vertragskündigung durch die USA
Der OH-Vertrag wurde für unbegrenzte Zeit geschlossen, doch die USA können ihn jederzeit bei den Depositarstaaten Kanada und Ungarn sowie allen anderen Vertragsstaaten kündigen. Obwohl die USA nicht verpflichtet sind, Kündigungsgründe vorzubringen, werden sie geltend machen, dass eine weitere Implementierung des OH-Vertrags mit wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen nicht mehr vereinbar ist, und darauf verweisen, dass Russland den Vertrag nicht angemessen umsetzt.
Nachdem die Depositarstaaten die Kündigungsnotifikation erhalten haben, müssen sie innerhalb von 30 bis 60 Tagen eine Konferenz der Vertragsstaaten einberufen. Dort würden die Folgen des Austritts der USA aus dem Vertrag erörtert, der sechs Monate nach der Kündigung rechtswirksam wird.
Jedoch gestattet das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, die Vertragsimplementierung schon vor dem Ende der Kündigungsfrist zu suspendieren. Voraussetzung dafür wäre eine erhebliche Vertragsverletzung, die es nicht mehr zulässt, den Vertragszweck zu erfüllen. Daher haben die USA die Implementierung des INF-Vertrags am Tage seiner Kündigung suspendiert. Was den OH-Vertrag betrifft, könnte Washington ähnlich vorgehen. Doch dürfte schwer nachzuweisen sein, dass die Erfüllung der Vertragsziele gravierend beeinträchtigt ist.
Wann die USA kündigen können, hängt aber auch von den komplexen Regeln der US-Verfassung ab. Sie sind zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress umstritten. Klar ist, dass die völkerrechtliche Bindung der USA an einen internationalen Vertrag erst dann eintritt, wenn der Senat ihn ratifiziert hat. Die Regeln für das Ausscheiden der USA aus solchen Verträgen sind weit weniger präzise gefasst. Traditionell nimmt der Präsident dieses Recht für sich in Anspruch, während der Kongress auf seine Mitwirkung pocht. Der demokratische Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des US-Repräsentantenhauses, Eliot L. Engel, hat schon im Oktober 2019 in einem Brief an den Sicherheitsberater des Präsidenten, Robert C. O’Brien, vor einem Austritt der USA aus dem OH-Vertrag gewarnt.
In seinem zusammenfassenden Report über den National Defense Authorization Act 2020 hat der Senat im Dezember 2019 den Präsidenten dazu aufgerufen, einen Bericht vorzulegen, die Gründe für die Kündigung des OH-Vertrags zu erläutern und die Nachteile für die nationale Sicherheit nachzuweisen, die den USA entständen, wenn sie im Vertrag blieben. Zudem soll er eine Wartezeit von 120 Tagen einhalten und die Alliierten konsultieren, bevor er den OH-Vertrag formell kündigt.
Da republikanische Senatoren die Resolution mitgetragen haben, ist nicht auszuschließen, dass Präsident Trump sich an diese Vorgabe halten wird. Sollte er den geforderten Bericht noch im Mai 2020 vorlegen, könnte er unverzüglich die Vertragskündigung an die anderen Vertragsstaaten notifizieren, da die Wartezeit beendet ist. Dann liefe die Kündigungsfrist im November 2020 ab, und die USA schieden noch vor Jahresende aus dem OH-Vertrag aus.
Kündigt Präsident Trump indes erst im Juli, würde sich die Kündigungsfrist bis in den Januar 2021 erstrecken. Ein neuer Präsident könnte diese Entscheidung revidieren. Sollte Trump jedoch eine zweite Amtszeit erhalten, hätte die Kündigung Bestand. In jedem Fall bleibt nur noch wenig Zeit, um den Vertrag zu retten.
Folgen einer Vertragskündigung durch die USA
Sollte der OH-Vertrag nach Ablauf der Kündigungsfrist für die USA außer Kraft treten, bedeutete dies nicht, dass er generell außer Kraft gesetzt wäre. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die 33 anderen Vertragsstaaten darauf reagieren werden. Russland müsste dann entscheiden, ob es den Vertrag im Verhältnis zu den europäischen Staaten und Kanada fortsetzen will.
Dass Russland weitaus mehr Beobachtungsflüge über europäischen Staaten unternommen hat als über den USA, könnte dafür sprechen, dass es die Flüge fortsetzen will. Immerhin kann es so Erkenntnisse über Truppenbewegungen der Nato einschließlich der US-Streitkräfte gewinnen, die vorübergehend oder ständig in Europa stationiert sind. Andererseits verlöre Russland die Möglichkeit, die Luftbeobachtung des Kernterritoriums der USA fortzuführen. Dies ist sowohl aus Gründen des politischen Status bedeutsam als auch für die Verifikation des strategischen nuklearen Waffenarsenals der USA.
Moskau wird wohl auch zu Recht argwöhnen, dass die westlichen Vertragsstaaten ihre Erkenntnisse, die sie aus Beobachtungsflügen über Russland gewinnen, an den Nichtvertragsstaat USA weitergeben werden. Zwar verbietet das der OH-Vertrag, doch die Bündnispartner tauschen die Erkenntnisse der Nachrichtengewinnung regelmäßig untereinander aus.
Die Frage ist, ob dies so schwerwiegend wäre. Auch Russland dürfte von seinen Bündnispartnern Belarus, Kasachstan und Armenien unter der Hand die Informationen aus der Umsetzung des KSE-Vertrags erhalten, obwohl es den Vertrag Ende 2007 suspendiert hat.
In Abwägung dieser Argumente wird Moskau wahrscheinlich dem Prinzip der politischen Statusgleichheit mit Washington den Vorrang geben. Daher erscheint die Annahme realistisch, dass auch Moskau aus dem OH-Vertrag ausscheiden wird, wenn Washington sich daraus verabschiedet.
Träte dies ein, könnten zwar die übrigen 32 Vertragsstaaten entscheiden, den Vertrag aus prinzipiellen Gründen zu erhalten und weiter zu implementieren. Allerdings bliebe offen, welchen operativen Zweck sie damit verfolgen wollen, wenn die wichtigsten Partner den Vertrag verlassen haben. Da sich Verbündete grundsätzlich nicht gegenseitig verifizieren, würden sich westliche OH-Beobachtungsflüge auf die Ukraine, Belarus, Georgien und Bosnien-Herzegowina beschränken. Die »neutralen« EU-Staaten Finnland und Schweden könnten hinzukommen, um mehr Flugquoten auszuschöpfen.
Folgerungen und Empfehlungen
Kündigt Washington den OH-Vertrag, könnte das eine Kettenreaktion auslösen, die eine neue Bresche in die regelbasierte europäische Sicherheitsordnung und die Rüstungskontrollarchitektur schlägt. Die wenigen Instrumente, die zur Deeskalation und Vertrauensbildung im Verhältnis zu Russland verblieben sind, würden weiter abgebaut, und die europäische Sicherheit nähme zusätzlichen Schaden. Es liegt im europäischen Interesse, dies zu verhindern. Die Zeit drängt.
Deutschland und Frankreich tragen besondere Verantwortung dafür, den Vertrag zu retten. Sie sollten gemeinsam mit europäischen Verbündeten zunächst in der OSCC die Initiative ergreifen, um die Probleme der Flugstreckenbegrenzung über Kaliningrad und der 10-km-Abstandszone zu den umstrittenen Grenzen Georgiens zu bereinigen. Die oben skizzierten Kompromissoptionen könnten dabei hilfreich sein. Sie könnten die Grundlage dafür bilden, bei der bevorstehenden Konferenz zur Überprüfung des OH-Vertrags eine Lösung der Implementierungsprobleme zu vereinbaren.
Des Weiteren sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich und anderen europäischen Verbündeten einen Appell der »Gruppe der gleichgesinnten Staaten« an die USA und Russland initiieren, der sie dazu auffordert, den OH-Vertrag zu bewahren. Die Gruppe will die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa erneuern.
Darüber hinaus sollten Deutschland und europäische Verbündete in Washington auf hoher politischer Ebene ihr Gewicht in die Waagschale werfen, um den OH-Vertrag zu erhalten. Sie sollten dabei an die Bündnissolidarität der USA appellieren und daran erinnern, dass eigenständige Optionen zur objektiven Erkenntnisgewinnung vor allem für die Sicherheit der östlichen Bündnispartner hohe politische Bedeutung besitzen.
Überdies sollten Mitglieder des Bundestages ihre Verbindungen zum Kongress nutzen, um für den OH-Vertrag zu werben. Besonders bei der demokratischen Mehrheit des Repräsentantenhauses dürften sie dabei auf offene Ohren stoßen.
Gespräche mit amerikanischen Regierungs- und Kongressmitgliedern sollten das europäische Interesse an der Erhaltung des OH-Vertrags mit Russland zum Ausdruck bringen. Zudem sollte in diesen Unterredungen vor den Folgen eines Austritts der USA gewarnt werden. Dabei muss klar werden, dass die Europäer einem amerikanischen Rückzug aus dem Vertrag nicht einfach folgen werden und dass die Aktivitäten amerikanischer Stationierungstruppen weiterhin der Beobachtung durch russische OH-Flüge unterliegen würden. Außerdem sollte daran erinnert werden, dass Erkenntnisse aus europäischen Beobachtungsflügen über Russland nach den Vertragsbestimmungen nicht an die USA weitergegeben werden dürfen.
Moskau sollte bedeutet werden, dass die Europäer daran interessiert sind, am OH-Vertrag festzuhalten. Es sollte ermuntert werden, einer Kompromisslösung für die Implementierungsprobleme über Kaliningrad und an der georgischen Grenze zuzustimmen. Angesichts der Sicherheitskrise Europas wäre auch ein Appell an das gemeinsame Interesse nützlich, die Stabilität nicht weiter zu unterminieren.
Treten die USA aus dem OH-Vertrag aus, käme es darauf an, die Vertragsstaaten davon zu überzeugen, die Implementierung des Vertrags fortzusetzen. Diese Absicht sollte auch gegenüber Moskau deutlich gemacht werden. Der Kreml sollte ermutigt werden, ebenfalls am Vertrag festzuhalten, um auch künftig ein Mindestmaß an Vertrauensbildung in Europa zu ermöglichen.
Reagiert Moskau auf einen eventuellen Austritt Washingtons, indem es den Vertrag seinerseits verlässt, sollten ihn die Europäer aus prinzipiellen Gründen dennoch weiter implementieren. Das hielte den USA und Russland die Option offen, ihm wieder beizutreten, falls sich die politische Lage ändert.
Wenn der OH-Vertrag noch gerettet werden soll, so ist jetzt dafür der richtige und vermutlich letzte Zeitpunkt. Deutschland ist in einer politischen und konzeptionellen Rolle gefordert, um zu vermitteln und den Vertrag als Instrument der militärischen Transparenz und Vertrauensbildung zu bewahren.
Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A38