Ende 2019 unternahm die CDU-Vorsitzende einen neuen Vorstoß zur Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht. In der dadurch ausgelösten Debatte geht es nicht nur um verfassungsrechtliche Bedenken, inwieweit der Staat mit einem Zwangsdienst in das Leben junger Menschen eingreifen darf. Auch wuchsen im Zuge der Corona-Pandemie die Herausforderungen für die Einsatzkräfte in Deutschland und Europa. Das veränderte die Diskussion über die Solidarität in der Gesellschaft und über einen allgemeinen Gesellschaftsdienst. Die Bundeswehr stellte eigens das Einsatzkontingent Hilfeleistungen Corona auf. Bei voller Ausschöpfung des Personals und höheren Infektionszahlen könnte sie aber ihre internationalen Verpflichtungen wohl nur noch zum Teil erfüllen. Zugleich befürworten immer mehr der 18- bis 30-jährigen Deutschen ein größeres außen- und sicherheitspolitisches Engagement. Die komplexen Aufgaben im Inneren und Äußeren machen eine größere Beteiligung der Bevölkerung nötig, etwa um Personallücken im Zivil- und Katastrophenschutz zu füllen und außenpolitische Maßnahmen auszuweiten.
Die Debatte über den allgemeinen Gesellschaftsdienst oder die allgemeine Dienstpflicht (AGD) wird oft im Kontext der Wehrpflicht geführt. Diese wurde 2011 ausgesetzt und kann gemäß Wehrpflichtgesetz nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall wieder eingeführt werden. Für einen allumfassenden Ansatz ist also die Beschränkung auf Wehrpflicht und Zivildienst nicht sinnvoll, denn sie begrenzt die Diskussion auf einen kleinen Teilaspekt.
Pro Jahr werden in Deutschland rund 700 000 Menschen geboren. Damit ist die Größenordnung für einen Zwangsdienst umrissen. Für einen Großteil jedes Jahrgangs müssten Einsatzmöglichkeiten geschaffen werden. Die Bundeswehr allein wäre im Rahmen einer allgemeinen Wehrpflicht, selbst in Kombination mit dem klassischen Zivildienst, zu diesem Kraftakt auf absehbare Zeit nicht in der Lage. Junge Menschen verfolgen heute vielfältige Interessen. Diese müssten sich in einem breiten Angebot an Auswahlmöglichkeiten widerspiegeln, um die Akzeptanz eines solchen Zwangsdienstes zu erhöhen. Dabei dürfen aber die notwendigen Aufgaben innerhalb Deutschlands nicht außer Acht gelassen werden.
Einstellungen zum Allgemeinen Gesellschaftsdienst
Nicht nur über die Ausgestaltung des AGD wird derzeit diskutiert, sondern auch über die Einstellung junger Menschen zur Einführung eines solchen Zwangsdienstes in Deutschland. In einer Umfrage des ZDF-Politbarometers 2018 befürworteten 68 Prozent der Befragten eine einjährige Dienstpflicht für junge Männer und Frauen. Zudem fand der Vorschlag eine Mehrheit bei den Anhängern sämtlicher Parteien. Eine Umfrage des Zentrums für Qualität in der Pflege aus dem Jahr 2019 ergab, dass 45 Prozent der Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren einer einjährigen Dienstpflicht positiv gegenüberstehen. Dagegen ermittelte der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski in einer repräsentativen Umfrage, dass nur 37 Prozent der Jugendlichen ein soziales Pflichtjahr für richtig halten. Dennoch unterstützen 87 Prozent der Befragten die Aussage: »Für Egoismus ist in unserer Gesellschaft immer weniger Platz. Wir müssen mehr zusammenhalten.« Das legt nahe, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung darüber nachdenkt, wie sich der Zusammenhalt in Deutschland stärken ließe.
Beispiel Frankreich
Weitere Modelle in der Art des AGD existieren in Europa nicht. Einzig Frankreich hat mit dem Service National Universel (SNU) einen verpflichtenden Dienst für 15- bis 17-Jährige in der Planung. Derzeit basiert die Umsetzung noch auf Freiwilligkeit, doch der Dienst soll bis 2024 für alle obligatorisch werden. Er untergliedert sich in zwei Phasen mit einer Gesamtdauer von einem Monat, eine dritte kann freiwillig absolviert werden. In der ersten findet ein zweiwöchiger Gemeinschaftsaufenthalt für Gruppen von rund 200 Jugendlichen außerhalb des eigenen Wohnortes statt. Dabei sollen der Gemeinsinn der Jugendlichen aus verschiedenen Schichten und Milieus sowie das Verständnis über die eigene Nation gefördert werden. Die zweite Phase muss entweder 84 Stunden über das Jahr verteilt werden oder 12 zusammenhängende Tage umfassen. Sie soll ein Dienst für die Nation sein, der die Autonomie junger Menschen stärkt. Der letzte Abschnitt ist das freiwillige Engagement für die Allgemeinheit mit einer Dauer von mindestens drei Monaten bis zu einem Jahr. Langfristig soll der Dienst eine Voraussetzung für die Abitur- und die Führerscheinprüfung bilden. Weil der verpflichtende Teil des SNU sehr kurz ist und sich in der Ausgestaltung an Schüler während der Schulpflicht richtet, lässt er sich mit der in Deutschland diskutierten Dienstpflicht von einem Jahr nicht vergleichen. Wie könnte also ein AGD in Deutschland aussehen, und welche Faktoren wären bei der Umsetzung zu berücksichtigen?
Ausgestaltung des AGD
Die Umsetzung eines AGD unterliegt verschiedenen Voraussetzungen. Eine der wichtigsten und zugleich umstrittensten ist die rechtliche Ausgestaltung. Die Wehrpflicht ist eine der wenigen rechtlich zulässigen Ausnahmen im Sinne des Artikels 12a Grundgesetz über das Verbot des Arbeitszwanges. Allerdings ist sie unzureichend für die Umsetzung eines AGD, weil ihre Hauptaufgabe die Landesverteidigung ist. Auch steht die Frage im Raum, ob ein AGD mit europäischem Recht und dem Völkerrecht vereinbar ist, etwa mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) oder Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Für die zu erwartende rechtliche Prüfung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), ob ein solcher Zwangsdienst zulässig ist, sind folgende Aspekte von besonderer Bedeutung:
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Personenkreis/Zielgruppe,
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Dauer der Verpflichtung,
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Art der Belastung,
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konkrete Arbeits- und Rahmenbedingungen,
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zeitliche und inhaltliche Wahlmöglichkeiten,
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berufliche Anerkennung,
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finanzielle Regelungen,
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Einbindung Nichtdeutscher mit unbefristetem Aufenthaltstitel.
Personenkreis: Schon die Bezeichnung allgemeiner Gesellschaftsdienst drückt aus, dass dieser Männer und Frauen gleichermaßen erfasst. Um dem Diskriminierungsgebot der EMRK Rechnung zu tragen, sollte über die Einbindung Nichtdeutscher mit unbefristetem Aufenthaltstitel nachgedacht werden. Sie könnte einen zusätzlichen, integrativen Mehrwehrt bieten.
Dauer der Verpflichtung: Sie soll bei 12 Monaten liegen und orientiert sich am Bundesfreiwilligendienst (BFD) sowie dem Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahr (Jugendfreiwilligendienste, JFD). In der Ausgestaltung des AGD sollten beispielsweise gesundheitliche Grundvoraussetzungen oder Ausnahmetatbestände erörtert werden, wie die Regelungen für Geschwister oder Alleinerziehende in Anlehnung an die Wehrpflicht. Das ist nötig, um konkrete Arbeits- und Rahmenbedingungen zu definieren und einen gesetzlichen Rahmen für die Schaffung der Einsatzstellen vorzugeben.
Allgemeine Zielsetzung: Sie sollte in der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Stärkung des sozialen Bewusstseins junger Menschen bestehen. In den klassischen Einsatzfeldern des Gemeinwohls – Soziales, Ökologie, Kultur, Sport, Integration, Zivil- und Katastrophenschutz – verfügen die Freiwilligendienste in Deutschland zurzeit über rund 100 000 Stellen. Daher müssen neue Möglichkeiten geschaffen werden, um dem zu erwartenden Bedarf von etwa 600- bis 700 000 Stellen gerecht zu werden. Das bereits erwähnte außenpolitische Interesse der jungen Bevölkerung legt nahe, zusätzliche Einsatzstellen in der Entwicklungshilfe, im Klima- und Umweltschutz oder in speziellen Unterstützungsprojekten im Ausland ins Leben zu rufen, jeweils unter Federführung des Auswärtigen Amtes oder des Entwicklungsministeriums. Der Einsatz in Kirchen- oder Behinderteneinrichtungen, in Sozial-, Jugend- oder Gesundheitsämtern und Krankenhäusern, Pflege- oder Kinderheimen ist genauso denkbar wie die Friedhofspflege oder die Mitarbeit in Jugendherbergen sowie politischen Parteien und Einrichtungen. Den Einsatzmöglichkeiten wären somit wenige Grenzen gesetzt, so dass inhaltliche Vielfalt gewährleistet werden kann. Die Bundeswehr sollte auf jeden Fall ein Bestandteil des AGD sein, aber nicht der ausschlaggebende. Es ist nicht sinnvoll, die Debatte über den AGD mit jener über die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu verknüpfen. Die Bundeswehr plant derzeit mit 12 500 Freiwillig Wehrdienst Leistenden (FWDL) und verfügt über etwa 8 500 Dienstposten für diese. Schon ein Aufwuchs dieser Kapazitäten auf durchschnittlich 68 000 Rekruten pro Jahr, wie in den letzten Jahren der Wehrpflicht, würde eine Verachtfachung der Unterkunfts- und Ausbildungskapazitäten in der Bundeswehr bedeuten. Das ist kurzfristig schlichtweg nicht realistisch.
Art der Belastung und Wahlmöglichkeiten: Beides variiert je nach gewählter Tätigkeit. So ist die Grundausbildung in der Bundeswehr körperlich anspruchsvoll, wohingegen die Unterstützung in Betreuungs- oder Pflegeeinrichtungen vor allem Einfühlungsvermögen erfordert. Dennoch sollten die gesetzlichen Vorgaben für alle einheitlich sein und größtmögliche zeitliche und inhaltliche Wahlmöglichkeiten bieten. Der BFD steht Menschen aller Altersklassen offen, wenngleich die Mehrheit der Bundesfreiwilligen unter 27 Jahre alt ist und der JFD bis zu einem Alter von 27 Jahren absolviert werden kann. Der AGD könnte in der Spanne vom 16. bis zum 27. Lebensjahr abgeleistet werden und böte die Möglichkeit der individuellen Anpassung an die persönlichen Lebensumstände. Zum Beispiel kann der AGD der Berufsfindung oder Bestätigung persönlicher Interessen dienen, aber auch dem Erwerb zusätzlicher Qualifikationen im Anschluss an die Ausbildung.
Berufliche Anerkennung: Dieser Aspekt greift einen wesentlichen Punkt der Kritiker des AGD auf. Sie bemängeln, dass die jungen Menschen dem Arbeitsmarkt wegen des Dienstes erst ein Jahr später zur Verfügung ständen. Hier gilt es also, durch die Auswahl geeigneter Einsatzfelder Anreize zu setzen, etwa Qualifikation im Falle einer bereits erfolgten Ausbildung oder Pluspunkte für Studienplätze. Nicht zuletzt bietet der Dienst die Möglichkeit zur Selbstfindung und damit zu einer bewussteren Entscheidung für ein Studium oder eine Ausbildung. Gerade damit haben viele junge Menschen Probleme, weil die Zahl an Auswahlmöglichkeiten stetig wächst.
Finanzielle Ausgestaltung: Für die Betroffenen spielen vor allem Vergütung und Zusatzleistungen wie Verpflegung oder Unterkunft eine entscheidende Rolle, während der Staat die zu erwartenden Kosten taxieren muss. Laut dem Ökonomen Philipp Noack belaufen sich die durchschnittlichen Kosten für einen Zivildienstleistenden auf Grundlage der Daten von 2001 bis 2010 auf 15 582 Euro pro Jahr. Schreibt man diese Daten mit Hilfe des Verbraucherpreisindexes und in Relation zu den Geburtenzahlen fort, ergeben sich Gesamtkosten von etwa 13 bis 14 Milliarden Euro pro Jahr für den AGD bis 2030. Davon entfallen rund 60 Prozent (7,8–8,4 Milliarden Euro) auf den Staat und 40 Prozent (5,2–5,6 Milliarden Euro) auf die Einsatzstellen.
Die fiktiven Kosten für die Erbringung von Leistungen durch Fachkräfte statt durch Zivildienstleistende wurden auf 1,85 Milliarden Euro pro Jahr berechnet. Wendet man diese Methode auf den AGD an, ergeben sich, hochgerechnet auf die Anzahl der Stellen darin, Kosten von ungefähr 15 Milliarden Euro, was die geschätzten Gesamtkosten des AGD sogar überstiege. Fachkräfte etwa in der Pflegebranche sind aber schon jetzt kaum mehr auf dem freien Arbeitsmarkt verfügbar. Außerdem sind bestimmte Leistungen des AGD in der Pflege oder Krankenhäusern mit finanziellen Kategorien nur schwer zu erfassen. Sein Nutzen liegt eher in der psychosozialen Unterstützung, also in menschlicher Zuwendung etwa in Form von Gesprächen, zu denen Fachkräfte aufgrund des vorherrschenden Kostendrucks immer weniger Zeit haben.
Fazit
Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen offenbart, wie wichtig der soziale Zusammenhalt innerhalb einer Gesellschaft ist. Weil Strukturen und Personal fehlten, entwickelten sich zahlreiche Initiativen, die Lösungen für die Probleme im Alltag unter Quarantänebedingungen anboten. Soldaten der Bundeswehr unterstützten bei Einkäufen, Nachbarschaftsinitiativen wurden gegründet und Internetplattformen aufgebaut, um Hilfsbedürftige und Hilfsangebote zusammenzubringen. Solch ein soziales Engagement ist hilfreich, aber für den Staat, dessen Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten verlangt wird, nur schwer zu institutionalisieren. Mit den Lockerungen der Quarantänemaßnahmen in Deutschland böte sich also die Gelegenheit, sich mit der Umsetzung des AGD zu befassen. Der politische Schwerpunkt sollte darauf liegen, der Bevölkerung, vor allem den jungen Menschen, eine konkrete Option zu eröffnen. Umfragen zeigen, dass gerade diese sich politischen Themen nicht verschließen, sondern sich dafür interessieren. Dabei bietet das französische Modell Ansätze für die Einführung des AGD, etwa durch die freiwillige Übergangszeit bis zur verpflichtenden Umsetzung. Dies würde einen öffentlichen Diskurs, Anpassungen in der Ausgestaltung und den Aufbau der erforderlichen Einsatzstellen ermöglichen.
Major i. G René Schulz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A57