Infolge der Krim-Annexion haben die Alliierten auf dem Nato-Gipfel 2014 in Wales eine Refokussierung auf Bündnisverteidigung beschlossen. Im maritimen Raum wird angestrebt, die gemeinsame Alliance Maritime Posture, also das maritime Dispositiv der Nato-Staaten, zu stärken sowie deren maritime Aktivitäten und Zusammenarbeit besser zu koordinieren. Den Vorschlägen des maritimen Kommandos der Nato (MARCOM) zufolge sollen zukünftige Koordinationsmodelle vor allem regional verortet und damit fokussierter gestaltet werden. Aktuelle Initiativen betreffen den Schwarzmeerraum und die Ostsee. Die Deutsche Marine ist aus drei Gründen prädestiniert, die Kooperation zwischen Alliierten und Partnern im Ostseeraum voranzutreiben: wegen ihrer regionalen Expertise in der Ostsee und an der Nordflanke, ihrer Bedeutung als größte Nato-Marine im Ostseeraum, ihrer Verlässlichkeit als Truppensteller für die stehenden maritimen Einsatzverbände der Nato. Das Bekenntnis der deutschen Regierung, innerhalb der Allianz mehr Verantwortung zu übernehmen, könnte auf diese Weise wahrnehmbar mit Inhalt gefüllt werden.
Auf dem Gipfeltreffen in Wales 2014 hat sich die Nato vorgenommen, ihre maritime Aufstellung, die Alliance Maritime Posture, zu stärken. Das MARCOM hat daraufhin ein Konzept für regionale Koordinierungsaufgaben erarbeitet. Inhaltlich geht es darum, die Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses wieder zu erhöhen und die Maßnahmen zur Rückversicherung der mittel- und osteuropäischen Alliierten sichtbarer und effektiver zu machen.
Der Verantwortungs- und Aktionsraum der Nato ist mehrheitlich maritim geprägt, erstreckt er sich doch von der Ostküste Amerikas bis zum Finnischen Meerbusen vor Sankt Petersburg und bis zum Schwarzen und Asowschen Meer. Der Ostseeraum sowie Europas maritime Nordflanke sind für die Sicherung essenzieller Seeverbindungs- und Kommunikationslinien zentral. Maritime Sicherheit beschränkt sich hier indes nicht auf die militärische Dimension. Wesentlich sind darüber hinaus Fragen der Energiesicherheit, des Schutzes von maritimer Infrastruktur, Häfen, Unterseekabeln, Gaspipelines und der Fischerei, schließlich die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Dementsprechend beabsichtigt die Nato, geeignete Strukturen und Mechanismen zu entwickeln, die im Frieden wie in Krisenzeiten eine Sicherung der Interessen ihrer Mitgliedstaaten gewährleisten.
In einem ersten, abgestimmten Ansatz soll der Fokus auf zwei Seegebieten von besonderem Interesse liegen, dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Dort will die Nato eine maritime Koordinierungsfunktion etablieren. Dabei sollen die Alliierten und eventuelle Partnernationen vorrangig regional vorhandene Expertise nutzen, außerdem nationale Fähigkeiten wie von der Allianz vorgesehen bündeln, sie enger und direkt vor Ort koordinieren. Der Anspruch ist, dass solch eine regional verortete Koordination maritimer Fähigkeiten die Einsatzbereitschaft verbessert und die regionale Synchronisation von Fähigkeiten fördert. Auf diese Weise wird auch die Weiterentwicklung und Verfügbarkeit der Nato-Reaktionskräfte unterstützt.
Bestandsaufnahmen der verschiedenen Kooperationsmodelle, die im Ostseeraum in den vergangenen Jahren anzutreffen waren, haben wiederholt gezeigt, dass zum einen die Kooperationsformen sehr unterschiedlich sind. Zum anderen konnte die Zusammenarbeit oftmals keine spürbaren Erfolge im Sinne der alliierten Abschreckungs- und Verteidigungsbemühungen vorweisen. Gründe hierfür sind hauptsächlich die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen der einzelnen Nationen, ihre sicherheitspolitischen Interessen, Fähigkeiten und insbesondere Ressourcen. Daher haben sich die Alliierten in der Vergangenheit oft für bilaterale (etwa USA und Litauen bzw. USA und Polen) oder kleinere multilaterale Kooperationsformate entschieden. Zu diesen gehören auch aktuelle Kooperationen im Bereich der maritimen Sicherheit, unter anderem die von Großbritannien geführte Joint Expeditionary Force (JEF), die Sea Surveillance Co-Operation Baltic Sea (SUCBAS), einzelne Elemente des durch Deutschland initiierten Framework Nations Concept (FNC) oder die Nordic Defence Cooperation (NORDEFCO).
Strukturelle Adaptionen und maritime Koordination
Das Bestreben der Nato, die Koordinierung ihrer Aktivitäten zu verbessern, spiegelt sich in ihrer Kommandostruktur wider. Auf ihrem Gipfel 2016 in Warschau hat sie eine generelle Anpassung ihrer Kommando- und Streitkräftestruktur auf den Weg gebracht, die derzeit noch nicht abgeschlossen ist.
Entlang der östlichen Außengrenze der Allianz wird versucht, teilstreitkraftübergreifend Aktivitäten fokussiert und regional zu koordinieren mithilfe von Elementen der Nato-Streitkräftestruktur und nationalen Beiträgen. Bekannte Beispiele dafür sind die Aufstellung der Nato Force Integration Units (NFIUs), der multinationalen Divisionen und der Verbände der enhanced Forward Presence (eFP) sowie die Ausweitung des Auftrags des Multinationalen Korps Nordost als regionales High Readiness Force Hauptquartier für Heereskräfte.
Nach der Annexion der Krim 2014 und den zunehmenden Spannungen mit Russland im Schwarzen Meer hat die Nato 2017 bei HQ MARCOM ein Centre for Maritime Coordination in the Black Sea Region eingerichtet. Ziel war, ein umfassenderes Lagebild zu erstellen und Nato-Aktivitäten in der Region zu koordinieren. Während Rumänien von Anfang an eine engere Kooperation oder sogar Koordination der maritimen Anteile der Allianz im Schwarzen Meer unterstützt hat, war Bulgariens Position widersprüchlich. Die Türkei lehnte die Idee generell ab, da sie ihre nationalen Interessen beeinträchtigt sah und befürchtete, dass der Zugang und die Präsenz fremder bzw. nicht regionaler Kriegsschiffe im Schwarzen Meer die Vorgaben der Montreux-Konvention unterwandern würden, in denen eine weitreichende Kontrolle durch die Türkei verankert ist. Wegen dieser uneinheitlichen Standpunkte der Anrainerländer konnte diese Koordinationsfunktion im Schwarzen Meer bisher kaum ausgestaltet werden; sie ist in Grundzügen bei HQ MARCOM verblieben und nicht wahrnehmbar in Erscheinung getreten.
Nun will die Nato analog dazu auch im Ostseeraum eine Koordinierungsfunktion vorantreiben, wie sie insbesondere die baltischen Staaten gefordert haben. Alle Nato-Ostseeanrainer stehen dem Vorhaben offen und unterstützend gegenüber. Deutschland und Polen haben bereits angeboten, diese Baltic Maritime Coordination Function zu übernehmen. Zurzeit werden diese Vorschläge geprüft; entscheiden wird darüber voraussichtlich im ersten Halbjahr 2021 das wichtigste politische Gremium der Nato, der Nordatlantikrat.
Der ausgewählte Anwärter soll von den jeweiligen nationalen maritimen Hauptquartieren aus seine national vorhandenen Fähigkeiten für die Koordinierung einbringen. Seine Hauptaufgabe ist, die existierenden oder zu leistenden Beiträge der anderen Alliierten sowie ggf. der Partnernationen im Ostseeraum (wie Schweden und Finnland) zu bündeln und den entsprechenden Nato-Hauptquartieren direkt zu kommunizieren. Indem die maritimen Aktivitäten der Alliierten und Partner in der Region mithilfe eines solchen koordinativen Rahmens besser abgestimmt werden, soll die Bereitschaft der Nato-Kräfte maßgeblich gestärkt und ein spürbarer Beitrag zu den Maßnahmen der Abschreckung geleistet werden. Beides dient gleichermaßen der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner. Die inhaltlichen Ziele lauten: an der Lagebild-Erstellung konkret mitwirken, eine mögliche Verteidigungsplanung unterstützen, zum teilstreitkraftübergreifenden Agieren befähigen sowie die Bereitschaft alliierter Kräfte erhöhen.
Maritime Ambitionen Polens
Polen hat in den vergangenen Jahren bei verteidigungspolitischen wie militärischen Kooperationen klare Zeichen gesetzt. Namentlich die polnischen Landstreitkräfte haben sich deutlich entwickelt und in die Allianz eingebracht. Im maritimen Bereich ist hingegen nicht viel geschehen, daher kommt das polnische Angebot für viele Beobachter überraschend. Die polnische Marine hat großes Interesse daran, sich nach innen und außen gut zu vermarkten, sich als sichtbarer maritimer Akteur und engagierter Alliierter zu präsentieren. Damit möchte sie einen lange überfälligen Modernisierungsprozess auch konzeptionell begründen. Dennoch erscheint der Wunsch, die Koordinationsfunktion zu übernehmen, angesichts der bestehenden Fähigkeitslage als ambitioniert.
Seit der Veröffentlichung des polnischen Strategischen Konzepts für Maritime Sicherheit im Jahr 2017 und dem darin festgestellten Reform- und Modernisierungsbedarf hat sich nicht viel geändert. Zwar gab es erste Anpassungen der eigenen Kommandostruktur, die nationale maritime Operationszentrale wurde umstrukturiert, ein nationaler polnischer Einsatzstab aufgestellt – jedoch sind die eingeforderten Plattformen, Schiffe und Fähigkeiten bisher nicht in konkrete Projekte umgesetzt worden. Die nationalen Interessen und die demgemäß formulierten Prioritäten liegen jenseits der maritimen Domäne und der Seestreitkräfte. Die eher kontinentale Ausrichtung des polnischen Militärs hat vor allem konzeptionell und fiskalisch Vorrang.
Vor diesem Hintergrund und angesichts absehbarer Einschnitte für die nationalen Verteidigungshaushalte infolge der Covid‑19-Pandemie werden die Ziele erst später als geplant realisiert werden können. Die derzeitigen Fähigkeiten der polnischen Marine werden nicht ausreichen, um allein national alle mit der Koordinierungsfunktion verbundenen Aufgaben zu erfüllen.
Die Kunst des Möglichen – eine Option deutschen Handelns
Die Deutsche Marine ist personell mit etwa 16 400 Soldaten mehr als doppelt so groß wie ihr polnisches Pendant. Ähnlich ist das Verhältnis mit Blick auf die schwimmenden Einheiten und Plattformen. Seit jeher ist sie sowohl konzeptionell wie auch praktisch eng in die Nato und ihre maritimen Strukturen eingebunden, ihre Führungselemente sind entsprechend aufgestellt und ausgerichtet. Gleichzeitig ist sie ein konstanter Bereitsteller von Truppen und Schiffen für Nato-Verbände, ‑Übungen und ‑Operationen. Damit sind ihr Fokus, ihre traditionelle Nato-Einbindung und ihr Einsatzraum breiter angelegt bzw. größer als der aktuell eher regional beschränkte Schwerpunkt der polnischen Marine. Die Führungsstrukturen der Deutschen Marine, das Marinekommando in Rostock mit seinem örtlich ausgelagerten maritimen Operationszentrum, verfügen, wenn auch begrenzt, über bestehende und bewährte Verfahren zur Anbindung an die Nato. Innerhalb dieses täglich rund um die Uhr tätigen Operationszentrums gibt es bereits Elemente, die im Auftrag der Allianz einzelne Verantwortlichkeiten und Führungsfunktionen wahrnehmen.
Mit der Aufstellung des Stabes DEU MARFOR als Kernzelle eines künftigen Baltic Maritime Component Command (BMCC) hat die Deutsche Marine ein weiteres Führungselement etabliert, das ebenfalls der Nato, der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen zur Verfügung stehen soll. Die dafür benötigte Infrastruktur soll 2021 in die Nutzung übergehen. Diese vorhandenen Strukturen können bereits eine große Anzahl möglicher Aufgaben der Koordinationsfunktion im Ostseeraum national abdecken. Gleichwohl wäre in der Praxis die Unterstützung der anderen Alliierten gefragt; Informationen und Erfahrungen aus einzelnen existierenden regionalen Kooperationsmodellen würden ebenso einfließen müssen wie bisherige Beiträge auf nationaler Ebene.
Unabhängig davon, ob die Deutsche Marine die Koordinationsfunktion ausüben wird oder nicht, bleibt der Kern der Herausforderung für die Bundeswehr aktuell: nämlich die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die laufenden bi- und multilateralen Kooperationen zusammengeführt und wirksam genutzt werden. Dabei geht es in erster Linie um Interoperabilität in technischer Hinsicht. Von fundamentaler Bedeutung ist zum Beispiel die Nutzung eines gemeinsamen Netzwerks zum Austausch von Informationen und Lagebildern, auch eingestufter – sofern die beteiligten Nationen dies wollen –, mit direktem Anschluss zur Nato. Dazu bedarf es keiner weiteren Großprojekte, wohl aber muss das Bundesministerium der Verteidigung begrenzte Ressourcen bereitstellen, um eine solche notwendige Befähigung zu gewährleisten. Nicht nur die Marine würde davon profitieren, wenn innerhalb der Nato Interoperabilität erreicht würde, sondern die gesamte Bundeswehr. Auch mit Blick auf den im Weißbuch 2016 verankerten Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung und die Einsatzfähigkeit der schnellen Eingreiftruppe der Nato (VJTF) wäre dies ein Fortschritt.
Würde Deutschland mit dieser Koordinationsfunktion betraut, würde dies zweierlei bewirken: Das wiederholt geäußerte Bekenntnis, im Bündnis mehr Verantwortung zu übernehmen und stärker zur Lastenteilung beizutragen, könnte mit Inhalt gefüllt werden. Gleichzeitig würden die außenpolitischen Ziele Deutschlands konsequent weiterverfolgt.
Polens Angebot, diese Funktion einzunehmen, ist ambitioniert, insbesondere vor dem Hintergrund der Schieflage von Anspruch und tatsächlich eingeleiteten Projekten. Die Entscheidung zwischen den beiden Angeboten birgt die Gefahr, dass sich im Nordatlantikrat eine für beide Seiten ungewollte Konkurrenzsituation ergibt. Die Kohäsion der Allianz ist derzeit eines der wichtigsten Themen auf der Nato-Agenda. Vor allem sollte verhindert werden, dass im Vorfeld der politischen Entscheidung des Nordatlantikrats Konflikte entstehen. Zu diesem Zweck sollte ein gemeinsamer Kompromiss erarbeitet werden. Der polnischen Marine sollte ermöglicht werden, sich wahrnehmbar, im Sinne ihrer eigenen Interessen, zu beteiligen, etwa indem gemeinsame personelle Ressourcen in eine aufzustellende Steuerungsstruktur eingebracht werden. Entsprechende deutsch-polnische Erklärungen zur Zusammenarbeit im maritimen Bereich liegen schon seit längerem vor – allein ihre Umsetzung ist bislang in weiten Teilen hinter den niedergeschriebenen Ambitionen zurückgeblieben.
Göran Swistek ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A100