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Die Frage der Gemeinschaftskompetenzen aus deutscher und französischer Sicht

Conveu 30, 15.12.2003

Die erste Frage, die in Erklärung 23 im Anhang zum Vertrag von Nizza an die Regierungskonferenz 2004 bzw. seit der Erklärung von Laeken an den Konvent gerichtet ist, lautet:

"..., wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten geschaffen und ihre Einhaltung überwacht werden kann."

Die Frage der Zuständigkeiten, die in Gestalt des Subsidiaritätsprinzips indirekt bereits im Zuge der Annahme des Vertrags über die Europäische Union in die Debatte Eingang gefunden hatte, wird inzwischen von den Regierungen der Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt der Diskussion über die Zukunft Europas gestellt. Bisher hatte sich in erster Linie die Wissenschaft für die Frage der Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenzen interessiert.

Ihre hervorgehobene Stellung auf der aktuellen politischen Agenda lässt sich mit einer ganzen Reihe von Gründen erklären und rechtfertigen, die zum Teil für Deutschland und für Frankreich (1) gleichermaßen gelten, zum Teil aber auch eher spezifisch deutsch (2) sind und nicht uneingeschränkt auf Frankreich übertragen werden können (3).

1)Die Frage der Sichtbarkeit und Lesbarkeit der europäischen und der nationalen Politikbereiche steht sowohl in Deutschland als auch in Frankreich auf der Tagesordnung: Einfacher ausgedrückt geht es um die Frage "wer macht was in Europa", also um eine Frage, die sowohl das Anliegen nach "Transparenz" widerspiegelt als auch die Entschlossenheit, das "Demokratiedefizit" oder die als immer stärker werdend empfundene Dominanz der Gemeinschaftsregeln gegenüber nationalen Regeln oder Gewohnheiten zu bekämpfen. Dieser Klärungsbedarf findet einen ganz natürlich Ansatzpunkt in der Kompetenzthematik. In der Tat ergibt sich die Vorstellung der Gemeinschaftskompetenzen und der Trennungslinie zwischen diesen und den nationalen Zuständigkeiten nicht eindeutig aus den Verträgen: Diese nennen lediglich die angestrebten Ziele und legen die Verfahren fest – bei denen das Zusammenspiel der Institutionen in Abhängigkeit von dem institutionellen Gleichgewicht, so wie die Verfasser der Verträge es jeweils wollten, variiert – , die zu unterschiedlichen Rechtsakten führen sollen, je nach Grad der Unabhängigkeit und Autorität des betroffenen Sachgebiets gegenüber den nationalen Zuständigkeiten (Verordnungen, Richtlinien usw.). Die Verträge unter dem Begriff der Zuständigkeit zu denken bedeutet, hinter der funktionalen Logik die materielle Logik zu erkennen. Dazu bedarf es einer Rekonstruktion und Neukomposition dessen, was von den Verfassern der Verträge weder so gedacht noch so formuliert worden ist. Es bedeutet auch, nach der Tiefenstruktur der gemeinschaftlichen Rechtskonstruktion zu suchen, den Unterbau des Gemeinschaftsgebäudes freizulegen, durch Entschlüsselung der Vertragstexte das nicht Ausgesprochene ausdrücklich hervorzuholen, also das, was ihre Verfasser eigentlich wollten, aufzudecken und auszudrücken.

Vor Laeken konnte die durch die Erklärung 23 geforderte Übung noch von einer gewissen Zweideutigkeit profitieren: Sollten die Zuständigkeiten einfach nur aufgeführt werden, so wie sie bestehen, ohne ihren Inhalt zu verändern ? Oder konnte man bis zu einer Neugestaltung der Zuständigkeiten gehen? Seit Laeken scheint der zweite Teil der Alternative nicht mehr ausgeschlossen. Sich zu fragen: ‚welche Europäische Union wollen wir, um was und mit welchem Ziel gemeinsam in Angriff zu nehmen?' bedeutet im Grunde also zu erkunden, wie mittels Aufteilung der öffentlichen Gewalt zwischen der einzelstaatlichen und der europäischen Ebene eine geteilte Ausübung der Souveränität erreicht werden kann.

Daher bestimmt eine schärfere Abgrenzung der Zuständigkeiten auch die Antworten auf die anderen in Erklärung 23 enthaltenen Fragen. Die Kompetenzdebatte ist um so wichtiger, als die anderen Fragen, die auf der Tagesordnung des Konvents stehen, nicht abstrakt entschieden werden können: Schutz der Grundrechte, aber: gegenüber welcher staatlichen Gewalt? Die institutionellen Entscheidungsträger und die Entscheidungsverfahren, aber: zur Ausübung welcher Kompetenzen? Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle, aber: in Bezug auf welche Entscheidungen und auf welchen Gebieten? Mit welcher Rechtswirkung? Eine Verfassung, aber: welche großen gesellschaftlichen Funktionen sollen darin genannt werden?

2) In Deutschland hat die neue Dynamik des Verfassungsprozesses auf europäischer Ebene ihre Ursache in der Sorge der Bundesländer, allmählich ihre Existenzberechtigung zu verlieren: Ohne eigene Zuständigkeiten, ohne verfassungsrechtliche Eigenständigkeit, ohne substantiellen und signifikanten politischen Handlungsspielraum wird es schwer, das ganze demokratische System, das institutionelle System einschließlich Parlament und regelmäßiger Wahlen zu rechtfertigen, das sich die Bundesländer wie auch andere Regionen anderer Mitgliedstaaten gegeben haben. Die schrittweise Erweiterung der Zuständigkeiten der Europäischen Union beinhaltet das Risiko, so die Befürchtung der politischen Führer in einigen Bundesländern, ihre staatliche Existenz innerhalb des föderalen Systems auszuhöhlen. Daraus leiten sie das Argument ab, es sei unerlässlich, die den europäischen Institutionen übertragenen Zuständigkeiten besser zu definieren und abzugrenzen, anderenfalls würden sich die Länder jedem weiteren Integrationsfortschritt kategorisch widersetzen. Obwohl in diesem Punkt in Nizza keine Entscheidung getroffen werden konnte, hat die Bundesregierung ihn zum Ausgangspunkt für ihre Position gemacht, den "Post-Nizza-Prozess" einzuleiten, der zur Erklärung von Laeken und zur Einsetzung des Konvents geführt hat.

In der Zwischenzeit haben sich Autoren und politische Verantwortungsträger in großer Zahl mit der Frage beschäftigt, und es scheint, dass die ursprüngliche Forderung, einen Kompetenzkatalog nach deutschem Muster aufzustellen, aufgegeben worden ist. Die Europäische Gemeinschaft verfügt ja auch bereits in ihrem Gründungsvertrag über einen Kompetenzkatalog, der weitaus detaillierter und präziser, ja sogar differenzierter ist als der des Grundgesetzes. Es wird immer deutlicher, dass das Problem weniger die Zuweisung der Zuständigkeiten als vielmehr ihre genaue Definition und insbesondere ihre Ausübung durch die Institutionen ist. Die sehr intensive Debatte geht in Deutschland weiter. Seitens der Bundesregierung liegt noch keine offizielle Position vor, und auch die Länder haben sich untereinander noch nicht auf eine bestimmte Auffassung geeinigt.

2)Wie steht es in Frankreich? Wenn man einmal von den Gründen absieht, die für Frankreich und Deutschland gleichermaßen gelten (siehe Punkt 1 der Einleitung), ist die Klärung der Kompetenzverteilung in der Europäischen Union in der französischen Europadebatte noch kaum ein Thema, und das ist auch keineswegs erstaunlich. Die politische und administrative Geschichte Frankreichs, das von Alters her vorherrschende zentralistische Verständnis vom Staat als Einheitsstaat und die verspätete und gleichzeitig schüchterne und begrenzte Dezentralisierung liefern die Erklärung dafür, dass die Betonung auf der Bewahrung der Souveränität liegt und man der Frage der Kompetenzverteilung als solcher relativ gleichgültig gegenüber steht. Da es außerdem keine Regionen mit Gesetzgebungskompetenz gibt – wenigstens nicht für das französische Mutterland – , kann eine Forderung analog zu derjenigen der Länder oder des Bundesrats auch nicht erhoben werden. Schließlich mag in Anbetracht des Themas Kompetenzabgrenzung, das als eine Projizierung deutscher föderaler Strukturen auf die Europäische Union gesehen wurde, auch ein gewisses Misstrauen geherrscht haben, die Europäische Union wird im Gegenteil als eine historisch bisher einzigartige Versammlung von Staaten und von Völkern betrachtet, deren Zielsetzung und deren nationale und staatliche Bestandteile in einem europäischen Bundesstaat nicht erhalten blieben. Es wird befürchtet, dass in einem solchen europäischen Bundesstaat die gegenwärtig bestehenden Staaten letztlich wohl aus der institutionellen Landschaft der Europäischen Union verschwinden würden.

Trotz dieses recht speziellen Ausgangspunkts beginnt die Frage der Kompetenzverteilung allmählich einen größeren Raum in der Diskussion über die Zukunft Europas einzunehmen. In der Debatte geht es aber doch mehr um die Notwendigkeit einer Verfassung für die Europäische Union, und aus dieser Sicht heraus lässt sich dann auch die Frage der Kompetenzabgrenzung selbstverständlich nicht umgehen. Wissenschaft und Politik haben bereits den Anfang gemacht und sich geäußert und dabei die Kompetenzfrage vor allem durch das Prisma der Forderung nach einer europäischen Verfassung betrachtet.

Zur Gegenüberstellung der 'französischen' und der 'deutschen' Ansätze schien es angebracht, diesen Bericht in zwei Teile aufzuteilen: Im ersten Teil (I) werden die in Deutschland und in Frankreich entwickelten Konzepte erläutert, während der zweite Teil einige Anregungen von Ingolf Pernice und daran anschließend einige Kommentare von Vlad Constantinesco enthält, die zeigen, wie die Kompetenzdebatte in Frankreich gesehen wird und die eine Reaktion auf die Vorschläge von Ingolf Pernice (II) darstellen.