Mit der Veröffentlichung seines Syntheseberichts im März 2023 hat der Weltklimarat IPCC sein Arbeitsprogramm im sechsten Berichtszyklus abgeschlossen. Die IPCC-Berichte, und insbesondere deren politische Zusammenfassungen, liefern eine wissenschaftliche Basis für die Verhandlungen im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC). Sie sind ein zentraler Orientierungspunkt der globalen Klimadebatte. Der jüngste Synthesebericht (SYR) gilt als eine der wichtigsten Informationsquellen für die im Pariser Abkommen vorgesehene erste Globale Bestandsaufnahme, die auf der UNFCCC-Vertragsstaatenkonferenz in Dubai (COP 28) im Dezember 2023 abgeschlossen werden soll. Die wissenspolitischen Kontroversen, die bei der Verabschiedung der Zusammenfassung sichtbar wurden, spiegeln Interessengegensätze wider, die die anstehende Runde neuer Emissionsminderungs- und Finanzierungszusagen prägen werden.
Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UN Environmental Programme) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet. Er soll die Gefährdung durch den Klimawandel untersuchen und gesellschaftliche Reaktionsmöglichkeiten ausloten. Der IPCC ist ein zwischenstaatlicher Ausschuss der UN und zugleich ein unabhängiges Wissenschaftsgremium. Seit der Veröffentlichung seines ersten Sachstandsberichts im Jahr 1990 setzt er international den Maßstab für die Bewertung des wissenschaftlichen Kenntnisstands zum Klimawandel. Seine Berichte spielen insbesondere bei den internationalen Klimaverhandlungen im Kontext der UNFCCC eine wichtige Rolle. Sie liefern wissenschaftliche Erkenntnisse, die als Grundlage für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und oft auch als Impuls zu einer Erhöhung der Ambitionen dienen. Die politischen Zusammenfassungen (Summary for Policymakers, SPM), die einen formalen Zustimmungsprozess durchlaufen, bieten den Regierungen die Möglichkeit, wissenschaftliche Befunde in einen politischen Kontext zu setzen und sich auf gemeinsame, wissenschaftlich abgesicherte Sprachregelungen zu einigen, auf die sich die Parteien im UNFCCC-Prozess berufen können. Durch den Aufbau des IPCC und die Organisation seiner Arbeit wird erreicht, dass die Berichte wissenschaftliche Unabhängigkeit, Validität, Aktualität, Vollständigkeit und globale Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen können. Weil jeder einzelne Satz diskutiert wird und das Plenum der Mitgliedstaaten der SPM am Ende zustimmen muss, wird andererseits jene politische co-ownership hergestellt, die für die Verwendung des Wissens im multilateralen und nationalen Kontext unabdingbar ist. Dabei gilt das Konsensprinzip, Die IPCC-Autoren müssen Vorschlägen zur Umformulierung ihres ursprünglichen Entwurfs zustimmen. So wird sichergestellt, dass die SPM ihre wissenschaftliche Substanz und Integrität behält.
Die SPM liefert evidenzbasierte Zusammenfassungen des Status quo, der Trends und möglicher Szenarien und deren Rahmenbedingungen, aber keine Handlungsempfehlungen. IPCC-Berichte und insbesondere die SPM sollen zwar politikrelevant, dürfen aber nicht »präskriptiv« (policy prescriptive) sein. Als zwischenstaatliches Gremium bewegt sich der IPCC grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen der akademischen Forschung, die wissenschaftlich abgestützt auch Präferenzen formuliert, und den klima-, wirtschafts- und geopolitischen Prioritäten der Mitgliedstaaten. Bei den Plenarsitzungen zur Verabschiedung der SPM treten dementsprechend wissenspolitische Kontroversen über die angemessene Deutung von Klimawandelfolgen und Klimaschutzoptionen deutlich hervor.
Diese Auseinandersetzungen sind in den IPCC-Arbeitsgruppen II (Klimawandelfolgen, Anpassung und Verwundbarkeit) und III (Minderung des Klimawandels) besonders ausgeprägt. Im Unterschied zur Arbeitsgruppe I (Naturwissenschaftliche Grundlagen) bearbeiten diese Fragestellungen, die zum Kernbereich des Regierungshandelns zählen. Sie bewerten unter anderem sozialwissenschaftliche und ökonomische Fachliteratur zu politischen Instrumenten und zu Technologien zur Emissionsreduktion sowie zur Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz. Auch die Integration verschiedener Wissenssysteme erhöht die Komplexität des Abstimmungsprozesses.
Der IPCC in der Post-Paris-Welt
2015 wurden mit der UN-2030-Agenda mit ihren 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung und dem Pariser Abkommen als Instrument der Klimarahmenkonvention multilaterale Zielvereinbarungen mit universeller Gültigkeit verabschiedet. Die Weltgemeinschaft hat sich – gestützt auch auf Erkenntnisse aus dem fünften IPCC-Synthesebericht 2014 – darauf geeinigt, den »Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau« zu halten und »Anstrengungen zu unternehmen«, diesen »auf 1,5 °C zu begrenzen«. Zudem sollen die Anpassung an den Klimawandel gestärkt und die globalen Finanzflüsse in Einklang mit diesen Zielen gebracht werden. Die Forschung zur Eindämmung des Klimawandels und zur Bewältigung seiner Folgen fokussiert seitdem vermehrt auf die Operationalisierung der Ziele des Pariser Abkommens. Dabei muss sie sich mit der konstruktiven Mehrdeutigkeit vieler Formulierungen auseinandersetzen und mit der Spannung zurechtkommen, die sich durch die weitgehend globale Perspektive der IPCC-Berichte und regional- und kontextspezifisch unterschiedliche Lösungswege ergibt.
Der IPCC ist als Institution unabhängig, hat aber kein Mandat, klimapolitische Ziele zu definieren. Andererseits wird von ihm erwartet, Wissen in einer für Regierungen und auch den UN-Klimaprozess relevanten Form aufzubereiten, etwa mit Aussagen zur Wahrscheinlichkeit gefährlicher Klimawandelfolgen oder zu Erfolgsaussichten verschiedener Pfade, die Erwärmung zu begrenzen. Aufgrund der Unsicherheiten, die dem Klimasystem und sozioökonomischen Entwicklungen inhärent sind, lassen sich diese nur als Bandbreiten beschreiben, was Spielraum für wissenspolitische Interventionen bietet. Auch die Beschreibung und Hervorhebung bestimmter Lösungswege (z. B. ein Zeitplan zum globalen Kohleausstieg) hat notwendigerweise immer eine politische Dimension. Dass die vom IPCC veröffentlichten Abschätzungen möglicher künftiger Verläufe häufig als Anleitung im Kontext der Pariser Klimaziele interpretiert werden, bürdet den Wissenschaftlern eine besondere Verantwortung auf und stellt eine zusätzliche Herausforderung dar im Hinblick auf die Verabschiedung der SPM im Plenum.
Die Kontroversen entzünden sich dabei in der Regel an der Formulierung politisch sensibler Befunde, etwa an der expliziten Benennung der Hauptverursacher des Klimawandels, an der Bewertung der Rolle fossiler Energieträger sowie spezifischer Treibhausgase wie CO2 oder Methan. Denn damit werden immer auch Aussagen zu spezifischen Sektoren oder Ländern getroffen. Auch die regionale Ausprägung der Folgen des Klimawandels und der Kosten des Klimaschutzes und eines Umbaus der Weltwirtschaft zählen zu den sensiblen Themen. Strittig ist auch die Differenzierung zwischen Ländergruppen anhand sozioökonomischer Kriterien und entlang der in der UNFCCC dominanten Dichotomie von Entwicklungs- und Industrieländern, insbesondere unter den Aspekten von Gerechtigkeit und historischer Verantwortung.
Im sechsten Berichtszyklus (2015–2023) ist verstärkt die Frage aufgetreten, wie die Prinzipien Fairness und Gerechtigkeit operationalisiert werden können, etwa in Bezug auf Ansprüche auf das verbleibende CO2-Budget und die Übernahme von Verantwortung zur Unterstützung von ärmeren Ländern oder solchen, die von den Folgen des Klimawandels besonders betroffen sind. Die Berücksichtigung des nationalen Kontexts und der Unterschiede zwischen Ländern und Regionen speziell in Bezug auf die Anwendbarkeit technologischer Ansätze, die Ausgestaltung wirksamer Politikinstrumente und finanzielle Kapazitäten ist vor allem den großen Schwellenländern ein Anliegen. Auch die universale Gültigkeit von sozioökonomischen Annahmen in Szenarien bzw. die Anwendbarkeit von globalen Modellergebnissen im nationalen und regionalen Kontext wird im IPCC seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Globale Modellstudien werden vermehrt als Roadmaps zur Umsetzung politischer Ziele und zur Entwicklung von Benchmarks wie »Netto-Null-Emissionen bis 2050« genutzt. Daher ist die Frage, inwiefern die (Nicht-)Berücksichtigung von Aspekten der historischen Verantwortung und der Verteilungsgerechtigkeit in diesen Studien implizit normsetzend wirkt, zu einem Diskussionspunkt zwischen einigen Regierungen und den Wissenschaftlern geworden.
Der sechste IPCC-Synthesebericht
Jeder Synthesebericht bildet den Abschluss eines Berichtszyklus und integriert die Ergebnisse der Sonder- und Sachstandsberichte, die innerhalb des Turnus erstellt wurden, über alle Arbeitsgruppen hinweg für politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit. Obwohl die Syntheseberichte somit keine neuen wissenschaftlichen Daten enthalten und prozessbedingt nicht die aktuellste Datenlage wiedergeben, sind sie die am weitesten rezipierten und politisch einflussreichsten Produkte des IPCC. In der Vergangenheit haben die Syntheseberichte auch im politischen Raum wichtige Konzepte, Narrative und Schwellenwerte beeinflusst. So war zum Beispiel der Synthesebericht des dritten Berichtszyklus entscheidend für die Etablierung der sogenannten burning embers, einer ikonischen Grafik, die fünf aggregierte Risiken entlang eines Temperaturgradienten zeigt und die seither die von Bericht zu Bericht verschärften Risikoeinschätzungen eindrücklich visualisiert. Im fünften Berichtszyklus (AR5) trug der SYR entscheidend zur Popularisierung des Konzepts eines begrenzten CO2-Budgets (carbon budget) bei und damit zu der Erkenntnis, dass CO2-Emissionen global auf Netto-Null reduziert werden müssen. Zudem wurde im AR5 SYR auf Druck vor allem der kleinen Inselstaaten, die durch den Meeresspiegelanstieg in ihrer Existenz bedroht sind, eine zusätzliche Kategorie für Minderungspfade berücksichtigt, welche die globale Erwärmung im Jahr 2100 auf 1,5 °C begrenzen, eine wichtige Grundlage für das spätere Langfrist-Temperaturziel im Pariser Abkommen.
Der Synthesebericht des sechsten Berichtszyklus (AR6 SYR) ist eine der wichtigsten Informationsquellen für die erste Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) im Kontext des Pariser Abkommens, die bei der COP28 in Dubai im Dezember abgeschlossen werden soll. Der Global Stocktake bewertet in einem zweijährigen Prozess den kollektiven Fortschritt in Bezug auf die langfristigen Ziele des Pariser Abkommens, insbesondere das Ambitionsniveau der Gesamtheit aller Nationally Determined Contributions (NDCs) und deren Umsetzung. Neben dem Status und den Trends bei den etablierten Kategorien – Treibhausgasquellen und ‑senken, Anpassung und Finanzflüsse – berücksichtigt er unter anderem auch Verluste und Schäden, besondere Herausforderungen für Entwicklungsländer, Fragen der internationalen Kooperation sowie der Gerechtigkeit und Fairness. Der Global Stocktake soll die regelmäßige Nachbesserung der nationalen Beiträge bewirken und damit ultimativ zum kollektiven Erreichen der Pariser Ziele beitragen. Darüber hinaus wird der AR6 SYR auch ein zentraler Bezugspunkt sein bei den Verhandlungen über das Globale Anpassungsziel, über ein neues kollektives Klimafinanzierungsziel oder über den bei der COP27 beschlossenen neuen Finanzierungsmechanismus für Verluste und Schäden. Daher ist es für die beteiligten Regierungen besonders wichtig, dass die im SYR hervorgehobenen Erkenntnisse der Wissenschaft und die darin verwendete Sprache ihre nationalen Prioritäten und Verhandlungspositionen im internationalen Klimaprozess möglichst weitgehend reflektieren.
Erhöhte Risiken und sinkendes Anpassungspotential
Der IPCC hat seine Bewertung der Klimawandelrisiken im Vergleich zum fünften Berichtszyklus erneut verschärft. Schwerwiegende Auswirkungen werden schon bei geringeren Erwärmungsniveaus erwartet als zuvor. Und der SYR bestätigt den Befund des 2018 erschienenen Sonderberichts über 1,5 °C globale Erwärmung, dem zufolge ein mittlerer Temperaturanstieg in besagter Höhe eine bedeutende Risikoschwelle darstellt für besonders verwundbare Ökosysteme, Regionen und Gesellschaften. Zu dieser Erkenntnis hat auch eine eingehendere Analyse des langfristigen Meeresspiegelanstiegs und der Wahrscheinlichkeit beigetragen, dass sogenannte Kipppunkte erreicht werden. Ausgangspunkt dafür waren Resultate, die bereits im Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre (2019) vorgelegt wurden. Auch die Beobachtung, dass Klimawandelfolgen und Schäden und Verluste durch Extremwetterereignisse zugenommen haben, bestätigt diese Bewertung. Hinzu kommt der Befund, dass die Wirksamkeit vieler Anpassungsoptionen mit zunehmender Erwärmung zurückgeht und für bestimmte Regionen und Ökosysteme harte Anpassungsgrenzen bereits jetzt erreicht sind bzw. zwischen 1,5 °C und 2 °C globaler Erwärmung erreicht werden.
Diese Ergebnisse des AR6 haben mit dazu beigetragen, dass sich der Schwerpunkt im politischen und öffentlichen Diskurs von der Begrenzung der Erwärmung auf deutlich unter 2 °C in Richtung 1,5 °C verlagert hat. Viele Regierungen und die Erklärungen von Glasgow (COP26) und Sharm-el Sheik (COP27) verweisen nun auf 1,5 °C als kollektives Ambitionsniveau (siehe SWP-Aktuell 81/2021 und 8/2023).
Transformation in dieser Dekade
Spätestens seit dem Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung sendet der IPCC die Botschaft, dass jede noch so kleine Zunahme der Erwärmung und jedes Jahr und jede Entscheidung zählen. Um das Langfrist-Temperaturziel des Pariser Abkommens zu erreichen, sind massive, rasche und anhaltende Reduktionen der Treibhausgasemissionen in allen Sektoren notwendig. Die aktuell vorliegenden NDCs sind völlig unzureichend. Der SYR attestiert hier eine große Ambitions- und Implementierungslücke. Um die Erwärmung »mit begrenztem overshoot« (also temporärem Überschreiten von maximal 0,1 °C) langfristig unterhalb 1,5 °C zu halten, müssen sich die globalen Treibhausgasreduktionen im Zeitraum 2019–2030 auf 43 Prozent, bis 2035 auf 60 Prozent belaufen. Insbesondere der im SYR erstmals explizit genannte Minderungswert für das Jahr 2035 dürfte sich bei der Prüfung der globalen Ambition im Rahmen des Global Stocktake und bei der darauffolgenden Neuformulierung der NDCs mit Zeithorizont bis 2035 als wichtige Orientierungsmarke erweisen.
Für den politischen Prozess sind solche quantitativen Abschätzungen zu Reduktionszielen, ‑fristen und ‑potentialen maßgebliche Vorlagen und speziell für einzelne Sektoren, Technologien oder Energieträger entsprechend umstritten. Konkrete Angaben zu Ausstiegsjahren oder Reduktionszielen für Kohle, Öl und Gas, zu einem Stopp der Entwaldung oder auch zu erforderlichen Ausbauraten für erneuerbare Energien finden sich in der SYR nicht. Die zunehmende Kosteneffizienz der Wind- und der Solarenergie und deren hoher potentieller Beitrag zu den »Paris-kompatiblen« Emissionsreduktionen bis 2030 lassen sich nur einer Grafik entnehmen. Konsensfähig waren hingegen die Aussagen zur wichtigen Rolle von Maßnahmen zur Methanreduktion. Dies dürfte ein Hinweis auf einen Schwerpunkt der COP28 sein.
Die Zukunft fossiler Energieträger
Während in wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und nationalen politischen Debatten in Industrieländern von der Prämisse ausgegangen wird, dass der weitgehende Ausstieg aus fossilen Energieträgern eine Bedingung für effektiven Klimaschutz ist, sind im multilateralen Rahmen Formulierungen, die sich auf die Produktion, Finanzierung und Subventionierung von Kohle, Öl und Erdgas beziehen, schwer durchsetzbar. Tatsächlich war der bei der COP26 verabschiedete Glasgow Climate Pact das erste UNFCCC-Beschlussdokument, das eine explizite Referenz zu fossilen Energieträgern enthielt. Die beim Punkt Kohleverstromung in letzter Minute erzwungene Änderung der Formulierung »phase out« zu »phase down« ließ in Glasgow fast die Verhandlungen platzen.
Mit einigen Formulierungen in der politischen Zusammenfassung des Berichts der Arbeitsgruppe III (2022) wurde hier Neuland betreten. Diese finden sich im SYR wieder. Beide Dokumente zeigen, dass Finanzflüsse für fossile Infrastruktur und Subventionen global diejenigen für Klimaschutz und Anpassung übersteigen und weisen darauf hin, dass allein die Emissionen aus der Weiternutzung der existierenden Anlagen zur Energieversorgung das verbleibende CO2-Budget für 1,5 °C bereits sprengen. Emissionen aus geplanten Anlagen würden – ohne zusätzliche Minderungsmaßnahmen wie CO2-Abscheidung und -Einlagerung (Carbon Capture and Storage, CCS) – selbst das CO2-Budget für 2 °C ausreizen.
Bei Aussagen zur Notwendigkeit einer Reduzierung der Nutzung fossiler Energieträger steht regelmäßig der Zusatz »ohne CCS«. Die Nutzung fossiler Energieträger mit CCS wird ungeachtet der damit verbundenen hohen Kosten, begrenzter Einsatzmöglichkeiten und eines geringen kurzfristigen Minderungspotentials in der SPM des SYR als wesentliche Technologie gelistet. Eine Fußnote weist indes auf die Begrenzungen des CCS-Verfahrens hin. Diese hohe Bewertung begründet sich einerseits damit, dass CCS in vielen der Emissionsminderungsszenarien der Arbeitsgruppe III, insbesondere bei der Kohleverstromung, eine prominente Rolle spielt, was für stark kohleabhängige Länder politisch relevant ist. Andererseits wird mit der Betonung des Potentials von CCS für fossile Energieträger allgemein auch deren Zukunftsfähigkeit insinuiert, was für viele öl- und gasproduzierende Länder wichtig ist, die auf einen CCS-Pfad bzw. auf CO2-Abscheidung und ‑Verwendung (Carbon Capture and Utilization, CCU) setzen.
Temporäres Überschreiten von 1,5 °C und CDR als neue Normalität
Der SYR enthält eine unbequeme Wahrheit, die mit ungewohnter Deutlichkeit ausgesprochen wird: Die Schwelle von 1,5 °C wird erwartbar selbst bei sofortigen und strengen Klimaschutzmaßnahmen weltweit zumindest vorübergehend überschritten werden, und zwar wahrscheinlich schon Anfang der 2030er Jahre.
Damit ist einer der zentralen Widersprüche der Klimapolitik ins Scheinwerferlicht gerückt: Die politischen Bekenntnisse zu 1,5 °C sind mit der Realität der seit Paris unverminderten Emissionen nicht vereinbar. Das verbleibende CO2-Budget für 1,5 °C wäre laut SYR bei gleichbleibenden Emissionen bis Ende dieses Jahrzehnts aufgezehrt. Eine drastische Reduktion der globalen CO2-Emissionen um 48 Prozent bis 2030 gegenüber dem Niveau von 2019 und das Erreichen von Netto-Null-CO2-Emissionen bis Anfang der 2050er Jahre würde es immerhin ermöglichen, den Temperaturanstieg auf 1,6 °C zu begrenzen. Nur wenn weltweit die kumulierte Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) die Menge verbleibender CO2-Restemissionen in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich überschreiten würde, könnte der Temperaturanstieg wieder auf 1,5 °C gedrückt werden.
Die Unvermeidbarkeit einer großskaligen CO2-Entnahme aus der Atmosphäre, um die Erwärmung nach einem temporären overshoot wieder auf 1,5 °C zurückzuführen, wird im SYR klar benannt. Im Report werden auch die dadurch entstehenden bzw. damit verknüpften Risiken angesprochen, sowohl in Bezug auf die potentiellen Konsequenzen einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 °C als auch in Bezug auf die technische Umsetzbarkeit, die Kosten und die möglichen ökologischen und sozialen Folgen einer solchen großskaligen CO2-Entnahme, die zusätzlich zu CDR zum Ausgleich von schwer vermeidbaren Restemissionen (z. B. aus der Landwirtschaft) erfolgen müsste.
Dieser Schritt in Richtung Normalisierung und Versachlichung einer notwendigen Debatte beruht auch auf wissenschaftlichen Fortschritten seit dem AR5. Zu nennen wären hier etwa die systematische Untersuchung von Umwelt-, Sozial- und Kostendimensionen verschiedener CDR-Ansätze, die Berücksichtigung möglicher Flächenkonkurrenzen und anderer Nachhaltigkeitskriterien bei der Modellierung ökosystembasierter CDR-Technologien wie Bioenergie mit CCS (BECCS) oder Aufforstung zur Vermeidung von Zielkonflikten und die hieraus resultierenden Erkenntnisgewinne im Hinblick auf die nachhaltigen Potentiale von CDR. Hohe Dynamik ist auch bei der praktischen Umsetzung zu verzeichnen: von Pilotanlagen für BECCS und Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS) über umfassende staatliche Innovationsprogramme, zum Beispiel in den USA und UK, bis zur konkreten politischen Rahmensetzung auf EU-Ebene, wo der Rat der Fachminister und das Europäische Parlament derzeit über die Regulierung der Zertifizierung von CDR-Methoden verhandeln.
Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass eine durchgängige Berücksichtigung von CDR Teil der neuen Normalität im Klimaschutz sein wird. CDR wird dabei allerdings nicht anstatt, sondern zusätzlich zu ambitionierter Emissionsreduktion betrieben werden müssen, damit das Temperaturziel des Pariser Abkommens eingehalten werden kann und sich die zu neutralisierenden Restemissionen und der temporäre overshoot auf handhabbare Größenordnungen begrenzen lassen.
Welche Effekte das absehbare Überschreiten der 1,5 °C-Schwelle für die UNFCCC-Verhandlungen haben wird, ist offen. Es könnte die Stimmen derjenigen stärken, die einen engeren Fokus auf die Marke »deutlich unter 2 °C« unterstützen. Es ist auch denkbar, dass 1,5 °C als »Überlebensgrenze« insbesondere der kleinen Inselstaaten eher noch an Bedeutung gewinnt, und der Fokus sich darauf verschiebt, wie das Ausmaß und die Dauer des overshoot möglichst geringgehalten und der notwendige Einsatz von CDR auch politisch organisiert und finanziert werden können, ohne nachhaltige Entwicklungsziele zu gefährden.
Klimafinanzierung, Verluste und Schäden
Klimarelevante Investitionen müssten in naher Zukunft erheblich aufgestockt werden, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Die Finanzflüsse für die Transformation sind aktuell mehr als unzureichend, und im Bereich Anpassung ist die entsprechende Lücke noch größer als beim Klimaschutz. Erstmals wird im SYR im Kontext der Anpassungsthematik auch explizit darauf verwiesen, dass sich die finanziellen Spielräume gerade der ärmsten Entwicklungsländer durch die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels vermindern.
Der Umfang der Finanzbedarfe lässt sich wissenschaftlich ermitteln. Ebenso können Aussagen über potentiell wirksame Instrumente und Mechanismen getroffen werden, die Zugang zu Finanzierung ermöglichen. Die Frage, woher die Mittel kommen sollen und welche Unterstützung die reicheren (historischen) Großemittenten leisten sollen, kann hingegen nicht vom IPCC geklärt werden. Selbst eine grafische Darstellung von Daten, aus denen sich Konsequenzen in Bezug auf Verantwortung oder Haftung ableiten ließen, wie zum Beispiel länderspezifischer Emissionen, ist im Rahmen der Erstellung einer politischen Zusammenfassung kaum durchsetzbar. Die Kontroversen, die über entsprechende Formulierungsentwürfe oder Visualisierungen entstehen, sind auch vor dem Hintergrund der anstehenden Verhandlungen über ein neues Finanzierungsziel im Kontext des Pariser Abkommens sowie über den Finanzmechanismus für Verluste und Schäden zu sehen. Die Liste der potentiellen Geber ist bereits über die traditionellen Industrieländer hinaus erweitert worden, aber konkrete Verpflichtungen müssen noch verhandelt werden.
Der SYR nimmt an vielen Stellen und mit großem Nachdruck Bezug auf klimawandelbedingte Schäden und Verluste, die bereits entstanden oder in Zukunft, vor allem bei Überschreiten der 1,5 °C-Schwelle, unvermeidbar sind. Sprachlich klar abgegrenzt vom »Loss and Damage«-Konzept der UNFCCC, vermeidet der Text eine regionale Differenzierung. Damit spiegelt er den politischen Konsens der COP27 wider, dass besonders betroffene und ärmere Länder Unterstützung zur Bewältigung von zunehmenden Schäden und Verlusten brauchen, lässt jedoch offen, welche Länder dies sind.
Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Bearbeitung dieses Themas erwächst aus dem Fehlen einer allgemein gültigen Definition des Begriffs Entwicklungsländer und aus dessen starker Politisierung im UN-Kontext. Dies macht eine Differenzierung entlang anderer, in der Wissenschaft üblicher Kategorien (z.B. anhand des Bruttonationaleinkommens oder des UN-Index der menschlichen Entwicklung) im SYR unmöglich.
Die innerhalb der UNFCCC praktizierte, aus dem Jahr 1992 stammende Zweiteilung in Industrie- und Entwicklungsländer spiegelt hingegen nicht die heutige Situation in der Welt in Bezug auf Wirtschaftsstärke, relative und absolute aktuelle und historische Emissionen und Kapazität zur Unterstützung anderer wider. Einer der großen Durchbrüche des Pariser Abkommens ist seine universelle Gültigkeit, und die Überwindung dieser Dichotomie unter dem Leitsatz der »gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeit« (common but differentiated responsibilities and respective capabilities). Seither wird um die Interpretation dieser differenzierten Verantwortung hart gerungen, insbesondere zwischen den klassischen Industrieländern und den großen Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien (siehe SWP-Aktuell 15/2019). Diese Spannung ist an den entsprechenden Stellen im SYR ablesbar, der als Input für den UNFCCC-Prozess dient.
Gerechtigkeit und Fairness
Der Umgang mit dem Klimawandel ist durchdrungen von Gerechtigkeitsfragen: innerhalb und zwischen Generationen und Gesellschaften, zwischen Verursachern und Betroffenen und zwischen ärmeren und reicheren Ländern, insbesondere vor dem Hintergrund des Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung. Wie schon der AR5 betont auch der AR6 in diesem Zusammenhang die potentiellen Synergien zwischen ehrgeizigem Klimaschutz, Anpassung und anderen Zielen nachhaltiger Entwicklung. Der SYR hebt zudem hervor, wie bedeutsam eine gerechte und inklusive Gestaltung und Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen für deren Effektivität und Akzeptanz ist; auch kontextspezifische Faktoren von Verwundbarkeit, vor allem armer und marginalisierter Bevölkerungsgruppen, müssten berücksichtigt werden.
Gerechtigkeit und Fairness ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Ihre Bedeutung als zentrales Konzept im Kontext des UN-Klimaregimes wird herausgestellt und gleichzeitig eingeräumt, dass es »Verschiebungen bei der Differenzierung zwischen Staaten« geben könne und die »Bewertung der fairen Anteile« eine Schwierigkeit darstelle. Der Report weist darauf hin, dass eine ehrgeizige Klimaschutzpolitik potentiell disruptive Veränderungen in der ökonomischen Struktur auslösen kann, mit erheblichen Verteilungsfolgen innerhalb und zwischen Staaten. Das schließe auch die Verlagerung von Einkommen und Beschäftigung ein, besonders in Regionen, die wirtschaftlich stark von fossilen Energien abhängen. Im Kontext dieser auch für die EU und Deutschland aktuellen Frage verweist der SYR auf die Beachtung von »gerechten Übergängen« (just transitions).
Blick nach vorn
Die IPCC-Plenarsitzung im schweizerischen Interlaken war die erste Verabschiedung eines Berichts in Präsenz seit 2018/19. Dass diese zum Erfolg geführt werden konnte, ist im Lichte der Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Corona-Krise eine beachtliche Leistung.
Die hierfür notwendige zweitägige Verlängerung der Beratungen, mit langen Verhandlungstagen und Nachtsitzungen, macht eine der großen Herausforderungen des multilateralen Klimaprozesses sichtbar: Gerade ärmere Länder mit kleinen Delegationen können sich unter solchen Bedingungen kaum gleichberechtigt einbringen. Wichtige Stimmen einiger Staaten, die vom Klimawandel am meisten betroffen sind, fehlen dann am Ende, weil die Reisekosten ihrer Delegierten von der UN nur für die offiziell geplante Dauer der Sitzungen übernommen werden und sie die Heimreise wie vorgesehen antreten.
Der IPCC steht vor großen institutionellen Aufgaben. Dem wachsenden Umfang der wissenschaftlichen Literatur und den rasanten technischen und politischen Entwicklungen ist das Gremium mit seinem aktuellen modus operandi kaum gewachsen. Die berechtigten Forderungen nach einer stärkeren Diversität des Autorinnen- und Autoren-Pools sind in einem Kooperationssystem, das auf Freiwilligkeit beruht, und innerhalb einer Forschungslandschaft, die von den Industrieländern dominiert wird, schwierig umzusetzen. Der globale Untersuchungsrahmen limitiert zudem den Nutzen der Ergebnisse auf nationaler Ebene. Gleichzeitig wirft das vermehrte Einbringen politischer Perspektiven auch die Frage nach der zukünftigen Funktionsfähigkeit des bisher etablierten IPCC-Modells auf. Wenn sich der Fokus weiter von den naturwissenschaftlichen Grundlagen wegbewegt und sich stärker auf Implementierung von Klimaschutz, Anpassung und Finanzierung richtet, werden nationale Sensibilitäten notwendigerweise mehr in den Vordergrund rücken.
Im Juli 2023 wird in Nairobi die neue IPCC-Führung gewählt – ein neuer Vorsitz, dessen Stellvertreter, die Co-Chairs der drei Arbeitsgruppen sowie das regional ausgewogen besetzte Bureau. Das Arbeitsprogramm für den anschließenden siebten Berichtszyklus wird auf Grundlage der Erfahrungen im AR6 voraussichtlich noch 2023 vom Plenum beschlossen. Die Diskussionen über eine Angleichung der Berichtszyklen an den Fünfjahresrhythmus des Global Stocktake oder über die Zusammensetzung und Wahl des nächsten IPCC-Bureaus verliefen zuletzt kontrovers und ohne Beschlüsse zu substanziellen Neuerungen. Den tiefgreifenden Reformen, welche die Politikrelevanz der Arbeit des IPCC erhalten und die Inklusivität in dessen Prozessen erhöhen könnten, stehen dabei die institutionellen Pfadabhängigkeiten entgegen, wie sie in UN-Organisationen nicht selten zum Tragen kommen.
Dr. Gerrit Hansen ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Oliver Geden ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa. Geden war an der Erstellung des sechsten IPCC-Syntheseberichts als Leitautor beteiligt, Hansen als beitragende Autorin.
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DOI: 10.18449/2023A28