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Die Bilateralisierung der britischen Außenpolitik

Stand und Folgen für Deutschland und die EU nach einem Jahr Brexit

SWP-Aktuell 2022/A 16, 23.02.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A16

Research Areas

In der Außen- und Sicherheitspolitik setzt das Vereinigte Königreich (VK) nach dem Brexit auf eine Bilateralisierung seiner Beziehungen zu den Mitgliedstaaten der EU. Ein Jahr nach dem Brexit hat das VK erste Erfolge erzielt: Neben Deutschland hat es eine Reihe von EU-Staaten für eine Vertiefung der bilateralen Beziehungen gewonnen und mit diesen neue Koordinationsstrukturen verein­bart. Gleichzeitig haben sich die Briten in Krisensituationen wie an der polnisch / litaui­schen EU-Außengrenze zu Belarus und in der Ukraine intensiv engagiert, auch um ihre Bedeutung für die europäische Sicherheit zu demonstrieren. Die EU kann an einer solchen Bilateralisierung kein Interesse haben. Statt auf einem normalen Dritt­staaten-Modell zu beharren, das für London nicht passt, und angesichts der zurückkehrenden Kriegsgefahr in Europa sollten die EU und das VK auf eine neue Sicherheitspartnerschaft hinarbeiten.

Unter der Regierung von Boris Johnson setzt das Vereinigte Königreich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik auf den har­ten Brexit. Anders als in der Handelspolitik oder etwa auch der inneren Sicherheit hat London bei der Aushandlung des Handels- und Partnerschaftsabkommens mit der EU in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik bewusst auf jegliche For­men der struk­turierten Zusammenarbeit mit der Union verzichtet. In dem 2021 ver­abschiedeten Strategiedokument Integrated Review wird die Union als Partner aus­geblen­det. Stattdessen formuliert Lon­don darin die Ambition, als »Global Britain« eine Posi­tion als eigenständige weltweite Führungsmacht einzunehmen (siehe SWP-Aktuell 35/2021). Der Anspruch beruht auf der Ein­schätzung der britischen Regierung, dass die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik schwach genug sei, um sie ohne größere negative Konsequenzen für das VK umgehen und die bilateralen Beziehungen innerhalb Euro­pas neben der Nato ungestört vertiefen zu können.

Selektives Engagement gegenüber der EU

Ein Jahr nach Ende der Brexit-Übergangs­phase werden die Erfolge und Grenzen der britischen Strategie für die europäische Sicherheitsarchitektur sichtbarer. Blickt man auf die Beziehungen zwischen dem VK und der EU, so ist die Zusammenarbeit sehr selek­tiv geblieben. Einen strukturierten Dialog – abseits der laufenden Verhandlungen über die Brexit-Nachwehen, besonders mit Blick auf Nordirland (siehe SWP-Aktuell 60/2021) – hat es seit Anfang 2021 nicht gegeben. Dem Beschluss der USA, Kanadas und Nor­wegens, sich am EU-Projekt zur militärischen Mobilität zu beteiligen, hat sich das Vereinigte Königreich als einziges großes Nato-Land nicht angeschlossen; die Türkei hat eine Beteiligung beantragt, die aber auf­grund der schwierigen EU-Türkei-Bezie­hun­gen noch blockiert ist. Auch eine Teil­nahme am Rat für Auswärtiges, wie von US-Außen­minister Antony Blinken prakti­ziert, hat es seitens des britischen Außenministers bzw. der Außenministerin nicht gegeben.

Im Rahmen internationaler Organisationen und multilateraler Foren fand dennoch eine in der Regel fallbezogene Zusammenarbeit statt. So hatte das Vereinigte König­reich beispielsweise 2021 die Präsidentschaft der G7 inne, an der die EU als Mitglied teil­nimmt. Auch wegen des Brexits nutzte Lon­don das Forum stärker als zuvor als außen­politisches Format. Der britische Vorsitz lancierte mehrere gemeinsame Erklärungen der G7-Außen­minister- und ‑ministerinnen, einschließlich des Hohen Beauftragten der EU, etwa zu Hongkong / China, Myanmar oder Belarus. Am Rande der G7 fand im Mai 2021 auch das bisher einzige bilaterale Tref­fen zwischen dem britischen Außenminister und dem Hohen Vertreter der EU statt. In der Welthandelsorganisation (WTO) hat sich das Vereinigte Königreich dem Verfah­ren der EU gegen die chinesischen Handels­praktiken gegenüber Litauen angeschlossen.

Eine multilaterale Koordination unter Beteiligung der EU und des Vereinigten Königreichs gab es vor allem immer dann, wenn die USA dabei sind – und damit aus britischer Sicht nicht Brüssel bzw. die EU-Mitgliedstaaten den Ton angeben, sondern Washington. Dies galt beispielsweise bei der Koordination von Sanktionen gegen China im März 2021 in Reaktion auf die Unterdrückung der uigurischen Minderheit und im Fall der Strafmaßnahmen gegenüber Belarus im Dezember 2021. Nicht zuletzt spricht sich Washington im Frühjahr 2022 für die Verhandlungen mit Russland über dessen Truppenaufmarsch an und in der Ukraine mit seinen zentralen europäischen Partnern ab, unter Einschluss des Vereinig­ten Königreichs, der EU und der Nato. Im Zuge der Intensivierung der russischen Drohgebärden gegenüber der Ukraine und der Anerkennung der Separatistengebiete im Donbas durch Moskau haben sich die EU und das VK verstärkt direkt abgestimmt. So haben sich die neue Außenministerin Eliza­beth Truss und der Hohe Vertreter sowie Boris Johnson und Ursula von der Leyen telefonisch miteinander verständigt.

Die Bilateralisierung in der Praxis

Anstelle der Zusammenarbeit mit der EU setzt London auch in Europa auf den Aus­bau seiner bilateralen Kooperationen. Dies ist kein großer Bruch zu seinem vorherigen Verhalten als EU-Mitglied. Auch innerhalb der EU bleibt die Außen-, Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik ein Sonderbereich, in dem die Mitgliedstaaten freiwillig kooperieren, ihre Vetos behalten und die EU neben bilateralen und multilateralen Beziehungen und Organisationen wie der Nato, der VN oder anderen nur eines von verschiedenen möglichen Handlungsfeldern ist. Schon in der Vergangenheit galt dies für keinen EU-Mitgliedstaat mehr als für das Vereinigte Königreich, das sich als ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat mit seinem Fokus auf das enge Verhältnis zu den USA und zur Nato und mit seinen besonderen Beziehungen zum Commonwealth regelmäßig von der EU-Außen- und Sicherheitspolitik ab­setzte. Eine faktische Einschränkung der nationalen Souveränität gab es in diesem Bereich nicht. Verloren hat London jedoch die regelmäßigen Konsultationsrunden innerhalb der EU, die auf Ministerebene mindestens monatlich, auf Arbeitsebene fast täglich stattfinden.

Seit dem Brexit setzt London daher auch innerhalb Europas darauf, seine bilateralen Beziehungen zu intensivieren. Dabei hat das Vereinigte Königreich einige beachtens­werte Erfolge erzielt. Formell hat es seine bilateralen Beziehungen zu einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten durch Partnerschafts­erklärungen ausgebaut. Den Anfang mach­ten die Briten hier mit einer Absichtserklä­rung zur verstärkten Zusammenarbeit mit Estland im März 2021. Die erste »Joint Dec­laration«, die umfassender ist und konkrete Ziele und Mechanismen vorsieht, unterzeich­nete das VK im Juni 2021 mit Deutschland.

Dass die Bundesregierung, eine der ent­schiedensten Befürworterinnen der Maß­gabe, den Brexit nur über die EU und nicht bilateral zu verhandeln, eine solche Erklä­rung unterzeichnet hat, scheint dann auch für andere Mitgliedstaaten der Präzedenzfall für eigene Vereinbarungen dieser Art gewesen zu sein. Seitdem sind noch vier andere solcher bilateralen Part­nerschafts­erklärungen hinzugekommen (siehe Karte), weitere befinden sich in Ver­handlung.

Neben den 2021 geschlossenen Gemeinsamen Erklärungen mit Deutschland, Lett­land, Dänemark und Belgien sowie dem Strategischen Rahmenvertrag mit Griechenland und der Absichtserklärung mit Estland hat London noch Verträge mit Frankreich (2010) und Polen (2017) zur Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unterzeichnet. Zudem hat die britische Regierung mit Italien einen Dialog begon­nen, der durch jährliche Gespräche auf Ministerebene und neue Foren für den Aus­tausch zwischen Regierungen und Unter­nehmen Exporte und Investitionen fördern soll. Über die EU-Staaten hinaus hat das VK innerhalb Europas seit dem Brexit Vereinbarungen mit Island (2020) und San Marino (2021) getroffen.

Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Fokus

Die im Jahr 2021 beschlossenen gemein­samen Erklärungen und Rahmenabkommen und die beiden völkerrechtlichen Verträge beziehen sich alle zum Großteil auf den Themenkomplex Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie haben aber ver­schiedene Nuancen. Die beiden Verträge mit Frankreich und Polen beziehen sich ausschließlich auf Sicherheit und Verteidigung und sehen den Aus­tausch von Per­sonal, gemeinsame Übungen, Einsätze und eine koordinierte Beschaffung vor, wobei der britisch-französische Vertrag eine etwas tiefere Zusammenarbeit ermöglicht. In der Praxis gestaltete sich das britisch-französi­sche Verhältnis trotz der engen militärischen Kooperation jedoch 2021 besonders konfliktreich. Das lag sowohl an der Um­setzung der Post-Brexit-Beziehungen in Be­zug auf die Fischerei als auch an dem Streit, der sich nach dem U-Boot-Deal zwischen dem VK, den USA und Australien durch das Herausdrängen Frankreichs aus einem Rüs­tungsgeschäft entzündete. Auf den polnisch-britischen Vertrag hingegen hatte Warschau 2017 bereits nach dem Brexit-Referendum hingearbeitet in dem Bestreben, das Ver­einigte Königreich verteidigungspolitisch an der Ostflanke der Nato engagiert zu halten.

Von den Kooperationen, die im letzten Jahr vereinbart wurden, ist die britisch-deut­sche Erklärung im Bereich Außenpolitik am detailliertesten. Die Außenminister betonen die globale Ver­antwortung beider Staaten für die Bekämpfung des Klimawandels, die Notwendigkeit einer Reform des VN-Sicher­heitsrats und das Ziel eines permanenten Sitzes für die Bundesrepublik in diesem Gremium. Neben Referenzen zu fast allen Weltregionen und zur Nato-EU-Zusammen­arbeit enthält die Erklärung auch einen ausführlichen Absatz zur internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Im Gegensatz dazu konzentrieren sich die anderen Vereinbarungen stärker auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung: Das VK und Griechenland wollen sich ge­mein­sam für Initiativen auf dem West­lichen Balkan sowie in der Mittelmeer- und MENA-Region einsetzen. Die britisch-däni­sche Deklaration ist kurz gehalten und fokussiert auf die Zusammenarbeit im Bal­tikum und in der Northern Group und auf die militärische Kooperation in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel bei Übungen oder der Instandhaltung von Fregatten. Die Sicherheit und Stabilität des Baltikums und eine verstärkte verteidigungspolitische Zu­sammenarbeit, vor allem in der Nato, wer­den auch in dem Dokument genannt, auf das sich das VK mit Estland geeinigt hat, jedoch nicht weiter spezifiziert.

Karte

Während Belgien und das VK lediglich ihre Absicht niederlegen, ihre bilaterale Verteidigungskooperation zu erweitern, ist die Erklärung mit Lettland deutlich aus­führlicher. Die britische und die lettische Seite heben die Bedeutung der strategischen Einheit Europas hervor und stellen die kulturellen und persönlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern heraus. Besonderes Gewicht legen sie neben dem Kampf gegen Desinformation auf das Verhältnis zu den Staaten der Östlichen Partnerschaft. Wortgleich zur deutsch-britischen Erklärung wird der Stellenwert der Nato betont, allerdings ohne den Zusatz, die Zusammenarbeit auch in Bezug auf den Umgang mit China zu verstärken. Im Bereich Sicherheit und Verteidigung vereinbaren die Parteien, im Rah­men bestehender Kooperationen (Joint Expeditionary Force, Northern Group) und bilateral verstärkt in der Abwehr hybri­der Bedrohungen zusammenzuarbeiten.

Inhalte jenseits von Außen- und Sicherheitspolitik

Ein Teil der Erklärungen geht jedoch auch auf Ziele jenseits der Außenpolitik ein. Solche Absprachen können, wenn sie sich mit gemischten EU-Kompetenzen überschneiden, durchaus Konfliktpotential für die Zusammenarbeit innerhalb der EU haben. Am engsten auf die Außen- und Sicherheitspolitik fokussiert ist die deutsch-britische Erklärung.

Im Gegensatz dazu sticht die Verein­barung mit Griechenland dadurch heraus, dass sie sich auf zahlreiche weitere Politik­felder erstreckt: Neben der Stärkung der bi­lateralen Kooperation, unter anderem in den Bereichen Digitalisierung, Tourismus, Bildung und Forschung und in maritimen Angelegenheiten, soll die Zusammenarbeit auch auf dem Feld der Strafverfolgung ver­bessert werden. Außerdem wollen London und Athen einen strukturierten Informa­tions­austausch zum Thema Migration einrichten.

Die Erklärungen mit Belgien und Lettland hingegen enthalten überwiegend wirt­schafts­politische Ziele. Das mit Lettland unterzeichnete Dokument sieht vor, das bilaterale Handels- und Investitionsvolumen zu steigern und in Schlüsselsektoren wie den erneuerbaren Energien und der Digital­wirtschaft engere ökonomische Beziehungen aufzubauen. Weitere Kooperations­felder sind Bildung, Wissenschaft und Kul­tur, aber auch die Strafverfolgung. Anders als in den anderen Erklärungen wird hier auch die Absicht genannt, zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit und Bildungschancen von Mädchen zu kooperieren. Die britisch-estnische Deklaration sieht eben­falls eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Digitales, Handel, Bildung und Kultur vor. Jenseits dessen wird darin aber auch Gewicht auf ein gemeinsames Eintre­ten für die Pressefreiheit und ein größeres Engagement beim Klimaschutz gelegt. Auch die britisch-belgische Erklärung fixiert das Ziel, die Geschäftsbeziehungen und die Zu­sammenarbeit der Administrationen, etwa zur Regelung des Schiffsverkehrs, zu inten­si­vieren. Die Kooperation in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Energiegewinnung und Innovation soll ausgeweitet werden. Außerdem wollen das VK und Belgien ihre Anstrengungen für einen weltweiten Zu­gang zu Covid-19-Impfstoffen erhöhen. Anders als in den anderen Vereinbarungen wird hier betont, dass die illegale Migration auf dem Seeweg in Richtung des VK durch verschiedene Methoden unterbunden wer­den soll. Auch bei der Frage der inneren Sicherheit sticht die britisch-belgische Er­klä­rung hervor: Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung soll sogar durch ein spezielles Abkommen vertieft wer­den. Damit ragt die bilaterale Übereinkunft klar in Bereiche gemischter Zuständig­keiten der EU hinein, die jedoch zwischen der Union und dem VK nicht im Handels- und Ko­operationsabkommen geregelt wur­den. Rechtlich steht es den Mitgliedstaaten frei, ungenutzte gemischte Zuständigkeiten selbst auszufüllen. Problematisch könnte dies jedoch für die Union werden, wenn das Vereinigte Königreich durch bilaterale Ver­einbarungen gezielt zwischen den EU-Mit­gliedstaaten diskriminiert und/oder diese im Wett­bewerb gegeneinander ausspielt.

Bilateralisierung und das Verhältnis zur EU

Inwieweit die EU in den Erklärungen und Verträgen erwähnt wird, deutet ebenfalls auf national unterschiedliche Schwerpunkt­setzungen hin. Während im britisch-fran­zösischen Vertrag von 2010 noch an mehre­ren Stellen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU Rechnung getra­gen wird, findet diese in dem inhaltlich ähn­lichen Vertrag mit Polen von 2017 keine Er­wähnung, was die Auswirkungen des Brexit-Referendums und die veränderte Stellung des VK zur EU illustriert. Zu jener Zeit hatte die damalige Premierministerin Theresa May allerdings auch noch eine Sicher­heits­partnerschaft mit der EU angestrebt.

Während die EU in der britisch-estnischen Deklaration nur beiläufig erwähnt wird, sprechen sich die anderen bilateralen Er­klärungen für eine gute Zusammenarbeit zwischen der EU und dem VK aus (Deutschland, Lettland) und/oder für eine gute Nato-EU-Koopera­tion (Deutschland, Lettland, Dänemark). Zudem enthalten die Verein­barungen mit Griechenland, Belgien und Deutschland ähnlich lautende Passagen, denen zufolge die Partner des VK die im Ab­kommen genannten Ziele im Einklang mit ihrer EU-Mitgliedschaft umsetzen werden. Die britisch-deutsche Erklärung ist an die­sem Punkt am ausführlichsten. Sie enthält die Aussage, dass die EU-Mitgliedschaft für Deutschland ein fixer Referenzpunkt ist und die Bundesrepublik in allen bilateralen Angelegenheiten gegenüber den anderen Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen das höchste Maß an Transparenz sicherstellen wird. Ein vergleichbarer Passus fehlt in den anderen Deklarationen. Allerdings fragt der Rat der EU seit dem Brexit regel­mäßig den Stand der bilateralen Beziehungen der Mitgliedstaaten zum Vereinigten Königreich ab, und die Vertragspartner des VK haben sich bei der Aushandlung der Er­klärungen mit der Kommission abgesprochen.

Aufbau bilateraler Koordinationsstrukturen

Auch als Ersatz für die Koordinations­möglich­keiten innerhalb der EU, die das VK verloren hat, sehen die bilateralen Erklärun­gen jeweils strukturierte Dialoge vor. Die Dokumente unterscheiden sich jedoch deut­lich in der Spezifizierung dieser Formate und der politischen Ebene, auf der sie an­gesiedelt sein sollen. Während die Verein­barungen zwischen dem VK und Dänemark sowie Estland keine gesonderten Strukturen zu ihrer Implementierung vorsehen, spricht die Gemeinsame Erklärung mit Lettland von regelmäßigen bilate­ralen Dialogen auf allen Ebenen und jährlichen Begegnungen auf Ministerebene. Das Rahmenabkommen mit Griechenland sieht einen jährlichen Dialog vor.

Die Ausführungen zu den Konsultationen fallen in den Gemeinsamen Erklärungen mit Deutschland und Belgien dagegen detaillierter aus. Zwischen dem VK und der Bundesrepublik soll es jährlich einen Stra­tegischen Dialog der Außenministerinnen und regelmäßige Gespräche, unter anderem zwischen Staatssekretären und ‑sekretärin­nen, Politischen Direk­torinnen und Direk­toren und den Ständigen Vertretern bzw. Vertreterinnen, geben. Bundeskanzlerin Merkel hatte 2021 kurz nach Unterzeichnung bei ihrem Abschiedsbesuch in London zudem regel­mäßige deutsch-britische Regie­rungskonsul­tationen in Aussicht gestellt.

Ebenso soll eine britisch-belgische strategische Arbeitsgruppe, bestehend aus hoch­rangigen Beamten, mindestens einmal im Jahr tagen. Dazu kommen jährliche Treffen der Außenministerinnen und – im Gegen­satz zu den anderen bilateralen Erklärungen – zusätzlich Regierungskonsultationen. Die Verträge mit Polen und Frankreich schließen ähnliche Mechanismen ein: mit Polen finden ein Dialog zur Verteidigung und gemeinsame Treffen der Außen- und Verteidigungsminister statt. Der britisch-französische Vertrag sieht vor, dass der bri­tische Premierminister und der französische Präsident im Rahmen ihrer jährlich stattfin­denden Gipfel die Kooperation bespre­chen.

Insgesamt bleibt dabei fraglich, inwieweit sich die zahlreichen jährlichen Dialoge mit einer Vielzahl an Staaten auf britischer Seite in das Arbeits­pensum integrieren lassen. Auch wenn diese Konsultationen verschiedene Minis­terien betreffen, binden sie nicht nur die Arbeitszeit von Ministerin­nen und Ministern, sondern auch erhebliche Res­sour­cen in der Vorbereitung. Zudem kön­nen über das Jahr verteilte bilaterale Dia­logformate nicht den ständigen Austausch mit allen EU-Staaten in Brüssel ersetzen.

Bilaterales Engagement in europäischen Hotspots

Neben dem Intensivieren der bilateralen Bezie­hungen zu vielen EU-Mitgliedstaaten sticht vor allem das erweiterte Engagement des Vereinigten Königreichs in »Hot­spots« der europäischen Sicherheit hervor. Beson­ders brisant sind aus EU-Perspektive dabei zwei Beispiele, in denen die Union selbst nur schwerfällig handeln konnte und das Vereinigte Königreich sich als effektiverer Partner positionieren möchte:

Dies ist zum einen der Umgang mit den belarussischen Aktivitäten des Schleusens von Flüchtlingen an die Grenze zu Litauen und Polen. Aus normativen Gründen und zum Schutz der eigenen Souveränität hat insbesondere Polen den Einsatz von Frontex an der EU-Außengrenze abgelehnt, während die EU-Kommission ihrerseits finanzielle Hilfe für den Bau von Grenzanlagen zu­nächst verweigert hat. London hingegen hat auf eine polnische Anfrage nach mili­täri­scher Unterstützung früh reagiert und als erstes europäisches Land ein (kleines) Trup­penkontingent nach Polen entsandt. Zwar hat am Ende vor allem der Druck der EU auf die Fluglinien dazu beigetragen, dass die Situation an der Grenze zu Belarus ent­schärft werden konnte. Es entbehrt aber nicht einer gewis­sen Brisanz, dass Polen und Litauen sich bei einer Bedrohung, die sie als hybriden Angriff auf die EU-Außen­grenze werten, an das Ex-Mitglied Vereinigtes Königreich wenden.

Zu Beginn des Jahres 2022 hat sich nach dem russischen Truppenaufmarsch vor allem die Situation rund um die Ukraine zu­gespitzt. Obwohl es gemäß des Budapester Abkommens eigentlich Garantiemacht der Ukraine ist, hat das VK während der An­nexion der Krim 2014 und in den Mins­ker Verhandlungen nur eine untergeordnete Rolle gespielt; die Verhandlungsführer auf europäischer Seite waren hier Deutschland und Frankreich. Die zentralen Verhand­lun­gen über die Ukraine-Krise 2022 finden zwi­schen den USA und Russland statt. Bei den diplomatischen Konsultationen Washingtons sind die Briten nicht nur als wichtiger Nato-Staat voll dabei, sie haben auch Waf­fen in die Ukraine geschickt, etwas, zu dem Deutschland oder Frankreich bis dato nicht bereit sind. Einige andere Nato- und-EU-Staaten wie Kanada, die USA, das VK, Polen, die baltischen Staaten oder Tschechien sen­den ebenfalls militärische Hilfe. Das VK hat dazu im Januar 2022 zu­dem eine trilaterale Initiative mit Polen und der Ukraine ver­ein­bart, eine Vertiefung der Sicherheitspartner­schaft in Aussicht gestellt und seine Trup­penpräsenz in Polen aufgestockt. Vor allem aber will es mit seinem Engagement sowohl Washington als auch den Partnern in Mittel- und Osteuropa gegenüber deutlich machen, dass die Auf­rechterhaltung einer europäischen Sicher­heitsordnung auch nach dem Brexit nur unter starker Betei­li­gung der Briten mög­lich ist.

Schlussfolgerungen für Deutschland und die EU

Das Vereinigte Königreich bleibt ein eigen­ständiger Akteur in der europäischen Sicher­heitsarchitektur und bietet sich EU-Staaten jenseits der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Nato nun auch gezielt als bilateraler Sicherheitspartner an. Zwar wird das neue britische Netz an bilateralen Konsultationen, was die Dichte und Regelmäßigkeit der Zusammenarbeit betrifft, nicht mit der Kooperation innerhalb der EU konkurrieren. Inhaltlich enthalten die verschiedenen »Joint Declarations« zudem in der Regel so allge­meine Formulierungen, dass sie auch jeder andere Nato- oder EU-Staat unterzeich­nen könnte; dennoch ergeben sich für Deutschland und die EU aus den beschriebe­nen Initiativen Londons zwei unter­schied­liche Herausforderungen:

Deutschland steht vor dem Zielkonflikt, dass es an einer engen außen- und sicher­heitspolitischen Anbindung des Vereinigten Königreichs an die EU interessiert ist, die Union aber gleichzeitig durch das Erreichen einer strategischen Souveränität in der Außen- und Sicherheitspolitik stärken will. Europäische Handlungsfähigkeit wird in vielen Fällen ohne Einbeziehung der Briten nicht herzustellen sein, eine Beteiligung der Briten über bilaterale Kanäle und/oder mini­laterale Foren wie die E3 aber schwächt die EU. Bei der weiteren Entwicklung der bi­lateralen Beziehungen mit London wird die neue Bundesregierung hier sehr genau ab­wägen müssen, wie weit sie diese intensivie­ren will, ohne der EU zu schaden. Zu vermeiden wären zum Beispiel deutsch-britische Initiativen in der Außen- und Sicherheitspolitik, die vorher nicht mit den europäischen Partnern abgestimmt sind und damit potentiell die EU schwächen. Sinn­voll hin­gegen wäre es, Formate wie zum Bei­spiel die E3 durch eine Beteiligung des Hohen Vertreters zu »europäisieren« und bei bi- bzw. minilateralen Initiativen mit den Briten auf eine enge Koordination mit EU-Ansätzen zu setzen. Deutschland kann auch als Brückenmacht fungieren, wenn es sich etwa bei Sanktionen parallel zum EU-Entscheidungsprozess mit dem Vereinigten Königreich abstimmt und auf eine Gleich­zeitigkeit der Maßnahmen hinwirkt.

Denn die EU insgesamt steht ihrerseits vor dem Dilemma, wie sie London in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs­politik behandeln soll. Bis dato gilt in Brüs­sel das Mantra, dass das Vereinigte König­reich sich im Hinblick auf die GASP/GSVP wie zum Beispiel Norwegen aufstellen sollte. Ein bloßer Entscheidungsempfänger zu sein, der bei einzelnen Missionen, Sank­tionen oder GSVP-Operationen ohne Mit­spracherecht dabei sein darf, ist aber für London keine attrak­tive Option. Beharrt die Union darauf, das Vereinigte Königreich in der Außen- und Sicherheitspolitik wie einen normalen Drittstaat zu behandeln, wird es perspektivisch keine strukturierte Zusammenarbeit in diesem Bereich geben.

Auf der anderen Seite dürfte es für die EU mittelfristig nicht das Ziel sein, dass ihre Mitgliedstaaten in der Außen- und Sicher­heitspolitik – oder sogar in Bereichen mit gemischten EU-Kompetenzen wie der Migra­tion – ausschließlich bilateral mit London agieren und sich im schlimmsten Fall sogar gegeneinander ausspielen lassen. Kollektiv sollten die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen daher darüber reflektieren, ob es im gemeinsamen Interesse ein flexibleres Modell gibt, um das Vereinigte Königreich in der Außen- und Sicherheitspolitik ein­zubinden:

Erstens sollten die EU-Mitgliedstaaten auch untereinander umgehend Trans­parenz herstellen, welche Vereinbarungen sie mit dem Vereinigten Königreich als Drittstaat treffen. In der deutsch-britischen Erklärung ist ein solcher Transparenzmechanismus an­gelegt, in den meisten anderen ist die Bedeu­tung der EU-Mitgliedschaft für die bilateralen Partner des VK zumindest explizit aus­gesprochen. In den Brexit-Verhandlungen hat diese gegenseitige Transparenz stark dazu beigetragen, die Einheit der EU-27 zu wahren. Das sollte auch dauerhaft das Ziel sein. Dies gilt vor allem da, wo die Verein­barungen EU-Kompetenzen streifen, etwa in der Handels­politik oder der inneren Sicherheit.

Zweitens sollte sich die EU für eine Ein­bindung des Vereinigten Königreichs in der Außen- und Sicherheitspolitik nach einem »sui generis«-Modell öffnen. Es kann nicht im Interesse der Union sein, London in der Außen- und Sicherheitspolitik außen vor zu halten und damit die Bilateralisierung dieser Politikfelder zu fördern. Angesichts der russischen Eskalation bis hin zur Mög­lichkeit der Rückkehr eines umfassenden Krieges sollten das VK und die EU ihre vom Brexit herrührende Konkurrenz hinter sich lassen. Die EU sollte London anbieten, so eng und flexibel wie möglich an der Koordi­nation der Reaktionen auf das russische Vor­gehen eingebunden zu werden. Gleichzeitig sollte die britische Regierung ihre ideologisch getriebenen Versuche, die EU in außen­politischen Fragen zu umgehen, ad acta legen und sich für eine EU-VK-Sicher­heits­partnerschaft öffnen

Drittens müssen sich die EU und vor allem Deutschland der Frage stellen, warum das Vereinigte Königreich als nicht-EU-Mit­glied trotzdem ein attraktiver Partner ge­rade für mittel- und osteuropäische Mitglied­staaten ist. Dies hat auch viel mit der Glaub­würdigkeit und Uneinigkeit der EU als Akteur gegenüber Russland zu tun. Die entschlossene Unterstützung Londons in der aktuellen Krise um die Ukraine im Ver­gleich zur etwa – aus polnischer Sicht – zögerlichen oder sogar abwiegelnden Reak­tion Berlins hat die Wahrnehmung einer größeren Verlässlichkeit des VK noch ein­mal verstärkt. Erst wenn die EU ihre eige­nen Mitglieder von ihrer außen- und sicherheits­politischen Handlungsfähigkeit überzeugen kann, wird sie auch einen überzeugenden Partner dafür darstellen.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Julina Mintel ist studentische Hilfskraft in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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