Direkt zum Seiteninhalt springen

Kommunalwahlen in der Türkei: Neue Freiräume und deutsch-türkische Kooperationsfelder

SWP-Aktuell 2024/A 25, 03.05.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A25

Forschungsgebiete

Bei den Kommunalwahlen in der Türkei hat die oppositionelle Republikanische Volks­partei (CHP) einen historischen Sieg errungen: Sie wurde landesweit stärkste Kraft und wird fast die Hälfte der Groß- und Provinzhauptstädte regieren. Vor dem Hinter­grund einer Rekordinflation, einer strikten Geldpolitik und eines damit einhergehen­den Kaufkraftverlustes urbaner Bevölkerungsgruppen war die Wahl ein Stimmungstest für Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dieser wurde abgestraft – nicht nur für die wirt­schaftliche Misere, sondern ebenso für zunehmende Korruption und Vetternwirtschaft. Sein Plan, durch eine Verfassungsänderung ein drittes Mal für das Präsidenten­amt kandidieren zu dürfen und darüber hinaus auch seine Machtfülle auszuweiten, erhielt ebenfalls einen herben Dämpfer. Dies ist eine gute Ausgangslage für die Opposition, die gegen eine Konsolidierung des autokratischen Herrschaftssystems arbeitet und sich auf eine Post-Erdoğan-Ära vorbereitet. Der Wahlsieg eröffnet Frei­räume für Oppositionelle und die Zivilgesellschaft. Überdies ergeben sich neue trans­nationale Kooperationsmöglichkeiten zwischen Deutschland und der Türkei.

Am 31. März 2024 wählten 48,3 Millionen türkische Bürger:innen bei einer Wahl­beteiligung von 78,6 Prozent landesweit die Bürgermeister:innen, Provinzparlamente und Ortsvorsteher:innen. Die größte Auf­merksamkeit galt dabei İstanbul. »Wer İstanbul regiert, regiert auch die Türkei«, betonte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder. Die Bedeu­tung der 16-Millionen-Metropole am Bos­porus liegt auf der Hand: In İstanbul leben 18,3 Prozent der Bevölkerung sowie ein Vier­tel der Wahlberechtigten, in dieser Stadt werden 31 Pro­zent des türkischen Brutto­inlandsprodukts (2022) und 23,2 Pro­zent des Ex­ports (2023) erbracht, hier schlägt der Puls der türkischen Finanz- und Kultur­welt. Wer İstanbul regiert, kontrolliert enorme finan­zielle Res­sourcen, hat Umver­teilungs­spielräume und kann Wähler­schich­ten zufrie­den­stellen bzw. hinzugewinnen. In İstanbul begann Erdo­ğan 1994 als Ober­bürgermeister seine Kar­riere, und ausgerechnet hier musste er zum dritten Mal eine Wahl­niederlage hin­nehmen: Der von ihm ins Rennen geschickte Murat Kurum unterlag dem amtierenden Bürgermeister Ekrem İmamoğlu mit einem Abstand von 11,6 Prozentpunkten.

Erstmals seit 1977 wurde die säkulare CHP stärkste Kraft mit landesweit 37,8 Pro­zent der gül­tigen Stimmen. Die regie­rende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) landete mit 35,5 Prozent auf dem zweiten Platz und fuhr ihr schlechtestes Wahlergebnis nach 2002 ein. Die CHP wird 35 und die AKP nur noch 24 von 81 Provinz­hauptstädten regieren. Neben der CHP geht auch die ultraislamistische Neue Wohlfahrts­partei (YRP) als Siegerin aus diesen Kom­munalwahlen hervor; sie konnte ihre Stim­men gegenüber den Parla­mentswahlen 2023 von 2,8 auf 6,2 Prozent mehr als ver­doppeln. Die YRP setzte sich in den Haupt­städten und Parlamenten der Provinzen Yozgat und Şanlıurfa durch, die bisher als AKP-Hochburgen galten. Die linke pro­kurdische Partei für Gleichheit und Demo­kratie des Volkes (DEM) konnte mit 5,7 Pro­zent ihre Wählerbasis in den mehrheitlich kur­di­schen Pro­vinzen und Städten der Süd­ost­türkei festigen.

Grafik 1

Grafik 1: Stimmenanteile der Parteien bei den Parlamentswahlen 2023 und Kommunalwahlen 2024 in der Türkei

Quellen: Yüksek Seçim Kurulu [Hoher Wahlausschuss], »Ergebnis Parlamentswahlen 2023«, <https://www.ysk.gov.tr/doc/dosyalar/ docs/14Mayis2023/KesinSecimSonuclari/ ULKE_GENELI_TOPLAMI_MM24.pdf>; »Election 2024«, Anadolu Ajansı, <https://secim.aa.com.tr/> (Zugriff jeweils am 30.4.2024).

Auch Frauen erlangten bei den diesjährigen Kommunal­wahlen einen historischen Erfolg. Statt nur vier wie bisher wer­den nun elf von 81 (Groß-)Stadt­kommu­nen von Frauen regiert, von denen die überwiegende Mehr­heit der CHP oder der DEM angehört.

Weitere Verlierer außer der AKP sind die zum Regierungsblock gehörende Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die op­positionelle nationalistische Gute Partei (İYİP), die die Hälfte bzw. drei Fünftel ihrer Stim­men eingebüßt haben (siehe Grafik 1). Doch was steckt hinter der Niederlage der regierenden AKP?

Klare Niederlage für den Regierungsblock

Eine Wahlniederlage des Regierungsblocks (AKP und MHP) war alles andere als sicher. Erst im Mai 2023 erhielt Präsident Erdoğan ein Regie­rungs- und Amtsmandat bis 2028. Seine Volksallianz hat eine solide Mehrheit im Parlament (319 von 594 Sitzen) sowie unbeschränkten Zugang zu staatlichen Ressourcen, sie kon­trolliert einen Großteil der Medien und bestimmt damit weit­gehend den öffent­lichen Diskurs. Die Op­posi­tion hingegen verlor nach den Parla­ments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr deut­lich an Schlagkraft. Der Oppositionsblock, der so genannte »Sechser-Tisch«, zerfiel, und die Oppositionsparteien traten ge­trennt zu den Kom­munalwahlen an. Ideo­logische Grabenkämpfe und gegenseitiges Misstrauen hatten die Oppositionsparteien und ihre Kandidat:innen geschwächt. Viele räumten dem amtierenden İstanbuler Bür­ger­meister Ekrem İmamoğlu nur geringe Chancen ein, wieder­gewählt zu werden.

Vier Gründe sind dafür verantwortlich, dass Erdoğan und sein Regierungsblock trotz der genannten Vor­teile eine herbe Niederlage erlitten haben. An erster Stelle ist die schwierige wirtschaft­liche Situation zu nennen. Zwar legte die tür­kische Wirt­schaft im Jahr 2023 um 4,5 Prozent zu, sie steht aber vor enormen Herausforderungen. Nach offiziellen An­gaben lag die Inflation im März 2024 bei 68,5 Pro­zent, obwohl die Zin­sen der Zentral­bank seit Juli 2023 schritt­weise auf 50 Pro­zent angehoben wurden. Die unabhängige Inflation Research Group spricht sogar von einer Teuerungsrate von 124 Prozent. Die hohe Inflation hat für Privat­haushalte die Lebensunterhaltskosten spürbar steigen lassen, hat zu Konsum­verzicht und Ver­armung geführt; für Unter­nehmen bedeu­tet sie Planungs­unsicherheit und hemmt Investitionen.

Die sich verschlechternden Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten wur­den vor den Parlamentswahlen 2023 durch Lohnerhöhungen kompensiert bzw. durch populistische Ausgaben abgemildert. Vor den Kommunalwahlen dieses Jahres er­laubte die Wirtschaftslage keine neue Wahl­ökonomie, was sich in den Wählerentschei­dungen niedergeschlagen hat.

Zweitens schwächte die Kandidaten­aufstellung die Wahlchancen der AKP. In İstanbul ließ Erdoğan mit Murat Kurum einen wenig charismatischen Technokraten zur Wahl antreten, dem es nicht gelang, die Wähler:innen für sich zu gewinnen. Erdoğans Machterhaltungsinteresse scheint bei der Nominierung der Kandidat:innen landesweit eine Rolle gespielt zu haben. Nicht nur in İstanbul, sondern vielerorts schickte er Personen mit schwachem Profil ins Ren­nen, um künftigen parteiinternen Herausforderern keine Machtbasis zu geben. Kurum genoss die volle Unterstützung Erdoğans. Der Präsi­dent zog sogar selbst in den Wahlkampf und bediente sich eines popu­listischen Diskurses mit stark isla­mis­tisch-nationa­listischen Untertönen mit dem Ziel, breite Wählerschichten zu überzeugen. Gleich­zeitig mobilisierte er alle verfüg­baren staat­lichen Mittel und Ressourcen für Kurums Wahl­kampf.

Der amtierende İstanbuler Oberbürger­meister Ekrem İmamoğlu von der CHP dagegen verließ sich auf seine Popularität bei ver­schiedenen Wählergruppen. Er und seine Partei konnten mit einer strategischen Kandidaten­aufstellung und einer kreativen Kam­pagne Hoffnungen wecken bei mode­raten Linken, kurdischen Wähler:innen und in säkularen Milieus. Auch reli­giösen, kon­servativen İstanbuler:innen begegneten sie mit Empathie, was auf große Resonanz stieß und ihnen Stimmen einbrachte. In seiner Dankesrede appellierte İmamoğlu an alle Wählergruppen und betonte die eth­nisch-kulturelle Vielfalt der Türkei.

Zudem trug die Bündelung der opposi­tionellen Wählerschaft in İstanbul um İmamoğlu und in Ankara um Bürgermeister Mansur Yavaş (ebenfalls CHP) wesentlich zur Niederlage des Regierungsblocks und zum Wahlsieg der CHP bei. İmamoğlu und Yavaş schufen damit quasi ein »Wahlbündnis«, zu dem die Parteiführungen nicht in der Lage waren. Eine genaue Betrachtung der Ergebnisse im Vergleich zu früheren Wahlen zeigt, dass viele ehemalige Wäh­ler:innen der İYİP und der prokurdischen DEM ihre Stimmen der CHP und İmamoğlu bzw. Yavaş gegeben haben.

Entscheidend war in diesem Zusammenhang auch, dass die Parteiführung der DEM keinen harten Wahlkampf gegen İmamoğlu oder die CHP führte.

Der dritte Grund für die Niederlage der AKP ist der rasante Aufstieg der Neuen Wohl­fahrtspartei (YRP). Bei diesen Kommu­nal­wahlen stellte sie für die frustrierte AKP-Wähler­schaft eine echte Alternative dar. Die YRP steht wie Erdoğan und die AKP in der Tradition der »Nationalen Sicht« (Millî Görüş). Ihr Vorsitzender Fatih Erba­kan ist der Sohn Necmettin Erbakans, der 1970 die erste Partei der Millî-Görüş-Bewegung gründete und von 1996 bis 1997 Ministerpräsident war. Fatih Erba­kan genießt vor allem unter islamistischen AKP-Anhän­ger:innen hohes Ansehen. Zu den Hauptthemen der YRP im Wahlkampf gehörten der Gaza-Konflikt und die Unter­stützung für Paläs­tinenser:innen im Kon­flikt mit Israel. Erbakan griff Erdoğan und dessen Regierung an, da diese trotz des Gaza-Kriegs den Handel mit Israel nicht einschränkten. Außer­dem thematisierte er die Verarmung insbesondere von Rentner:innen und for­derte eine Erhöhung des Mindestlohns. Da die YRP viele religiös-konservative An­hän­ger:innen der AKP für sich gewinnen konnte, hat sie erheblich zur Niederlage dieser Par­tei beigetragen.

Der vierte Grund für das Wahldebakel der AKP ist die im historischen Vergleich niedrige Wahlbeteiligung von nur 78,6 Pro­zent. Traditionell ist die Wahl­beteili­gung im Land hoch, im Vorjahr bei den Parlamentswahlen lag sie beispielsweise bei rund 88 Prozent. Ver­mutungen zufolge haben 80 Prozent derjenigen, die diesmal nicht wählen gingen, zuvor für die AKP gestimmt. Diese hat vor allem in den Städ­ten verloren, bei jungen Menschen, ver­armten Personen im Ruhestand sowie bei gebildeten – namentlich konservativen – Wählerschichten.

Absage an die Identitätspolitik, Denkzettel für Erdoğan

Die Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass sich der Einfluss ethnisch-kultureller Iden­titäten und Bruchlinien (säkular vs. religiös, alevitisch vs. sunnitisch, kurdisch vs. tür­kisch) auf die politische Lagerbildung all­mählich verringert. Die CHP wurde bisher überwiegend von der säkularen, urbanen, libe­ralen, gemäßigt nationalistischen Bevöl­kerung sowie von Alevit:innen und Kurd:in­nen ge­wählt, geographisch erzielte sie haupt­sächlich in den Küstengebieten der West- und Südtürkei gute Ergebnisse. In Zentralanatolien war die CHP mit Ausnahme von Eskişehir und Ankara relativ schwach und erreichte im Durchschnitt deutlich unter 15 Prozent der Stimmen. Im Osten und Süd­osten der Türkei lag sie mit etwa zwei bis vier Prozent weit hinter der AKP, der DEM (bzw. ihren Vorgängerparteien) und teil­weise auch hinter der MHP. Dieser Trend scheint nun ge­brochen; gleichwohl ist offen, ob sich diese Entwicklung bei kommenden Wahlen fortsetzt.

Ein weiterer Beleg für eine verfehlte Identitätspolitik ist die Tatsache, dass ultra­natio­nalistische Parteien bei den diesjährigen Kommunalwahlen nicht an frühere Erfolge anknüpfen konnten. Die letzten Parlamentswahlen waren durch einen mas­siven (nationalistischen) Rechtsruck gekenn­zeichnet, die nationalistischen Par­teien – MHP, İYİP, die Partei der Großen Einheit (BBP) und die Partei des Sieges (ZP) – konn­ten so viele Stimmen wie nie zuvor auf sich ver­einen und kamen insgesamt auf fast 23 Prozent. Die ultranationalistische Wende schlug sich auch in der Wahlkampf­rhetorik von Staats­präsident Erdoğan und – im zwei­ten Wahlgang – von Kemal Kılıçdaroğlu nieder, damals CHP-Vorsitzender und Erdoğans Heraus­forderer. Bei den aktu­ellen Kommunalwahlen rutschten die natio­nalis­tischen Parteien auf zusammen knapp 11 Prozent ab (siehe Grafik 1, Seite 2).

Aus dem Wahlverhalten der Kurd:innen bei den Kommunalwahlen lassen sich zwei Botschaften ablesen. Erstens hat die kur­di­sche Wählerschaft das Regime der Zwangs­verwaltung abgewählt, und die DEM hat sich in den primär kurdisch besiedelten Städten durchgesetzt. Bei den Kom­munal­wahlen 2019 hatte die prokur­dische Partei, damals die Partei der Demo­kratie der Völ­ker (HDP), 65 Bürgermeisterposten gewon­nen. Die Regierung enthob aber einen Groß­teil der kurdischen Politiker:in­nen wegen Terrorvorwürfen ihres Amtes und ersetzte sie durch Zwangs­verwal­ter. Zwei­tens haben religiös-konser­vative kurdische Wähler:in­nen die AKP abgestraft. Sie gingen diesmal entweder nicht zur Wahl oder bevorzugten die YRP, die auf ihrem religiös-konserva­tiven Dis­kurs beharrte.

Für Präsident Erdoğan waren die Kommu­nalwahlen ein Stimmungstest, vor allem hinsichtlich seiner neuen Geld- und Wäh­rungspolitik. Einen klaren Wahl­sieg hätte er als Bestätigung seines bisheri­gen Kurses interpretiert. Nun hat er die Quittung be­kommen für seine volatile Geldpolitik, für die zu­neh­mende Vetternwirtschaft und Korruption im Land sowie für sein autoritä­res Regime. Erdoğan verband mit den Kom­munalwahlen die Hoffnung, die Groß­kommunen İstanbul und Ankara zurückzugewinnen. Die Herr­schaft über diese Metropolen hätte seinen Handlungsspielraum bei der sozia­len Um­verteilung und der Allokation von Ressour­cen an seine cronies deutlich ver­größert – allein İstanbul steht für fast ein Drittel der türkischen Wirtschaft.

Mit der Wahlniederlage haben auch Erdoğans Pläne, durch eine Verfassungs­änderung an der Macht bleiben zu können, einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Für eine Verfassungsänderung, die ihm eine dritte Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten sichern würde, ist eine Zwei­drittelmehrheit im Parlament erforderlich. Diese zu organisieren wird nicht einfach sein für einen politisch angeschlagenen und mit vielfältigen wirtschaftlichen Heraus­forderungen konfrontierten Präsidenten und seinen Partner MHP. Die Unterstützung der rechtspopulistischen und ultra­islamis­ti­schen Kleinparteien wie İYİP, Hüda Par oder YRP reicht dafür nicht aus, eine Unterstützung durch die prokur­dische DEM wäre not­wendig. Die Vorsit­zenden dieser Parteien dürften jedoch kaum Interesse daran haben, Erdoğans poli­tisches Leben durch eine Verfassungsänderung zu verlängern. Sie alle haben die Zeit nach Erdoğan im Blick. Zugeständnisse an die DEM würden den Präsidenten wieder­um von den nationalis­tischen und den ultra­islamistischen Parteien entfremden.

Sollte Erdoğan ein Referendum über eine Verfassungsänderung anordnen, müsste er erneut auf Wirtschaftspopulismus und Wahl­geschenke setzen, um eine realistische Aussicht auf Erfolg zu haben. Dies würde die Erholung der türkischen Wirtschaft be­hindern und wäre daher auch politisch nicht tragbar. Daraus kann man schließen, dass die Gefahr eines weiteren Abgleitens in die Autokratie vorerst gebannt ist.

Die CHP – ein neuer Macht- und Wirtschaftsfaktor

Mit dieser landesweiten Wahlniederlage, ins­besondere der erneuten Niederlage in İstan­bul, bekommt Erdoğans Charisma Risse. Zweifel an seiner Führung werden aufkom­men, während İmamoğlu zu einer politi­schen Attraktion geworden ist. In türkischen und ausländischen Me­dien ge­nießt er bereits jetzt mehr Aufmerksamkeit als andere tür­ki­sche Oppositionspolitiker:in­nen. İmamoğlu war Desinformations­kampagnen und Dämo­nisierungs­versuchen ausgesetzt, sowohl seitens der AKP in den Medien als auch durch mehrere Strafprozesse; dass er trotz­dem Erdoğans Kandidaten Murat Kurum hinter sich ließ, macht ihn zum Aufsteiger der türkischen Polit­szene.

Die wohl bedeutsamste Botschaft dieser Wahl ist, dass ein Machtwechsel bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2028 prinzipiell möglich ist. Für die Op­position war es ein Test, inwieweit sie dem Machtanspruch Erdoğans geschlossen ent­gegentreten kann. Der Sieg für İmamoğlu festigt zweifellos seine Position als stärkster Herausforderer Erdoğans in den kommenden Jahren und als aussichtsreicher Kandi­dat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen.

Dennoch droht ihm ein Politikverbot. Im Juni 2023 reichte die İstanbuler Staats­anwaltschaft eine Anklageschrift wegen »Angebotsmanipulation« gegen sieben Personen ein, darunter Bürgermeister İmamoğlu. Sollte er beim nächsten Gerichts­termin am 31. Mai für schuldig befunden werden, drohen ihm zwischen drei und sieben Jahre Gefängnis sowie der »Entzug bestimmter Rechte«, was für ihn das Verbot einschließt, für ein politisches Amt zu kan­didieren. Das Verfahren ist offenkundig poli­tisch moti­viert. Würde man allerdings jetzt den Wahl­sieger İmamoğlu mit einem Betä­ti­gungsverbot belegen, löste dies eine Soli­darisierung mit ihm und seiner Partei, der CHP, aus. Dies würde ihn politisch stärken.

Grafik 2

Grafik 2: Vergleich der AKP- und CHP-geführten Kommunen

Quellen: Hüseyin Gökçe, »En büyük ekonomiye sahip illerin tamamı CHP’ye geçti« [Provinzen mit den stärksten Volkswirtschaften gehen an CHP], in: Ekonomim, 2.4.2024, <https://www.ekonomim.com/ekonomi/en-buyuk-ekonomiye-sahip-illerin-tamami-chpye-gecti-haberi-736830>; »Election 2024«, Anadolu Ajansı, <https://secim.aa.com.tr/> (Zugriff jeweils am 30.4.2024).

Die CHP hat sich mit dem aktuellen Wahlergebnis zu einem politischen und wirtschaftlichen Faktor entwickelt. In den nächsten fünf Jahren wird die Partei 14 Großstädte, 21 Provinzhauptstädte, 337 Bezirke und 61 Ortschaften regieren. In diesen CHP-geführten Kommunen leben 62 Prozent der Bevölkerung, hier werden 73,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und 84,5 Prozent aller Spar­einlagen gehalten, nicht zuletzt sind sie für 79,6 Prozent des türkischen Gesamt­exports verantwortlich. Und mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 9.588 US-Dollar übertreffen sie das Pro-Kopf-Einkommen der AKP-regierten Kommunen (siehe Grafik 2).

Die CHP stellt die »orthodoxe Ökonomie«, die Haushaltsdisziplin und die Priorisierung der Inflationsbekämpfung nicht in Frage. Als Ziele hat sie angekündigt, ent­schie­den gegen Armut vorzugehen, die soziale Kom­mu­nalpolitik auszubauen und den sozialen Wohnungsbau zu fördern, sie betont das »öffentliche Interesse« und strebt eine effi­ziente Besteuerung an. All das sind Indizien dafür, dass sich die CHP nicht strikt an der neo­liberalen Politik der Regierung orien­tiert. Das Versprechen, eine demokratische Wende herbeizuführen, Korruption zu be­kämpfen und für Transparenz bei der Ver­gabe öffent­licher Aufträge zu sorgen, birgt die Chance, dass sich die türkische Wirt­schafts- und Finanzwelt dieser Partei zu­wendet.

Mit den Kommunalwahlen hat sich der CHP die Möglichkeit eröffnet, durch ge­schickte Lokalpolitik den Alltag breiter Wählerschichten zu verbessern und sich als zukünftige Regierungspartei zu profilieren. Für Bürgermeister:innen von Großstädten bietet sich die Gelegenheit, neue Felder der Kooperation mit deutschen und europäischen Städten zu erschließen (siehe über­nächstes Kapitel).

Anfang vom Ende der Erdoğan-Ära?

Präsident Erdoğan und seine Partei wurden bei den Kommunalwahlen aufgrund der wirtschaft­lichen Misere und weil Korruption und Vetternwirtschaft um sich greifen ab­gestraft. Die AKP rutschte in der Wäh­ler­gunst erstmals hinter die oppositionelle CHP zurück. Auch in absoluten Stimm­zahlen befindet sich die AKP seit 2019 in einem Abwärtstrend. Bahnt sich damit das Ende der Ära Erdoğan an?

Dagegen lässt sich einwenden, dass Präsi­dentschafts- und Parlamentswahlen ande­ren soziopolitischen Dynamiken unter­liegen als Kommunalwahlen. Außerdem ist Erdoğan populärer als seine Partei, und bei den Kommunalwahlen ging es schließlich nicht unmittelbar um Erdoğan als Kan­didaten. Gleichwohl werden die noch ver­bleibenden vier Jahre seiner Amtszeit zahl­reiche Heraus­forderungen mit sich bringen. Es wird für ihn sehr schwierig, diese ohne Popularitätsverlust zu überstehen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in vier Jahren wieder die Oberhand ge­winnt, wird überdies durch folgende Um­stände verringert: Erstens haben seine aktu­ellen und potenziellen Bündnispartner im rechten Lager ebenfalls mas­siv Stimmen verloren. Für die Parteiführungen dürfte es schwer werden, diese zurückzugewinnen.

Zweitens hat Erdoğan nun mit der YRP einen neuen (islamistischen) Gegner von rechts. Diese Partei, die sich die Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Fahnen geschrieben hat, hat bei den Kommunal­wahlen einen Ach­tungs­erfolg erzielt. Dieser könnte Erdoğan zu einer har­schen Rhetorik gegen Israel sowie einer entsprechenden Politik ver­leiten, was die Beziehungen zum Wes­ten vermutlich weiter belasten würde.

Handelsrestriktionen gegen Israel sind ein erstes Anzeichen in diese Richtung. Das türkische Handelsministerium gab am 9. April 2024 bekannt, dass es 54 verschiedene Produkte nicht mehr nach Israel liefern wird, darunter Eisen- und Stahlprodukte, Flugzeugtreibstoff, Bau- und andere Maschi­nen, Zement, Granit, Chemikalien, Pesti­zide und Ziegelsteine. Anfang Mai hat das türkische Handelsministerium mit­ge­teilt, sämtliche Export- und Importgeschäfte mit Israel würden ausgesetzt. Diese Ent­scheidungen sind eine Reaktion auf die humanitäre Situation der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen und auf die Weige­rung der israelischen Regie­rung, Hilfs­güter in das belagerte und bombardier­te Gebiet hineinzulassen.

Drittens wird der Verlust von Großstädten an die Opposition den Zugang der herr­schen­den Eliten zu öffentlichen Ressourcen wei­ter begrenzen, wodurch noch mehr Wäh­ler:in­nen sich von der AKP abwenden könn­ten.

Mehr Raum für deutsch-türkische Kooperation

Die Wahlniederlage für Erdoğan weist auf eine gegenläufige Entwicklung zur weiteren Autokratisierung der Türkei hin. Deutlich geworden ist auch, dass Opposition und Zivilgesellschaft intakt und demokratische Politik­inhalte mehrheits­fähig sind. Wich­tige An­satzpunkte für die Ausrichtung der deut­schen und europäischen Türkei­politik ergeben sich ferner dar­aus, dass es in dem Land nicht zu einem weiteren ultra­natio­nalistischen Rechtsruck gekommen ist, der die flüchtlingsfeindliche Stimmung noch mehr angeheizt hätte.

Deutschland ist an einer Zusammen­arbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage inter­essiert und entsprechend auch an einem erneuerten Migrationsabkommen zwischen der Euro­päischen Union (EU) und der Türkei. Das Wahlergebnis wird indes weder in Berlin noch in Brüssel zu einer Neu­ausrichtung der Türkeipolitik führen. Einen Durch­bruch in den Beziehungen zwischen Deutsch­land und der Türkei bzw. der EU und der Türkei wird es erst geben, wenn sich die türkische Zentralregierung von ihrem bis­herigen autoritären Kurs ab­wen­det und weitere konstruktive Schritte in der Zypern­frage unternimmt. Der Euro­päische Rat hat jüngst sein strategisches Interesse an der Entwicklung kooperativer Beziehungen mit der Türkei zum Ausdruck gebracht, diese jedoch davon abhängig ge­macht, dass die Gespräche über die Lösung der Zypern­frage wieder aufgenommen werden.

Eine Dynamisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei scheint nun vor allem über wirtschaftliche Verflechtungen und die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene erreichbar. Die opposi­tionelle CHP regiert nach der Wahl erheb­lich mehr Kom­munen als vorher. Dadurch tun sich neue Kooperationsfelder zwi­schen deutschen und türkischen Städ­ten und Gemeinden auf. Derzeit gibt es über 80 deutsch-türkische Städtepartnerschaften. Städtepartnerschaften fördern nicht nur die Verbindungen zwischen den Gesellschaften; sie schaffen darüber hinaus Freiräume für die kommunale Zusam­men­arbeit und den Erfahrungsaustausch zu Themen wie Umwelt­schutz, nachhaltige Stadtentwicklung, Digitalisierung, Schutz von marginalisierten Gruppen und Geflüch­teten sowie Jugendpartizipation.

Erdoğan hatte vor den Kommunal­wahlen ein Signal ausgesendet: Wenn in einer Stadt nicht die AKP oder ihre Allianz­parteien ge­wählt würden, werde die Zentral­regierung diese Stadt nicht ausreichend unterstützen. So hat die Zentralregierung es in den letz­ten Jahren der Stadtverwaltung des CHP-ge­führten İstanbul unmög­lich ge­macht, im In­land Kredite aufzunehmen. Dadurch konnte zum Beispiel das Schienen­netz nicht weiter ausgebaut werden. Hier könnte Deutsch­land ins Spiel kommen, indem es Gemeinden bei Infrastruktur- und Klimaprojekten, beispielsweise dem Ausbau des Schienen­verkehrs, und der Digitalisierung finan­ziell unterstützt.

Der Dialog zum Fachkräfte­austausch, wie er etwa bereits zwischen Köln und İstanbul praktiziert wird, könnte ein weiterer Bau­stein der Kooperation sein. Die sieben bevöl­kerungsreichsten Städte bzw. Pro­vinz­haupt­städte – İstanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Antalya, Adana, Mersin – werden in den kommenden fünf Jahren von CHP-Bürger­meistern regiert. In diesen Städten und Pro­vinzen befinden sich die wichtigsten türki­schen Produktionsstandorte, hier werden knapp 80 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes er­bracht – und die einheimische Industrie verfügt über ein großes Reservoir an Fachkräften, von denen ein Teil auch für einen Einsatz in Deutschland in Frage käme. Nicht zuletzt sind die meis­ten in der Türkei tätigen deutschen Unter­nehmen in den genannten Städten und Provin­zen aktiv; sie könnten nun von einer trans­parenteren Auftragsvergabe dieser Kom­munen profitieren.

Resümierend lässt sich feststellen, dass die Gelegenheit günstig ist, die deutsch-türki­sche Kooperation auf kommunaler Ebene zu vertiefen und sektoral zu inten­sivieren.

Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.
Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2024

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018